Читать книгу Das Sandmann-Projekt - Anette Hinrichs - Страница 9

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»Wo, verdammt, warst du!?« Wolfgang Herzog rieb sich die graumelierten Schläfen.

Verena schwieg, stand vor ihm und strafte ihn mit hochmütigem Blick. Sie war eine schöne Frau. Hochgewachsen und schlank, mit brünett getöntem Haar, das ihr schimmernd um die Schultern floss. Ihr Gesicht war oval, mit hohen, ausgeprägten Wangenknochen und klaren blauen Augen. Das flaschengrüne, enganliegende Seidenkleid umschmeichelte ihre perfekt geformte Figur. Niemand würde jemals ihr wahres Alter erraten.

»Jetzt sag doch endlich was.« Mit allem kam er zurecht. Mit ihren Vorwürfen. Ihrer Wut. Doch ihr Schweigen zermürbte ihn. »Verena.« Er streckte die Hand nach ihr aus und bemerkte, wie sich ihre rot lackierten Fingernägel in die Lehne des vor ihr stehenden Stuhls krallten.

Er verstand sie kaum, als sie endlich sprach. So leise war ihre Stimme. »Du widerst mich an.« Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.

Schwer atmend setzte sich Wolfgang auf den Stuhl hinter seinen Schreibtisch. Er war todmüde und sein Kopf schmerzte. Die halbe Nacht hatte er wach gelegen und auf Verena gewartet. Immer wieder hatte er auf die Leuchtziffern seines Weckers gestarrt. Hatte gebetet, dass sie endlich nach Hause kam. Doch erst in den frühen Morgenstunden war eine Autotür vor dem Mehrfamilienaltbau am Hofweg zugeschlagen worden. Minuten später hatte sie endlich die Wohnung betreten. Erst da hatte er für wenige Stunden in den Schlaf gefunden.

Er wusste, er würde Verena verlieren. Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.

Der Leichenwagen der Rechtsmedizin rollte langsam an Malin vorbei, als sie über den knirschenden Kies ging. Die Sonne hatte die Wolken verdrängt und warf lange, dunkle Schatten über die Thujenhecke.

Malin hatte in den letzten anderthalb Stunden weitere Anwohner des Schleusenredders befragt, jedoch nichts Neues in Erfahrung bringen können. Die wenigsten der Leute, die sie zu Hause antraf, hatten Kurt Wenninger gekannt. Eine Frau berichtete, sie hätte den Doktor einmal auf einen Kaffee eingeladen, doch er hätte abgelehnt. Ebenso war es einem Nachbarn ergangen, der Hilfe bei der Gartenarbeit angeboten hatte. Es schien, als hätte Kurt Wenninger den Kontakt zu anderen Anwohnern absichtlich gemieden. Ob das auch für seine direkten Nachbarn, das Ehepaar Tiefenbrunner, galt, konnte Malin nicht feststellen. Dort hatte ihr niemand geöffnet, und die Rolläden waren heruntergelassen.

Tiedemann stand mit Kriminalhauptkommissar Fricke vor Wenningers Hauseingang. Beim Anblick ihres Vorgesetzten musste Malin unwillkürlich lächeln. Sein Bauch hatte in den letzten Wochen wieder an Umfang zugelegt und zeichnete sich deutlich unter seinem Schutzanzug ab. Ein gutes Zeichen, dachte Malin. Nach der Trennung von seiner Frau vor einigen Monaten hatte Fricke rapide an Gewicht verloren. Jetzt befand er sich zumindest äußerlich wieder im Normalzustand. Gerade lüpfte er die Kapuze seines Overalls und zerzaustes, aschblondes Haar kam zum Vorschein. Malin hätte darauf gewettet, dass er unter dem Schutzanzug eine seiner obligatorischen Cordhosen und ein kariertes Hemd trug.

