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Der köstliche Duft von frischgebackenem Brot und Kaffee zog durch die gemütliche Küche des Lotsenhauses in Övelgönne. Erich Brodersen nahm die heiße Milch vom Herd und schäumte sie mit dem Stabmixer auf. Der ehemalige Fährkapitän wirkte trotz seiner sechsundsiebzig Jahre kräftig und energiegeladen. Sein gebräuntes, wettergegerbtes Gesicht war von vielen Falten durchzogen, und sein Blick aus blauen Augen wirkte klar und intelligent.

»Wir haben lange nicht mehr zusammen gefrühstückt.« Erich warf seiner Enkelin einen liebevollen Blick zu und platzierte das Kännchen mit Milchschaum, einen Teller mit frischem Aufschnitt und ein Glas selbstgemachter Erdbeermarmelade neben die Butterdose auf dem Tisch. Er schnitt das noch warme Brot in dicke Scheiben, legte es in einen Korb und schenkte Kaffee ein.

Malin lächelte. »Ich hatte viel um die Ohren in letzter Zeit.«

»Und das hängt nicht zufällig mit einem ganz speziellen Herrn zusammen? Groß, blond, gutaussehend?« Erich setzte sich an den Tisch und zwinkerte schelmisch.

»Woher …?«

Er schmunzelte. »Ich habe euch letzte Woche zusammen bei Emilia gesehen.«

Emilias Bistro war Malins Stamm-Italiener. Ein kleines Lokal mit Stehtischen, köstlichen, stets frisch zubereiteten Speisen und der quirligen Emilia als Wirtin.

»Ich habe dich gar nicht bemerkt. Warum bist du nicht zu uns an den Tisch gekommen?« Malin griff nach einer Scheibe Brot.

»Ein Rendezvous zu dritt?« Erich lachte und rührte etwas Milchschaum in seinen Kaffee. »Ich habe dich lange nicht mehr so gesehen, Malin. Du hast glücklich gewirkt.«

Malin bestrich die Brotscheibe bedächtig mit Butter und verteilte zwei Teelöffel der Marmelade darauf. »Er heißt Thies.« Dann erzählte sie ihrem Großvater von dem Juraprofessor.

»Hast du ihn schon deiner Mutter vorgestellt?«, fragte Erich, als sie fertig war.

Malin verschluckte sich an ihrem Kaffee. »Ich bin doch nicht verrückt!«

»Ach was!«, entgegnete Erich fröhlich. »Deiner Beschreibung nach entspricht dein neuer Freund der Idealbesetzung, die deiner Mutter als Schwiegersohn vorschwebt.«

»Eben«, konterte Malin. »Die anhaltende Harmonie zwischen Mutter und mir ist schon unheimlich genug.«

Constanze Heidenberg war die Hauptgesellschafterin der Heidenberg Bank, ein hanseatisches Privatunternehmen, das sich seit über 150 Jahren im Familienbesitz befand. Lange Zeit hatte Constanze die Entscheidung ihrer Tochter für die Polizei und gegen die Gesellschafterfunktion in der Bank, in deren Erwartung sie aufgezogen worden war, als persönlichen Affront empfunden. Während einer Mordermittlung zwei Monate zuvor waren sich Mutter und Tochter unvorhergesehen näher gekommen. Eine Situation, die für beide Frauen neu und ungewohnt war.

»Mein Gott, war das lecker. Du solltest öfter Brot backen.« Malin schob ihren leeren Teller von sich.

Erich lächelte erfreut. »Ich dachte, wir könnten später zusammen in die Stadt fahren und ein wenig in den Buchhandlungen nach neuen Krimis stöbern. Was hältst du davon?«

»Viel. Nur leider muss ich gleich ins Präsidium«, erwiderte Malin bedauernd. Die Aussicht auf weitere Stunden am Telefon, um herauszufinden, welches Taxiunternehmen Kurt Wenninger chauffiert hatte, war nicht verlockend.

