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Die Gaststätte Admiral befand sich in einem zitronengelb gestrichenen Haus direkt an der vielbefahrenen Tangstedter Landstraße. Von weitem wirkte das Gebäude mit seinen weißen Sprossenfenstern und dem roten Ziegeldach einladend, doch als sie darauf zugingen, bemerkte Malin die fleckige Fassade und das abgeblätterte Holz an den Fensterrahmen. In einem Schaukasten neben dem Eingang hing eine Speisekarte mit verblasster Schrift.

Die Eingangstür führte die Kriminalbeamten direkt in den Gastraum. Tische und Stühle aus dunklem Holz, eine breite Theke mit Barhockern und eine alte Eistruhe bildeten die Einrichtung. Auf jedem Tisch stand eine kleine Vase mit einer roten Nelke, an den Wänden hingen alte Bierplakate.

Ein hagerer Mann mit Kinnbart hantierte hinter dem Tresen mit der Zapfanlage und sah den Neuankömmlingen missmutig entgegen. »Wir haben noch geschlossen. Steht auch auf dem Schild an der Tür. Kommen Sie in einer halben Stunde wieder, dann gibt’s auch Bier.«

»Wir möchten kein Bier, sondern eine Auskunft.« Tiedemann zückte seinen Dienstausweis. »Aber vielleicht verraten Sie uns erst mal Ihren Namen.«

»Gregor Lenz. Das ist mein Schuppen hier.« Der Wirt wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. »Also, was kann ich für Sie tun? Ärger kann ich in meiner Gaststätte nicht gebrauchen.«

»Ist Ihnen der Name Kurt Wenninger bekannt?«

Lenz schüttelte den Kopf. »Sagt mir nichts.«

Tiedemann zog ein Foto des Mordopfers aus seiner Jackentasche und schob es dem Wirt über die Theke.

Gregor Lenz betrachtete es. »Das Gesicht kommt mir allerdings bekannt vor. Was ist mit dem Mann?«

Malin ergriff das Wort. »Herr Wenninger ist vor einigen Tagen in seinem Haus tot aufgefunden worden. Ermordet.«

»Das ist schlimm.« Der Blick des Wirts wurde argwöhnisch. »Und was hab ich damit zu tun?«

»Wir gehen davon aus, dass sich Herr Wenninger am Dienstagabend, den fünften August, in Ihrer Gaststätte aufgehalten hat«, antwortete Tiedemann. »Können Sie das bestätigen?«

Nachdenklich krempelte Lenz die Ärmel seines schwarzen Hemdes hoch. »Wäre schon möglich. Ich glaube, dieser Wenninger ist einer unserer Schmauchfreunde. Wir vermieten zweimal wöchentlich einen unserer Nebenräume an einen Pfeifenclub. Völlig legal, versteht sich.«

Malin und Tiedemann wechselten einen Blick.

Gregor Lenz schien die Doppeldeutigkeit seiner Worte ebenfalls aufzugehen, denn er schob eilig eine Erklärung hinterher. »Damit meinte ich natürlich, was das Rauchen in Gaststätten anbelangt!«

Tiedemann winkte ab. »Entspannen Sie sich. Wir sind von der Mordkommission, nicht vom Ordnungsamt. Also noch mal zurück zu besagtem Dienstag vor zwei Wochen. Ein Zeuge hat ausgesagt, Herr Wenninger sei an dem Abend auffallend betrunken gewesen.«

»Hier bei uns?« Der Wirt runzelte die Stirn. »Es gab da vor kurzem tatsächlich einen Vorfall. Was genau im Clubraum vorgegangen ist, kann ich Ihnen nicht sagen, nur, dass es dort sehr laut wurde. Möglicherweise war es sogar an dem Tag, von dem Sie sprechen. Ich frag mal meinen Koch.« Er öffnete die satinierte Schiebetür einer Durchreiche. »Friedhelm? Kommste mal?« Keine Antwort. »Ich seh mal nach, wo er steckt. Bin gleich wieder da.« Der Wirt verschwand durch die angrenzende Tür.