»Moin«, sagte Fricke. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen und die hellen Augen waren leicht unterlaufen. »Tut mir leid, dass ich dich eher zurückholen musste, Brodersen. Du kannst die restlichen Überstunden bei nächster Gelegenheit abbummeln.«

»Schon gut«, wehrte Malin ab. »Es waren ohnehin nur noch zwei Tage. Hat sich hier in der Zwischenzeit etwas Interessantes getan?«

Tiedemann schüttelte den Kopf. »Aber die Spusi ist auch noch nicht ganz fertig.«

»Zunächst sollten wir sehen, dass wir das Opfer identifizieren«, brummte Fricke. Er wandte sich an Malin. »Haben die Befragungen der Nachbarn etwas ergeben?«

»Von denen, die ich angetroffen habe, hat niemand etwas Ungewöhnliches bemerkt. Bei den Nachbarn zwei Häuser weiter habe ich erfahren, dass es eine Schwester geben soll.« Sie berichtete von ihrem Gespräch mit dem Postboten. »Ein merkwürdiger Zeitgenosse. Der konnte mir kaum in die Augen sehen.«

»Vielleicht stand er noch ein wenig unter Schock. Die Leiche ist nicht gerade der schönste Anblick.« Fricke wies mit dem Kopf zum Nachbarhaus hinter der Hecke. »Was ist mit den Leuten nebenan? Da müsste doch jemand die Schüsse gehört haben.«

»Die Rollläden sind alle heruntergelassen. Vermutlich sind die Bewohner im Urlaub.«

»Dann versuche herauszufinden, wann sie wiederkommen oder wie wir sie kontaktieren können.«

Malin nickte und sah zum angrenzenden Wald. »Vielleicht war es ein Einbrecher, der dachte, es gäbe bei Dr. Wenninger etwas zu holen.«

»Wenn man sich den Zustand des Hauses so anschaut, glaube ich das eher weniger.« Fricke musterte die fleckige Fassade.

»Drinnen ist auch alles stark abgewohnt.« Tiedemann streifte die Latexhandschuhe ab. »Das Einzige, was hier noch einigermaßen in Schuss ist, ist der Garten.«

»Hans!« Frank Glaser kam aus dem Haus und hielt eine braune Spurensicherungstüte in die Höhe. »Wir haben was!«

Fricke hob fragend die Brauen.

Der Kriminaltechniker verzog sein grimmiges Gesicht zu einem Lächeln. »Eine Patronenhülse unter dem Sessel. Die hat der Täter offenbar übersehen.«

»Dann wissen wir, um welches Projektil es sich handelt?«

»Der Stempel am Patronenboden ist kaum zu entziffern. Aber vielleicht können wir bei der KTU noch etwas herausholen. – Ich mache mich dann mal weiter an die Arbeit.« Glaser verschwand wieder im Haus.

Fricke wandte sich an Tiedemann. »Habt ihr ein Adressbuch oder irgendetwas in der Art gefunden?«

Tiedemann nickte. »Die Telefonnummer vom Zahnarzt steht drin, ich hab ihn schon angerufen. Er hat versprochen, gleich nachzusehen, ob er Röntgenaufnahmen von Wenninger hat.«

»Gut. Und die Adresse der Schwester?«

»Fehlanzeige. Auch keine Kontaktdaten von anderen Angehörigen, sofern sie denn Wenninger heißen.«

»Vielleicht gibt es keine weiteren Verwandten.« Fricke sah auf seine Armbanduhr. »Also gut. Die Identifizierung der Leiche steht an erster Stelle. Ole, du kümmerst dich um die Zahnarztunterlagen und fährst gegebenenfalls direkt damit für einen Abgleich in die Rechtsmedizin. Und du, Brodersen, treibst in der Zwischenzeit die Adresse der Schwester auf. Sobald wir sicher sind, dass der Tote im Haus Kurt Wenninger ist, stattet ihr der Dame einen Besuch ab. Alles klar?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Fricke die Kapuze seines Schutzanzuges wieder über den Kopf und drehte ihnen den Rücken zu.

Am späten Nachmittag wurde das Mordopfer anhand seiner Zahnschema-Karte als der achtundsiebzigjährige Kurt Wenninger identifiziert.

