Читать книгу Das Sandmann-Projekt - Anette Hinrichs - Страница 7

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Das Kleid saß perfekt, das Make-up war dezent, sogar an ein Geschenk hatte sie gedacht. Dennoch nagte ein unbehagliches Gefühl an Malin. Thies wollte sie heute seiner Mutter vorstellen. In ihren Augen war es dafür viel zu früh. Sie waren erst seit zwei Monaten ein Paar. Was würde danach kommen? Erwartete er, dass sie ihn mit ihrer Mutter bekanntmachte? Bei der bloßen Vorstellung sträubten sich ihr die Nackenhaare.

Und hinterher? Eine gemeinsame Wohnung? Heirat? Kinder? Das ganze Programm?

Einen Moment spielte Malin mit dem Gedanken, alles abzusagen, dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf und schlüpfte in ihre hochhackigen Sandaletten. Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Anschließend griff sie nach dem kleinen Päckchen mit den sündhaft teuren Pralinen und ging über die schmale Wendeltreppe ins Untergeschoss.

Malin hatte das hundertfünfzig Jahre alte Bleicherhaus im Stadtteil Winterhude vor einigen Jahren von ihrer Tante geerbt. Die achtzig Quadratmeter Wohnfläche verteilten sich auf vier Zimmer mit niedrigen Decken und einem winzigen Garten. Die Einrichtung war schlicht und schnörkellos. Alter Dielenboden, weiß getünchte Wände, viel helles Holz und Möbel aus Korbgeflecht. Spätestens im Winter war eine neue Heizanlage fällig, über deren Finanzierung sie sich seit Wochen den Kopf zerbrach. Ihr Gehalt als Kriminalkommissarin war nicht gerade üppig.

Handy und Türglocke klingelten gleichzeitig. Malin eilte in den Flur und öffnete.

Thies Conradi sah unverschämt gut aus. Er hatte das blaue Sportsakko ausgesucht, das die Farbe seiner Augen hatte, dazu trug er lässige Jeans. Seine Haut war von der Sonne tief gebräunt und brachte seine blonden, mit grauen Strähnen durchzogenen Haare zum Leuchten. Er lehnte sich an den Türrahmen und lächelte Malin verschmitzt an. »Was habe ich nur für eine attraktive Frau an meiner Seite.« Er bemerkte das Päckchen mit dem Etikett der exklusiven Confiserie in Malins Hand. »Mutters Lieblingspralinen? Sie wird dich lieben.«

»Das will ich doch schwer hoffen.« Malin erwiderte sein Lächeln. Es ist nur ein Essen, dachte sie. Kein Termin beim Standesamt. Also keine Panik.

Im Hintergrund klingelte noch immer ihr Handy. »Willst du da nicht langsam mal rangehen?«, fragte Thies amüsiert.

Sie zog das Handy aus ihrer Umhängetasche an der Garderobe. Das Display zeigte die Nummer von Kriminalhauptkommissar Hans Fricke, ihrem Vorgesetzten beim LKA 411, der Hamburger Mordkommission.

»Brodersen?«, brummte ihr Frickes Stimme ins Ohr. »Ich weiß, du hast frei – aber wir brauchen dich.«

Malin musste sich zusammenreißen, um keinen Seufzer der Erleichterung auszustoßen. »Eigentlich hatte ich schon etwas vor«, entgegnete sie halbherzig. Thies hob die Augenbrauen.

»Wir haben eine Leiche, Brodersen. Und ein Personalproblem.«

»Ich komme, Chef.« Malin beförderte Stift und Zettel aus ihrer Umhängetasche und notierte die Adresse, die Fricke ihr durchgab.

»Du musst ins Präsidium?«, fragte Thies, kaum, dass sie das Telefonat beendet hatte.

»An einen Tatort. Tut mir leid.«

Er löste sich vom Türrahmen und trat einen Schritt auf Malin zu. Thies überragte sie um mehr als eine Kopflänge. »Warum habe ich nur das Gefühl, dass dir das nicht ganz ungelegen kommt?«

»Wie kommst du darauf?« Malin legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. »Ich mache nur meinen Job. Es hat rein gar nichts mit deiner Mutter zu tun.« Sie war eine schlechte Lügnerin.

Thies beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie. »Also gut. Aber wir holen das nach.« Er sah ihr fest in die Augen. »Ich will dich nur meiner Mutter vorstellen, Malin. Damit sie sieht, was für eine wunderbare Freundin ich habe. Ich hatte nicht vor, dich zum Traualtar zu schleppen und hinterher in Ketten zu legen.« Er zwinkert ihr zu und verschwand.

Malin blieb mit rotem Kopf zurück. Dann fiel ihr Blick auf den Zettel in ihrer Hand und sie streifte die hochhackigen Sandaletten ab. Es wurde Zeit, sich umzuziehen.