Malin lehnte sich an den Tresen. »Endlich tut sich was.«

»Abwarten«, entgegnete Tiedemann trocken. »Selbst wenn Wenninger an dem Abend hier war, muss das noch lange nichts bedeuten.«

»Du bist immer so verdammt sachlich«, entfuhr es Malin.

»Jetzt stell dir mal vor, ich wäre genauso betriebsam wie du«, konterte ihr Kollege.

Betriebsam? Sie verkniff sich eine Antwort und betrachtete Ole Tiedemann aus den Augenwinkeln. Heute wirkte er besonders blass, unter seinen Augen konnte man sogar das Schimmern der Adern erkennen. Ihr Kollege sah immer ein wenig kränklich aus und einmal mehr fiel Malin auf, dass sie im Grunde nichts von ihm wusste.

»Sag mal, Ole, wohnst du eigentlich mit jemandem zusammen?«, platzte es aus ihr heraus.

»Wie kommst du jetzt darauf?« Er schaute sie überrascht an.

»Na ja, solange Fred im Urlaub ist, sind wir ja mehr oder weniger Teampartner. Sollte man da nicht etwas besser übereinander Bescheid wissen?«

»Ich bin allein.« Tiedemanns Miene war ausdruckslos. Nach einigen Sekunden fügte er leise hinzu: »Es ist lange her, dass mich überhaupt jemand danach gefragt hat.«

Malin fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Sie wünschte, sie hätte einen besseren Zeitpunkt für ihre Frage gewählt.

Gregor Lenz hatte einen bulligen jungen Mann mit Kochschürze im Schlepptau, als er zurück in den Gastraum kam. »Das ist Friedhelm, mein Koch. Und das«, er wies auf die beiden Kriminalbeamten, »sind die Herrschaften von der Polizei. Bei unseren Schmauchfreunden ist es doch vor einiger Zeit etwas lauter zugegangen. Weißt du noch, ob der hier dabei war?« Der Wirt wies auf Wenningers Foto, das noch immer auf der Theke lag.

Der Koch nickte sofort. »War er. Ich bin ihm im Flur über den Weg gelaufen. Der war ziemlich besoffen.«

»Weißt du auch noch, an welchem Tag?«

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Dienstag, der fünfte August. Das war der Tag, an dem ich eigentlich frei hatte«, sagte er spitz.

»Haben Sie mitbekommen, worum es ging?«, mischte sich Malin ein, bevor Lenz auf den unüberhörbaren Vorwurf seines Kochs reagieren konnte.

Friedhelm schüttelte den Kopf. »Nein, nur dass der Alte total aufgebracht war. Ich glaube, er wollte gerade gehen.«

»Wissen Sie noch, wie spät es da war?«

»Muss kurz vor zwölf gewesen sein, ich war gerade mit dem Saubermachen fertig und wollte Feierabend machen. Mehr weiß ich aber auch nicht. Kann ich wieder in die Küche? Meine Sauce brennt sonst an.«

»Gehen Sie nur.« Tiedemann wandte sich wieder dem Wirt zu. »Haben Sie vielleicht ein paar Namen für uns?«

Lenz schüttelte den Kopf. »Ich führe hier keine Anwesenheitsliste, ich habe nur den Raum vermietet.«

»Und wer bezahlt die Miete?« Tiedemann steckte Wenningers Foto wieder ein und zückte sein Notizbuch.

Der Wirt dachte angestrengt nach. »Wie heißt der noch gleich … König, Kaiser, irgendwie so.«

»Irgendwie so?« Tiedemanns Miene wurde streng. »Für die Miete muss es doch Belege geben.«

»Da müsste ich erst nachsehen.« Gregor Lenz wurde rot. »Zu Hause.«

»In Ihrem eigenen Interesse wäre es besser, wenn Sie diese Belege finden würden.«

Lenz nickte. »Heute Abend findet übrigens auch ein Treffen der Schmauchfreunde statt. Um acht.«

»Wir kommen wieder.« Tiedemann warf dem Wirt einen finsteren Blick zu und drehte sich um.