Malin fuhr mit Ole Tiedemann zu Ilse Wenninger, deren Adresse sie im Melderegister gefunden hatte. Im Wagrierweg in Niendorf stellte sie ihren Mini in einer der Parkbuchten ab und wartete, bis der Kollege seine langen Beine umständlich aus dem Auto befreit hatte, ehe sie ebenfalls ausstieg. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er sich jeglichen Kommentar bezüglich der Größe ihres fahrbaren Untersatzes verkniff.

An einem hohen, grauen Mehrfamilienhaus mit der Nummer neun ging Malin die zahlreichen Türschilder durch, bis sie auf den Namen Ilse Wenninger stieß. Sie drückte den Klingelknopf. Sekunden später ertönte der Summer. Im Treppenhaus empfing sie Essensgeruch. Malin, die seit dem Joghurt am Morgen nichts mehr gegessen hatte, bekam Hunger. Hinter einer der Türen im Erdgeschoss brüllte ein Baby.

Sie nahmen den Fahrstuhl in den sechsten Stock. Eine ältere Frau mit kurzen, grauen Haaren und randloser Brille öffnete ihnen. Sie war ein wenig mollig und hatte ein offenes, sympathisches Gesicht.

»Frau Wenninger?« Tiedemann zückte seinen Dienstausweis.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin Natascha Raschke. Ich helfe Frau Wenninger ab und zu im Haushalt, wenn sie gerade einen ihrer Rheumaschübe hat. Sie sind von der Polizei?«

Tiedemann nickte. »Wir würden gerne mit Frau Wenninger sprechen. Ist sie da?«

»Ja, Entschuldigung.« Die Haushaltshilfe ließ sie eintreten. »Frau Wenninger ist im Wohnzimmer. Es ist gleich geradeaus.«

Ilse Wenninger war eine winzige, dünne Person mit weißen Löckchen und einer Haut wie altem Pergament, zerknittert und von unzähligen Falten durchzogen. Die betagte Gestalt thronte in einem bunt geblümten Kleid in einem Lehnstuhl mit einem Kissen im Kreuz. Misstrauisch beäugte sie die Neuankömmlinge. Malin schätzte sie auf Mitte siebzig.

»Frau Wenninger? Malin Brodersen. LKA Hamburg.« Sie reichte ihr die Hand und war erstaunt über den kräftigen Händedruck.

Ole Tiedemann tat es seiner Kollegin nach und stellte sich ebenfalls vor.

Ilse Wenninger zeigte auf ein durchgesessenes Sofa. »Setzen Sie sich. Und dann sagen Sie mir, was Sie von mir wollen.«

»Es geht um Kurt Wenninger«, verkündete Tiedemann.

Ihre Züge verhärteten sich. »Um meinen Bruder? Was ist mit ihm? Ist er tot?«

»Leider ja.« Tiedemann war nicht anzumerken, ob ihn die direkte Art der Frau irritierte. »Er wurde heute Vormittag tot in seinem Haus aufgefunden.«

»Glauben Sie nicht, dass mich das jetzt schockiert.« Ilse Wenninger faltete ihre mit Altersflecken übersäten Hände und legte sie in den Schoß. »Ich konnte meinen Bruder noch nie besonders gut leiden.«

»Frau Wenninger«, sagte Malin, »Ihr Bruder ist keines natürlichen Todes gestorben.«

»Sie meinen, er wurde ermordet?« Ilse Wenninger schnaubte. »Auch das wundert mich nicht. Er war intrigant und raffgierig.«

»Können Sie das vielleicht ein wenig ausführen?« Malin war verblüfft.

Ilse Wenninger reckte angriffslustig ihr Kinn. »Das sind Familiengeschichten. Und die gehen die Polizei überhaupt nichts an.«

Tiedemann ergriff das Wort, ehe Malin reagieren konnte. »Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?«

»Bei der Beerdigung unserer Mutter. Vor dreiundzwanzig Jahren.«

»Aber Sie hatten schriftlichen Kontakt?«, hakte er nach.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Wir haben die Aussage des Postboten, dass er einen Brief von Ihnen an Ihren Bruder zugestellt hat.«

Ilse Wenninger schüttelte rigoros den Kopf. »Der Mann muss sich irren.«

Malin warf Tiedemann verwundert einen Blick zu, doch ihr Kollege ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ihr Verhältnis zu Ihrem Bruder war also nicht besonders gut?«