Eine halbe Stunde später bog Malin in ihrem alten grünen Mini in den verkehrsberuhigten Teil des Schleusenredders in Wohldorf-Ohlstedt. Die mit Kopfstein gepflasterte Straße grenzte direkt an den Wohldorfer Wald. Vor dem letzten Grundstück parkte ein Streifenwagen, auf dem geschotterten Gehweg daneben standen weitere Dienstfahrzeuge der Polizei. Malin stellte ihren Mini hinter dem silberfarbenen Transporter der Spurensicherung ab, nahm einen Satz Schutzkleidung aus dem Kofferraum und zeigte dem uniformierten Beamten neben dem Einsatzfahrzeug ihren Dienstausweis.

Eine etwa zwei Meter hohe, akkurat gestutzte Thujenhecke schützte die Bewohner des weitläufigen Grundstücks vor neugierigen Blicken. Der Kies knirschte unter Malins Füßen, als sie die lange Auffahrt entlang auf ein schlichtes Spitzgiebelhaus mit moosbesetzten Dachschindeln zuging. Auf der weiß verputzten Fassade prangten zahlreiche Verfärbungen. Sonne blitzte zwischen den dunklen Wolken hervor und die Buchsbäume vor dem Hauseingang warfen spitze Schlagschatten auf den Weg wie eine Armee gesichtsloser Zinnsoldaten.

Vor der Haustür mit dem eingelassenen Gitterfenster stand ein weiterer Uniformierter. Er grüßte Malin knapp, ohne sich von der Stelle zu bewegen. »Herr Glaser hat mich angewiesen, hier niemanden ohne Schutzkleidung reinzulassen.« Seine Augen streiften das Kleiderbündel in Ma­lins Hand.

Frank Glaser war der Leiter der Spurensicherung, ein mürrischer, wortkarger Typ mit verkniffenem Gesichtsausdruck, der sein Territorium eisern gegen sämtliche Fremd-DNA verteidigte. Ein Mann, den man besser nicht verärgerte. Malin schlüpfte in Spurensicherungs-Overall, Latexhandschuhe und blaue Überschuhe.

Ein schwerer, süßlicher Gestank schlug ihr entgegen, als sie die großzügig geschnittene Diele betrat. Sie stülpte sich den Mundschutz über.

Alter Fliesenboden, Landschaftsbilder auf vergilbter Raufasertapete, ein Konsoltisch aus Kirschholz und ein altmodischer Garderobenständer, an dem ein einzelner dunkelblauer Blazermantel hing. Vier Türen gingen vom Flur in weitere Räume ab, eine schön geschwungene Holztreppe mit ausgetretenen Stufen führte ins Obergeschoss. Am Fuß der Treppe kniete ein Kriminaltechniker.

»Manchmal wünsche ich mir einen anderen Job.« Ein großer, schlaksiger Mann erschien in einer der angrenzenden Türen und musterte Malin aus wasserblauen Augen. Ole Tiedemanns restliches Gesicht war inklusive der sandfarbenen Haare unter Mundschutz und Kapuze versteckt. »Ich hoffe, du hast nicht gerade gegessen.«

»Genau so habe ich mir einen freien Tag vorgestellt.« Malin lächelte ihren Teamkollegen schief an. Tiedemann war ein ruhiger und introvertierter Mann. Sie schätzte seine sachliche Arbeitsweise und seine Fähigkeit, während den Ermittlungen stets den Überblick und einen kühlen Kopf zu behalten. Eine Eigenschaft, über die Malin leider nicht verfügte. »Was haben wir?«

»Eine männliche Leiche. Schätzungsweise zwischen siebzig und achtzig. Fortgeschrittene Verwesung. Dr. Steinhofer sieht ihn sich gerade an. Wir gehen davon aus, dass es sich bei dem Toten um den Hauseigentümer Dr. Kurt Wenninger handelt.«

»Weiß man schon, was passiert ist?«

»Er wurde offenbar erschossen.« Tiedemann zupfte an seinem Mundschutz. »Der Postbote hat den Toten entdeckt. Ihm waren der überfüllte Briefkasten und der Geruch aufgefallen. Als niemand auf sein Klingeln geöffnet hat, ist er durch den Garten zur Terrasse gegangen, um ins Haus zu schauen.«

Dr. Steinhofer schob sich mit ihrem Arztkoffer in der Hand an Tiedemann vorbei in die Diele und lüpfte ihren Mundschutz. Die Rechtsmedizinerin war eine kühle Blondine in den Vierzigern, die selbst im Schutz-Overall eine elegante Erscheinung abgab. Sie nickte Malin kurz zu und wandte sich an Tiedemann. »Der Tote hat Schussverletzungen in Bauch, Brust, Schulter und Oberschenkel.«

»Was denken Sie, wie lange er tot ist?«, fragte Tiedemann.