»Ich dachte, du hast frei?«

»Nicht mehr. Wir haben einen neuen Fall.« Malin umriss ihrem Großvater die Ereignisse der beiden letzten Tage und beschränkte sich auf die Dinge, die auch an die Presse gegangen waren. »Leider tappen wir bisher im Dunklen.«

Ein Schatten fiel auf Erichs Gesicht. »Es muss furchtbar sein, so einsam zu sterben. Unvorstellbar, dass einen wochenlang niemand vermisst.«

Malin griff nach seiner Hand und drückte sie kurz. »Lass uns nächsten Samstag gemeinsam in die Stadt fahren.«

Erich runzelte die Stirn. »Da kann ich nicht. Ich habe eine Einladung nach Berlin bekommen.«

»Wieder von dem Freund, bei dem du schon vor ein paar Monaten warst?«

Er nickte.

»Dann finden wir einen anderen Termin.« Malin warf einen Blick auf ihre Uhr. »Also gut, ich muss leider los. Vielen Dank für das tolle Frühstück.« Sie drückte ihrem Großvater einen raschen Kuss auf die Wange.

»Hältst du mich auf dem Laufenden wegen eures Falls? Die Sache interessiert mich.«

Malin seufzte. Seit ihrem Einstieg bei der Mordkommission fühlte sich ihr Großvater als eine Art Ehrenkommissar. Und daran war sie nicht ganz unschuldig, schließlich hatte sie ihn bei ihrem ersten Fall um Hilfe gebeten. Seitdem schien sich die Sache zu verselbstständigen.

»Und bestell Hauptkommissar Fricke einen schönen Gruß von mir. Er soll unbesorgt sein. Ich habe nicht vor, mich in seinen Fall einzumischen.« Erich zwinkerte ihr zu. »Zumindest vorerst nicht.«

Malin folgte ihrem Großvater in den Flur und nahm ihre Wachsjacke von der Garderobe. Daneben hing Erichs dunkelblauer Blazermantel. Sie erinnerte sich, dass sie in Wenningers Haus ein ganz ähnliches Modell gesehen hatte. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf.

Wolfgang Herzog band bedächtig seine blau-rot gestreifte Krawatte um den gestärkten Hemdkragen und griff nach den Manschettenknöpfen aus Sterlingsilber mit dem dezent eingravierten Hamburg-Wappen. Die Knöpfe waren ein Geschenk von Verena zu seinem siebzigsten Geburtstag gewesen. Seine Frau war gebürtige Hamburgerin und stammte aus einer der alteingesessenen Unternehmerfamilien.

Wolfgang Herzog musterte sich im Spiegel. Die tiefen Falten, den verkniffenen Mund und die dicken Tränensäcke unter seinen Augen. Schon seit Wochen litt er unter Schlafmangel und wälzte sich Nacht für Nacht im Bett herum. Er hatte mehrfach mit der Möglichkeit gespielt, Schlaftabletten zu nehmen, doch der Gedanke daran, was chemische Substanzen in Kombination mit dem alten, teuren Whiskey, den er so liebte, in seinem Körper auslösen konnten, hielt ihn davon ab.

Aus dem Nachbarzimmer drang klassische Violinenmusik. Erst verhalten, dann nahmen die Töne an Lautstärke und Tempo zu. Mendelssohns Violinkonzert. Verena liebte diese Musik.

Wolfgang seufzte, strich mit der Hand durch sein noch immer dichtes, graues Haar und griff nach dem dunkelblauen Zweireiher. Er war spät dran. In einer halben Stunde erwartete ihn der erste Mandant.

Vor mehr als zwanzig Jahren hatte Wolfgang Herzog die Kanzlei Herzog Rechtsanwälte mit dem Schwerpunkt Strafrecht gegründet. Mittlerweile beschäftigte seine Kanzlei am Hofweg fünf weitere Anwälte. Trotzdem hielt Wolfgang das Zepter noch immer alleine in der Hand und hatte auch nicht vor, es in absehbarer Zeit abzugeben.

Im Nebenzimmer klingelte ein Handy, und die Musik wurde leiser gedreht. Das Klackern von hohen Absätzen auf dem Parkett war zu hören, und Sekunden später wurde die Tür geöffnet.

»Deins.« Verena hielt ihm sein Handy entgegen und wie immer in letzter Zeit hatte ihre Stimme einen vorwurfsvollen Klang.

Wolfgang setzte zu einer liebevollen Bemerkung an, doch die Tür fiel schon wieder hinter Verena ins Schloss, und die Musik wurde lauter gestellt. Verdammt, sie gab ihm auch nicht die geringste Chance, sich ihr zu erklären!