Malin folgte ihm zum Dienstwagen. »Es gibt keine Belege.«

Ihr Kollege deutete ein Nicken an. Er schien etwas sagen zu wollen, doch er zögerte einen Moment. »Wegen deiner Frage vorhin, Malin … Mach dir keine Gedanken um mich. Ich halte Berufliches und Privates getrennt. Das ist besser so.« Bevor sie etwas erwidern konnte, stieg er in den Dienstwagen und startete den Motor.

Zwei Stunden später stand Malin vor Frickes klobigem Holzschreibtisch, einem Relikt seiner früheren Dienststelle, und sah ihren Vorgesetzten ungläubig an. »Das ist nicht dein Ernst, Chef!«

»Das ist mein völliger Ernst.« Fricke zog ein Salamisandwich aus einer Papiertüte und biss genüsslich hinein. »So gut solltest du mich mittlerweile kennen«, fügte er zwischen zwei Bissen hinzu.

»Aber, Chef.« Malin setzte sich unaufgefordert auf den durchgesessenen Besucherstuhl. »Vielleicht …«

Fricke unterbrach sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Nichts da. Ole und Sven übernehmen diesen Pfeifenclub. Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, mich um den Finger zu wickeln. Dein Undercover-Einsatz an der Corvinius Law School war das letzte Mal, dass dir das gelungen ist. Und wir wissen beide, wie das geendet hat.« Er nahm einen weiteren Bissen von seinem Sandwich und warf ihr einen scharfen Blick zu. »Ich erwarte, dass du dich an meine Anweisungen hältst.«

Malin hätte ihn gern darauf hingewiesen, dass sie mit ihrem verdeckten Einsatz damals den Ermittlungen entscheidend auf die Sprünge geholfen hatte, doch sie bemerkte gerade noch, wie sich Frickes Hals rosa verfärbte. Wenn die Farbe erst einmal bis ins Gesicht wanderte und ins Dunkelrote wechselte, wäre mit ihrem Chef nicht mehr gut Kirschen essen. Es lohnte sich nicht, ihn an diesem Punkt weiter zu reizen. Auch sie hatte dazugelernt.

»Außerdem habe ich für dich eine ganz andere Aufgabe.« Fricke griff nach der Serviette und wischte sich die verbliebenen Brotkrümel vom Mund. »Du hast doch in der Vergangenheit schon öfter dein Händchen für ältere Damen unter Beweis gestellt.«

»Hab ich?«, fragte Malin irritiert.

»Du wirst dich gleich morgen früh um Wenningers Schwester kümmern. Fühl ihr auf den Zahn. Ich will wissen, was es da für Feindseligkeiten zwischen ihr und ihrem Bruder gegeben hat. Frag sie auch nach diesem Michael Baumann. Konfrontiere sie mit dem Testament.«

Malin nickte. »Soll ich jemanden mitnehmen?«

Der Anflug eines Lächelns streifte Frickes Lippen. »Ich denke, das bekommst du genauso gut alleine hin.« Dann wurde sein Blick ernst. »Günther Peters von 412 geht Ende des Jahres in Ruhestand.«

Malin sah ihren Vorgesetzten fragend an. Was hatte sie mit dem Kollegen aus einem der anderen Ermittlungsteams zu tun?