Wieder schnaubte die Alte. »Das ist noch maßlos untertrieben.«

»Gibt es noch weitere Familienmitglieder?«

Ihr Blick wurde wachsam. »Nur noch meine Tochter Ruth und ihre zwei Kinder.«

»War Ihr Bruder verheiratet?«

Ilse Wenninger schüttelte den Kopf. »Genauso wenig wie ich. Eine unserer kümmerlichen Gemeinsamkeiten. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie jetzt bitten, zu gehen und meine Zeit nicht länger zu vergeuden. In meinem Alter hat man schließlich nicht mehr allzu viel davon.« Die alte Frau erhob sich aus ihrem Sessel und verließ erstaunlich flink den Raum.

Malin und Tiedemann tauschten einen kurzen Blick und folgten ihr in den Flur. Keine Minute später standen die beiden Kriminalbeamten im Treppenhaus.

Tiedemann kratzte sich hinterm Ohr. »Ich sag’s ja immer. Im Alter werden sie alle schrullig.«

25. Januar 1979

Sie hatten ihr die Augen verbunden und ihre Hände gefesselt. Jemand packte sie grob am Oberarm und stieß sie über eine Stufe in eine Art Metallverschlag. Ein Riegel wurde vorgeschoben. Rena konnte sich kaum rühren, so eng war es. Dann wurde ein Motor angelassen.

Ich bin in einem Auto, schoss es ihr in den Sinn. Das Gefährt setzte sich in Bewegung.

Die Angst schnürte Rena die Kehle zu. Was hatte man mit ihr vor? Was war mit Romy? Bei dem Gedanken an ihre kleine Tochter schluchzte sie auf. »Wo bringen Sie mich hin?!«

Niemand antwortete. Das Fahrzeug nahm eine scharfe Kurve und Renas Kopf prallte mit voller Wucht gegen die Metallwand. Tränen schossen ihr aus den Augen. Sie rückte ihre Glieder zurecht, um eine bequemere Position zu finden. Das Bild ihrer kleinen Tochter im Nachthemd, den Schlenkerbären an die Brust gepresst, schob sich zurück in ihr Gedächtnis. Was hatten sie mit Romy gemacht?

Erneut prallte ihr Kopf gegen Metall. Die Fahrt zog sich schier endlos. Die Fesseln schmerzten an ihren Handgelenken. Es war stickig in dem Gefährt und Rena hatte Schwierigkeiten zu atmen. Sie durfte nicht in Panik geraten.

Das Tempo hatte sich mittlerweile erhöht. Rena schärfte ihre Sinne. Sie fuhren über eine Straße mit nur wenigen Unebenheiten. Die Autobahn? Jemand in der Fahrerkabine hustete.

»Wo bringen Sie mich hin?!« Wieder keine Antwort. Peter, schoss es ihr durch den Kopf. Peter würde bald nach Hause kommen und sich um alles kümmern. Er würde sofort merken, dass etwas nicht in Ordnung war. Einen Moment lang war sie erleichtert.

Und wenn Peter aufgehalten wurde? Es wäre nicht das erste Mal, dass sich seine Dienstreise unerwartet verlängerte.

Das Tempo wurde gedrosselt und das Gefährt bog in eine scharfe Kurve. Ihre Knie stießen gegen Metall, doch zumindest gelang es Rena, dieses Mal den Kopf rechtzeitig zurückzureißen. Der Wagen rumpelte wie über Kopfsteinpflaster und hielt schließlich an. Ein Tor wurde geöffnet. Die Fahrt ging im Schritttempo holprig weiter. Kurze Zeit später ein weiteres Tor. Bald darauf kam das Gefährt endgültig zum Stehen.

Rena hörte, wie Autotüren geöffnet wurden. Ein paar gedämpfte Stimmen waren zu vernehmen. Dann wurde die Tür zu ihrem Metallspind aufgesperrt. Jemand zog sie unsanft am Arm und Rena stolperte aus dem Wagen. Es war ein komisches Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Dann wurde ihr mit einem Ruck die Augenbinde vom Kopf gerissen.

Das Sandmann-Projekt

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