Wolfgang blickte auf das Display des klingelnden Handys. Unbekannte Nummer. Er räusperte sich kurz, ehe er sich mit ruhiger Stimme meldete. »Wolfgang Herzog.«

»Grabowsky.«

Wolfgang holte tief Luft. »Du sollst mich doch nicht anrufen!«

»Hast du heute schon in die Zeitung geschaut?«

»Nein.«

Es blieb einen Moment still am Telefon, ehe Grabowsky erneut sprach: »Wenninger ist tot.«

»Was sagst du da?« Unvermittelt begann Wolfgang zu schwitzen.

»Ich sagte, Wenninger ist tot. Es stand heute früh im Abendblatt. Ein gewisser Kurt W. aus Wohldorf-Ohlstedt wurde in seinem Haus tot aufgefunden. Ich kenne den Redakteur. Er hat mir bestätigt, dass es sich um Wenninger handelt.« Grabowsky hob die Stimme. »Die Polizei geht von einem Tötungsdelikt aus.«

»Verdammt.« Wolfgang lockerte mit einer Hand seinen Krawattenknoten.

»Wir sollten uns treffen.«

»Ich muss erst darüber nachdenken.« Er legte auf. Sekundenlang verharrte er und starrte auf das Handy in seiner Hand. Dann verließ er das Schlafzimmer, durchquerte das Nebenzimmer und ging in sein Arbeitszimmer, ohne die Stille in der Wohnung zu bemerken. Er setzte sich in seinen Ledersessel hinter dem massiven Schreibtisch, lehnte sich an die Rücklehne und schloss die müden Augenlider. Dann rief er sich das letzte Zusammentreffen mit Kurt Wenninger ins Gedächtnis.

Kurz vor zehn saß Malin mit dem Telefonhörer am Ohr an ihrem Schreibtisch und lauschte dem Song Dancing Queen.

Zuvor hatte sie sich in der Kriminaltechnik nach Gegenstandsspuren in Wenningers Blazermantel erkundigt. Neben einer Brieftasche mit üblichem Inhalt hatten die Kollegen in einer der Seitentaschen eine Taxiquittung sichergestellt. Datum und Uhrzeit auf dem Beleg passten zur Aussage der Nachbarin. Start- und Zielort hingegen fehlten.

Malin trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Schreibtisch. In der Warteschleife von Alster-Taxi war noch immer Dancing Queen zu hören. Zum siebten Mal in Folge.

»So, ich hab mit dem Fahrer gesprochen«, meldete sich der Disponent, nachdem das Lied zwei weitere Male vom Band gelaufen war. »Sie haben Glück, der Kollege konnte sich an den Fahrgast erinnern. Der alte Herr soll ziemlich betrunken gewesen sein.«

Malin zückte ihren Stift. »Zu welcher Adresse wurde das Taxi bestellt?«

»Nirgendwohin. Der Fahrgast ist am Langenhorner Markt eingestiegen.«

Malin machte sich eine entsprechende Notiz. »Ich würde gerne mit dem Fahrer persönlich sprechen.«

»Dann geben Sie mir Ihre Nummer.« Der Disponent wirkte genervt. Im Hintergrund klingelte pausenlos das Telefon. »Ich sorge dafür, dass der Kollege Sie in seiner nächsten Pause anruft.«

»Gut.« Malin nannte ihm ihre Handynummer. »Und bitte sagen Sie ihm, dass es dringend ist.« Doch ihr Gesprächspartner hatte bereits aufgelegt.

Langenhorner Markt, grübelte Malin. Wo konnte Wenninger gewesen sein, mitten in der Nacht und betrunken?

Die Tür ging auf und Andresen stapfte, dicht gefolgt von Tiedemann, ins Büro. Ein ungleiches Paar, dachte Malin nicht das erste Mal beim Anblick der beiden Ermittler. Andresen war wieder von oben bis unten in dunkles Leder gehüllt, an den Füßen trug er ausgelatschte Cowboystiefel. Im Gegensatz zu seinem rothaarigen Kollegen wirkte Ole Tiedemann in seiner grauen Bundfaltenhose, dem gebügelten Oberhemd und seinem akkurat gescheitelten Haar wie aus dem Ei gepellt. Unter dem Arm trug er eine schwarze Ledermappe. Seine blassen Wangen waren leicht gerötet, und er lächelte zufrieden.