Fricke räusperte sich. »Dein Teampartner hat mir vor seinem Urlaub mitgeteilt, dass er sich für Günthers Stelle beworben hat.« Er musterte Malin aus zusammengekniffenen Augen. »Weißt du etwas über Fredericks Gründe, Brodersen?«

Malin erstarrte. Er hatte es also tatsächlich getan. Sie dachte an den heftigen Streit mit Frederick Bartels während der Ermittlung vor zweieinhalb Monaten. Am Ende ihrer Auseinandersetzung hatte ihr Partner verkündet, das Team nach Abschluss des Falls zu verlassen. Das war vor acht Wochen gewesen.

»Brodersen?«

Malin schluckte. »Ich …« Sie biss sich auf die Lippe.

»Er hat dir nichts davon gesagt, oder?« Fricke strich sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Eine schöne Bescherung. Du solltest mit ihm reden, Brodersen. Ich hatte immer das Gefühl, ihr hättet einen besonderen Draht zueinander. Vielleicht lässt er sich von dir umstimmen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Am besten machst du jetzt Feierabend. Sortier deine Gedanken, triff dich mit deinem Freund. Du hast doch einen neuen Freund, oder?«

»Der Flurfunk funktioniert offenbar.« Malin erhob sich von ihrem Stuhl.

»Bis morgen, Brodersen«, brummte Fricke. Seine Augen blickten besorgt.

01. Februar 1979

Kein Baum, kein Strauch, kein Himmel. Andauernd nur tris­­te Wände und das stetige Summen der Neonröhre, deren grelles Licht sie langsam genauso in den Wahnsinn trieb wie das ewige Warten, dass endlich etwas geschah.

Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden, Stunden zu Tagen. Zumindest vermutete Rena, dass mehrere Tage vergangen waren, seit man sie im Morgengrauen in ihrer Wohnung aus dem Schlaf gerissen hatte. Wissen konnte sie es nicht.

Die Stille und die Einsamkeit waren das Schlimmste. Manchmal hörte sie Schritte vor der Tür oder das schmatzende Geräusch von Gummirädern, bevor ihr das Essen durch die Klappe gereicht wurde.

Rena erhob sich von ihrem Hocker und begann, den schmalen Raum abzulaufen. Sieben Schritte bis zur Tür, sieben Schritte zurück. Ihre Gedanken wanderten zu dem Augenblick, als man ihr die Augenbinde vom Kopf gerissen hatte. Scheinwerferlicht hatte sich wie Tausend kleine Nadelstiche in ihre Netzhaut gebrannt und sie hatte sich ohne Protest durch einen langen Flur zu einem hell erleuchteten Raum führen lassen.

Krampfhaft versuchte Rena die Erinnerung, was darin geschehen war, aus ihrem Gedächtnis zu drängen. Umdrehen. Ausziehen. Bücken. Jede Körperöffnung war genauestens untersucht worden.

Rena beschleunigte ihren Schritt. Sieben Schritte hin, sieben Schritte zurück. Was passierte hier? Warum half ihr keiner? Wo blieb Peter? Ihr wurde schwindelig und sie sank zurück auf den Hocker unter den Glasbausteinen. Stille umfing sie.

Ihr Puls raste. Ich drehe durch, dachte Rena. Sie atmete mehrfach tief durch und spürte, wie sich ihr Puls langsam wieder normalisierte. Ich muss mich zusammenreißen. Für Romy. Für meinen Mann.

Sie hatte Peter im Jugendclub kennengelernt. Damals war sie gerade sechzehn geworden. Noch am gleichen Abend hatte er sie geküsst und ihr gesagt, dass er sie eines Tages heiraten würde. Rena war regelrecht dahingeschmolzen und hatte sich wie in einem dieser Kitschromane gefühlt, die sie so gerne in der Badewanne las. Sie war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie und Peter füreinander bestimmt waren. Das war sie bis heute.

Rena hörte Schritte im Flur. Vor ihrer Tür hielten sie an. Sie wartete darauf, dass sie sich wieder entfernten, doch stattdessen wurde ein Schlüssel zweimal im Schloss gedreht. Dann wurde die Tür geöffnet.

Das Sandmann-Projekt

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