Dr. Steinhofer runzelte die Stirn. »Das ist schwer zu sagen. Die Verwesung ist bereits fortgeschritten, die Oberhaut an den unverletzten Stellen beginnt sich abzulösen. Vorsichtig geschätzt acht bis vierzehn Tage. Genaueres ergibt hoffentlich die Obduktion oder das entomologische Gutachten. Melden Sie sich, wenn Sie fertig sind. Ich lasse den Toten dann abholen. Und richten Sie Fricke aus, dass er vor morgen Nachmittag nicht mit der Obduktion rechnen kann. Ich habe noch weitere Kunden.« Ein letzter kühler Blick und Dr. Steinhofer verließ das Haus.

»Also gut, dann wollen wir mal.« Tiedemann sah seine Kollegin an. »Am besten, du machst dir erst einmal selbst ein Bild.«

Malin folgte ihm ins Wohnzimmer. Die vertäfelte Holzdecke, das Monstrum von einem Eichenschrank, die durchgesessene Sofagarnitur und die ausgeblichenen Perserteppiche hatten ihre besten Zeiten seit Jahren hinter sich. Die Gardinen waren aufgezogen. Vereinzelte Sonnenstrahlen warfen Lichtreflexe auf den Ohrensessel aus dunkelrotem Samt, der zum Fenster in den Garten hin ausgerichtet war.

Ein Kriminaltechniker beugte sich gerade über den Sessel und Malin erkannte Frank Glaser, dessen kleine, runde Brille zwischen Kapuze und Mundschutz hervorlugte. Er murmelte vor sich hin und beförderte mit einer Pinzette Insekten in ein nummeriertes Gefäß. Erst jetzt bemerkte Malin einen Arm mit marmorierter Grünverfärbung auf der abgewetzten Lehne. Der Tote saß im Ohrensessel.

Sie trat ein paar Schritte näher. Insekten tummelten sich auf dem geschwollenen Leib und in den Körperöffnungen des Toten. Am rechten Oberschenkel, an der linken Schulter und im Rumpf konnte man deutlich Einschusswunden erkennen. Ihr Magen rebellierte und der Gestank drang jetzt auch durch ihren Mundschutz. Verdammt.

»Lass uns einen Moment rausgehen«, schlug Tiedemann vor.

Malin folgte ihm schweigend aus dem Haus, löste ihren Mundschutz und atmete tief durch.

»Wir sind hier bis auf weiteres erst mal zu zweit«, sagte Tiedemann, während sie auf dem Kiesweg das Haus umrundeten. »Sven ist beim Zahnarzt. Wurzelbehandlung. Und der Chef hat irgendeinen wichtigen Termin.«

»Und was ist mit Fred?«

Tiedemann warf ihr einen erstaunten Seitenblick zu. »Er hat dir nicht gesagt, dass er Urlaub hat? Gestern Abend ging sein Flieger in die Türkei.«

»Nein, das wusste ich nicht.« Malin verdrängte die widersprüchlichen Gefühle, die diese Nachricht bei ihr auslöste.

Der hintere Garten erinnerte an eine gut gepflegte Parklandschaft. Die sauber getrimmte Thujenhecke umrahmte symmetrisch angelegte Beete, Kolonien von runden und zylinderförmig geschnittenen Buchsbäumen und eine großzügig angelegte Rasenfläche.

Die beiden Kriminalbeamten blieben vor der Terrasse stehen und sahen durch das Verandafenster. Der Tote im Ohrensessel schien sie direkt anzustarren.

»Hast du die Einschusslöcher gesehen?«, fragte Tiedemann.

»Hab ich.« Malin musterte ihn von der Seite. Wie es schien, machte ihm der unappetitliche Anblick nichts aus.

Tiedemann bemerkte ihren Blick. »Habe ich eines der Viecher mit rausgebracht? Oder warum starrst du mich so an?« Er fegte mit seiner behandschuhten Hand ein imaginäres Insekt aus seinem Gesicht.

Malin ließ seine Frage unbeantwortet. »Weiß man schon etwas Näheres über den Hauseigentümer?«

»Bisher nicht. Aber du könntest mit Stefan Biedermann, dem Postboten, sprechen. Er wartet bei den Nachbarn zwei Häuser weiter. Postboten sind oftmals gute Informationsquellen.« Seine Stirn krauste sich, während er die Leiche betrachtete. »Ein Profi war das nicht. Der Bauchschuss allein hätte ausgereicht, um den Mann in kürzester Zeit verbluten zu lassen. Offenbar hatte da noch jemand eine Rechnung offen.«

Das Sandmann-Projekt

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