»Es sieht aus, als hättet ihr Neuigkeiten.«

»Wir kommen gerade von der Haspa-Filiale in Volksdorf.« Tiedemann öffnete die Ledermappe und reichte ihr ein Dokument in einer Klarsichthülle. »Wenninger hatte dort ein Bankschließfach.«

Die Überschrift des Papiers stach Malin sofort ins Auge: Mein letzter Wille. Schweigend las sie das Testament, das auf einen Tag im Februar 1991 datiert war. Kurt Wennninger hatte seinen gesamten Besitz einem einzigen Menschen vermacht. Sie hob den Kopf. »Wer zum Teufel ist Michael Baumann?«

Die Durchsage informierte die Passagiere, dass der ICE den Zielbahnhof Hamburg Hauptbahnhof in wenigen Minuten erreichen würde. Michael Baumann wuchtete seine Sporttasche aus dem Gepäckfach.

Höchstens eine Woche würde er in Hamburg bleiben. Das hatte er Ina versprochen. Ohnehin hatte es ihn Überwindung gekostet, sie und die Kleine zurückzulassen. Seit der Geburt seiner Tochter vor knapp zwei Jahren war er nicht einen Tag von seiner Familie getrennt gewesen. Trotzdem musste sie sein, diese Reise, von der er noch nicht wusste, wohin sie ihn führen würde.

Jemand rammte ihm einen Koffer in die Waden und drängelte sich ohne Entschuldigung vorbei. In seiner Hosentasche kündigte ein Fiepen den Eingang einer SMS auf seinem Handy an. Er zog es heraus. Ina wünschte ihm viel Glück.

Michael reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Der ICE passierte die Elbrücken. Dicht an dicht stapelten sich die Container wie Bauklötze auf den Kaianlagen. Michael spürte einen Kloß im Hals. Würde er in Hamburg endlich die Antworten auf die Fragen finden, die ihn so quälten? Er durfte jetzt auf keinen Fall kneifen. Nicht, bevor er Gewissheit hatte.

Der ICE verringerte sein Tempo. Eine riesige Kuppel aus Stahl und Glas kam in Sicht. Wenige Augenblicke später fuhr der Zug in den Bahnhof ein und kam zum Stehen.

Michael wartete geduldig, bis die Reisenden vor ihm ausgestiegen waren, dann trat er auf den Bahnsteig.

»Wer ist Michael Baumann?«, wiederholte Fricke Malins Frage eine halbe Stunde später. Er starrte mit gekrauster Stirn auf das handschriftliche Testament in seiner Hand. »Die Verfügung stammt von 1991. Dem Geburtsdatum nach war Michael Baumann zu dem Zeitpunkt zwölf Jahre alt.« Er hob den Blick und sah zu seinem Stellvertreter. »Ein Kind.«

Tiedemann nickte. »Möglicherweise Wenningers Kind.«

»Wenninger war nie verheiratet«, warf Malin ein.

Andresen grinste anzüglich. »Manche Männer verstreuen ihre Samen in jede Windrichtung.«

Fricke blätterte im Anhang des Testaments. »Als Vermögenswerte wurden das Haus im Schleusenredder und ein Festgeldkonto angegeben.«

»Und damit reden wir über eine halbe Million Euro.« Tiedemann nahm Fricke die Dokumente aus der Hand und ging damit zu seinem Schreibtisch. »Laut Testament wurde Michael Baumann in Berlin geboren.« Er tippte einige Befehle in seine Computertastatur. »Ich habe mit einem Berliner Kollegen gesprochen und der hat mir den EWO-Eintrag für Michael Baumann geschickt.«

»Wenningers Schwester, deren Tochter und die Enkelkinder gehen bis auf den Pflichtanteil also leer aus«, stellte Fricke fest. »Ob die das wissen?«

»Ich rufe die Auskunft an.« Tiedemann griff zum Telefonhörer. »Können Sie mich bitte mit einer Nummer in Berlin verbinden?« Er nannte die beim Einwohnermeldeamt eingetragene Adresse und lauschte einen Moment, ehe er die Sprechmuschel des Telefons mit der Hand umschloss. »Ein Michael Baumann ist unter der Adresse nicht verzeichnet. Dafür Horst und Hertha Baumann.«

»Möglicherweise die Eltern.« Malin tauschte einen Blick mit Fricke.

»Sie verbinden mich.« Tiedemann stellte die Telefonanlage auf Lautsprecherfunktion und alle lauschten gebannt dem Freizeichen.

»Hertha Baumann«, meldete sich eine Frauenstimme.

»Mein Name ist Ole Tiedemann, ich bin Kriminalkommissar beim LKA Hamburg. Kann ich bei Ihnen einen Michael Baumann erreichen?«

Stille.

»Frau Baumann? Kann ich bitte mit Michael Baumann sprechen?«

Der Hörer wurde aufgelegt.

Tiedemann warf Fricke einen irritierten Blick zu und wählte ein weiteres Mal. Niemand hob ab.

»Bleib da dran, Ole.« Fricke sah Andresen an. »Wie weit seit ihr mit der Sichtung von Wenningers Unterlagen?«

Andresen zwirbelte an seinem Schnauzer. »Wir sind so gut wie durch. Alles nur Versicherungskram oder Unterlagen, die sein Haus oder die Praxis betreffen. Nichts Persönliches. Keine Kinderfotos, keine Briefe, keine Zeugnisse, nicht ein einziges Dokument von vor 1990. Als hätte es Kurt Wenninger da noch nicht gegeben.«

»Das ist doch nicht normal.« Frickes Kiefermuskeln malmten.

»Wenninger wollte offenbar nicht, dass jemand etwas findet«, erwiderte Malin. »Der Mann hatte etwas zu verbergen.«

Fricke musterte seine Mitarbeiter grimmig. »Dann fangt an zu graben, und zwar so tief ihr könnt.«

Nach dem sie zwei Stunden lang ergebnislos sämtliche Suchmaschinen im Internet mit Kurt Wenningers Namen gefüttert hatte, beschloss Malin, Stefan Biedermann aufzusuchen. Das merkwürdige Verhalten des Postboten während der ersten Befragung war ihr im Gedächtnis geblieben. Sie rief bei seiner Dienststelle an und erfuhr, dass er bereits Feierabend gemacht hatte und vermutlich in seinem Schrebergarten anzutreffen war.

Das Navi in ihrem Mini führte Malin zu einer weitläufigen Kleingartenkolonie in Langenhorn. Alte Bäume, halbhohe grüne Hecken und prächtige Blütenbüsche säumten die Wege. Auf den Grundstücken standen Häuser in Miniaturformat.

Vor einem dunkelrot gestrichenen Holzhaus hockte ein Mann mit Pferdeschwanz auf einer überschaubaren Rasenfläche und beförderte mit einem Unkrautstecher Löwenzahn aus dem Gras.

Malin öffnete das Gartentor. »Hallo, Herr Biedermann.«

Der Postbote sah kurz auf. »Hallo.« Ungerührt zupfte er das Unkraut von seinem Hilfsgerät umd warf es in den neben ihm stehenden Eimer.

»Ich würde mit Ihnen gerne noch mal über Kurt Wenninger sprechen.« Malin trat näher.

Stefan Biedermann sah zum Himmel, an dem sich dunkle Wolken auftürmten. »Eigentlich wollte ich den Rasen fertig machen. Ich muss noch mähen und hinterher düngen, und zwar bevor der Regen kommt.« Er widmete sich dem nächsten Löwenzahn.

Malin nahm den Faden auf. »Jemand hat etwas in Herrn Wenningers Rasen gemäht.« Sie beobachtete, wie Stefan Biedermann mitten in der Bewegung innehielt. »Zahlen oder Buchstaben, es ist schwer zu erkennen.«

Biedermann erhob sich aus der Hocke. »In Wenningers Rasen? In sein Heiligtum?« Er streifte Malin mit einem eigentümlichen Blick.

»Wissen Sie etwas darüber?«

»Der Doktor hätte das niemals zugelassen«, murmelte Stefan Biedermann, während er den Unkrautstecher von einem verbliebenen Rest Löwenzahn befreite.

»Herr Biedermann? Wissen Sie etwas darüber?«

»Nein.« Er hob den Blick und sah ihr direkt in die Augen.

»Bei unserem letzten Gespräch haben Sie erwähnt, dass Herr Wenninger mit Ihnen über seine Arbeit als Psychiater gesprochen hat. Was genau hat er erzählt?«

Stefan Biedermann runzelte die Stirn. »Streng genommen hat er es nicht von sich aus erzählt. Ich habe ihn gefragt, wofür der Doktortitel auf seinem Briefkasten steht.« Er ließ sein Gartenwerkzeug in den Eimer gleiten und steckte die Hände in die Taschen seiner grünen Arbeitshose. »Dabei hatte ich mit irgendetwas in Richtung Botanik oder Biologie gerechnet. Dass er so ein Nervenarzt war, hat mich aus den Latschen gehauen.«

»Warum?«

»Das passte einfach nicht zu ihm. Sagt man nicht von Psychiatern, dass die selbst alle eine Schraube locker haben?« Er schüttelte den Kopf. »Na ja, vielleicht habe ich auch einfach nur eine falsche Vorstellung von dem Beruf. Ich habe ihn mal gefragt, was man so macht als Psychiater. Da hat er gesagt, er helfe den Menschen dabei, ihre verlorenen Seelen wiederzufinden.«

Ihre verlorenen Seelen? Malin machte sich im Geiste eine Notiz. »Hat er Ihnen sonst noch etwas von seiner Arbeit erzählt?«

»Nie wieder. Als hätte er das eine Mal schon zu viel verraten. Aber das war seine Art. Der Doktor konnte stundenlang über seinen Garten philosophieren, aber sobald es um Persönliches ging …« Seine Stirn krauste sich. »Vielleicht fragen Sie mal bei diesem Club nach, zu dem er immer gegangen ist.«

»Was für ein Club?«, fragte Malin überrascht.

»Irgend so ein Pfeifenclub. Der Doktor war dort ein- bis zweimal die Woche.« Der Postbote sah sie erstaunt an. »Wussten Sie das denn nicht?«

Malin unterdrückte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. »Wissen Sie möglicherweise auch, wo die Mitglieder dieses Clubs sich treffen?«

»In irgendeiner Gaststätte.« Biedermann schwieg einen Moment, und es schien, als wäge er verschiedene Möglichkeiten ab. »Irgendwo in Langenhorn. Genaueres weiß ich nicht.«

Wenninger war am Langhorner Markt eingestiegen, erinnerte sich Malin. »Möglicherweise hilft uns das schon mal weiter. Vielen Dank, Herr Biedermann.« Sie musterte ihn und konnte nicht verhindern, dass die unterdrückten Worte nun doch den Weg über ihre Lippen fanden: »Ehrlich gesagt würde es mich brennend interessieren, woher Sie davon wissen. Haben Sie mir nicht gerade vor wenigen Augenblicken erzählt, dass Herr Wenninger nicht gerne über Persönliches sprach?«

Wieder erschien dieser eigentümliche Blick in Biedermanns Augen. »Er hat es irgendwann mal erwähnt.«

»Aha. Hat Herr Wenninger vielleicht noch etwas anderes erwähnt, das uns helfen könnte, seinen Mörder zu finden?« Sie fixierte den Postbeamten noch eingehender. »Irgendwann?«

»Nein, hat er nicht.« Biedermann griff nach dem Eimer und nahm demonstrativ den Unkrautstecher heraus.

»Gut, dann lasse ich Sie jetzt mit Ihrem Rasen allein. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Malin drehte sich um und ging durch das Gartentor. Dabei spürte sie den Blick des Postboten im Rücken.

»Frau Brodersen!«, rief Stefan Biedermann ihr hinterher. »Lassen Sie Doktor Wenningers Rasen mähen!«

Malin sah irritiert über ihre Schulter, doch von dem Mann war nichts mehr zu sehen.

Als Malin zurück ins Präsidium kam, waren die Schreibtische ihrer Kollegen verwaist. Sie schenkte sich einen Becher Kaffee ein und setzte sich an ihren Platz. Nachdenklich starrte sie aus dem Fenster in den bewölkten Himmel. Was machte man in einem Pfeifenclub? Rauchen und philosophieren?

Malin nippte an ihrem Kaffee. Er schmeckte ungewöhnlich bitter. Sie schob den Becher beiseite, öffnete die unterste Schublade ihres Schreibtisches und zog eine Papiertüte mit einem Franzbrötchen vom Vortag heraus. Genüsslich biss sie in das süße Hefegebäck. Sofort breitete sich der vertraute Butter-Zimt-Geschmack auf ihrem Gaumen aus.

Derart gestärkt, gab sie in die Internet-Suchmaschine die Begriffe Pfeifenclub und Hamburg ein. Zwölftausend Treffer. Anscheinend waren solche Clubs hier nichts Ungewöhnliches. Sie las sich einige der Vereinsbeschreibungen durch. In vielen häuften sich Dinge wie Förderung der Geselligkeit und Erhaltung von Traditionen, auch von Aktionen wie Zigarillowettrauchen und Kegelturnieren war die Rede. Bei weiteren Clubs wurden Wanderungen und Ausflüge erwähnt, sowie Spendenaktionen und das jährliche Grünkohlessen.

Malin gab als zusätzlichen Begriff Langenhorn in die Maske ein. Nur noch einhunderteinundzwanzig Treffer. Sie ging die einzelnen Seiten durch, nur um festzustellen, dass nicht einer davon in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Langenhorner Pfeifenclub stand.

Die Tür wurde aufgerissen und Tiedemann erschien. »Du bist zurück? Vorhin war ein Taxifahrer hier und wollte was von dir.«

»Der sollte mich doch anrufen«, entfuhr es Malin.

»Davon hat er nichts gesagt.« Tiedemann setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Dafür konnte er sich umso besser an Kurt Wenninger erinnern. Er sagt, der Alte sei sternhagelvoll gewesen und hätte während der ganzen Fahrt gezetert. Es hörte sich wohl so an, als hätte Wenninger sich an dem Abend heftig mit jemandem gestritten.«

»Sind Namen gefallen?«

»Wenninger hat etwas von einem Admiral gefaselt.« Tiedemann lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. »Möglicherweise meinte er jemanden vom Militär, aber um da einen Zusammenhang herzustellen, fehlen uns zahlreiche Infos. Ich habe sicherheitshalber eine Abfrage bei EWO gemacht, für den Fall, dass es sich um einen Nachnamen handelt. Nichts.« Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. »Ich komme übrigens gerade vom Chef. Wir sind mit der Suche nach Michael Baumann kein Stück vorangekommen, deshalb hat Fricke die Berliner Kollegen um Unterstützung gebeten.«

»Apropos Suche, wo steckt eigentlich Sven?«

»Beim Zahnarzt.« Tiedemann musterte Malin. »Und? Hast du bei Biedermann etwas erreicht?«

Sie erzählte von dem Gespräch mit dem Postboten. Tiedemann hob die Brauen. »Ein Pfeifenclub? Das sollten wir überprüfen.«

»Bin schon dabei«, entgegnete Malin. »Allerdings gibt es Dutzende in Hamburg. Die meisten Gruppen treffen sich in irgendwelchen Gaststätten oder Vereinsheimen. Biedermann hat in diesem Zusammenhang Langenhorn erwähnt, doch möglicherweise wollte er sich damit auch nur wichtig machen.« Sie knüllte die leere Brötchentüte auf ihrem Tisch zu einer kleinen Kugel zusammen und feuerte sie in den Papierkorb. »Ich habe das Gefühl, wir treten auf der Stelle.«

Tiedemann schlug sich an die Stirn und gab etwas in seine Computertastatur ein. Dann erhellte sich sein Gesicht. »Dass ich da nicht gleich draufgekommen bin! Das Admiral ist eine Gaststätte. Ich kenne sie sogar. Wir haben dort vor einigen Jahren in einem Fall recherchiert. Und jetzt rate mal, in welchem Stadtteil sie sich befindet.«

»Wenn du so fragst, nehme ich an, in Langenhorn?«

Tiedemann grinste. »Und zwar in unmittelbarer Nähe zum Langenhorner Markt.« Er griff nach seiner Jacke. »Kommst du?«

Das Sandmann-Projekt

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