Читать книгу Todestag - Anna-Lina Köhler - Страница 10

Illusionen

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Es lag ein Flüstern in der Luft. Eine zischende Stimme legte sich über sie wie dichter Nebel. Es schien wie ein Fluch. Enago hielt seine Augen offen. Fast schon krampfhaft zuckten die Augäpfel in ihren Höhlen. Doch er durfte sie nicht schließen, die Angst trieb ihn vor sich her, ließ ihn wach bleiben. Wann der junge Mann zuletzt geschlafen hatte, wusste er nicht mehr. Er wusste nur, dass der Schlaf, der endlos finstere Abgrund einer anderen Welt, zu seinem Feind geworden war. Gab er sich dieser Dunkelheit hin, verlor er die Kontrolle über seinen Körper, über das letzte bisschen Verstand, das ihm geblieben war. War es nicht alles ein Traum? Ein langer nie endender Albtraum, den er durchlebte. Er war nicht viel mehr als eine Puppe. Seine Bewegungen schwach, sein Körper vollkommen steif und ausgelaugt. Er versuchte wachsam zu sein, versuchte die Stimme des Wahnsinns zu verbannen, wenn sie sich in seinem Kopf festfraß. Immer wieder kämpfte er dagegen an und immer wieder war er es, der verlor. Nachdem der Schatten es leid war, sie bloß zu rufen, ihre Namen zu wispern, hatte er nun damit begonnen sie des Nachts heimzusuchen. Er war wie ein Geist, eine Kreatur der Finsternis. Er konnte nach ihnen greifen, ihre schlimmsten Ängste fassen und sie erwecken und alles was ihn davon abhielt sie endgültig zu vernichten, war die Freude. Immer wenn Enago sich dem Schlaf hingegeben hatte, immer wenn er versuchte der zischenden Stimme in einer fremden Welt zu entfliehen, war die Bestie ihm gefolgt. Sie hatte ihm gezeigt, dass sie nicht nur in seinem Kopf allgegenwärtig war, sondern auch seine Träume beherrschte. Aus Träumen wurden Albträume und aus Schlaf wurde Wahnsinn. Und so oft er auch versuchte zu fliehen, es gab kein entkommen. Der Schatten gestaltete die Welt seines Unterbewusstseins nach seinen eigenen Vorstellungen und jedes Mal ertrank er im Blut. Die Hölle folgte ihm, die Erde ward der Platz der Toten und die Verbannten wandelten wieder unter den Lebenden. Es war eine Welt, die sich dem Todesritter in ihrer vollkommenden Grausamkeit offenbarte. Eine Welt, die nur dem Schatten und seinen Anhänger Platz bot.

Die Welt um ihn herum war ein schweigender Raum, sein Körper eine Zelle, in der er eingesperrt war. Seine Sinneswahrnehmungen wurden schwächer, seine Augen trübe. Er stand am Rand des Abgrunds, unter ihm die gähnende Leere, die klaffende Schlucht der Verlorenen. Er hätte sich das Herz mit eigenen Händen aus dem Leibe gerissen, wenn er gekonnt hätte. Doch seine Arme waren schwer, sein Körper begann seine Dienste zu verweigern, während ihm das letzte bisschen Verstand langsam entglitt. Enago fühlte die Leere, die seinen Körper aushöhlte, die unbeugsame Kälte, die sich in ihm einen neuen Platz zum Verweilen ausgesucht hatte. Es schien nichts mehr real, nichts mehr was wirklich. Sein Atem zeigte ihm, dass er noch am Leben war. Aber wie lange noch?

Plötzlich ging ein Beben durch seinen Körper und mit einem Ruck warf der junge Mann seinen Kopf in den Nacken. Alles um ihn herum begann zu verschwimmen, seine Umgebung verzerrte sich. Dann war alles schwarz. Enago schnappte nach Luft. Er wollte sich erheben, wollte nach seinem Schwert greifen. Er befahl seinen Gliedern zu reagieren, doch er war schon längst nicht mehr Herr seines Körpers. Seine Macht über ihn war groß, zu groß und der Todesritter konnte sich nicht erklären, wie er sie erlangen konnte. Die Bestie war ein Gefangener, sie war eingesperrt und dennoch war sie dazu in der Lage ihre Feinde erbarmungslos zu peinigen.

Ein grelles Licht flammte mit einem Mal auf und Enago kniff erschrocken die Augen zusammen. Alles um ihn herum wurde weiß, es war weiß und kalt. Er blickte auf und sah den Schnee, wie er in dicken grauen Flocken vom Himmel fiel. Seichtes Licht brach sich auf dem Boden, brachte ihn zum Funkeln. Es hätte beruhigend wirken könne, die Landschaft zu seinen Füßen hätte schon beinahe schön sein können, doch sie war es nicht. Sie trug kein unschuldiges Kleid, ganz im Gegenteil. Ein kleiner See stach aus dem schneebedeckten Feld hervor. Seicht schlug das klare Wasser seine Wellen. Es lag kein Wind in der Luft und genau diese Stille war es, die Enago nervös zu machen begann. Dieser Ort strahlte so viel Ruhe aus, doch der junge Mann wusste ganz genau, dass das alles hier ein bloßes Trugbild war, eine Illusion, die der Schatten erschuf, um das letzte bisschen Verstand aus ihm hinaus zu kitzeln. Es brauchte keine Waffe, keine Folter. Angst war es, das die Menschen stets zum Verzweifeln brachte. Etwas bewegte sich, er konnte es aus dem Augenwinkel sehen. Eine Gestalt, in einem wehenden weißen Kleid schritt von links langsam heran. Ihre Bewegungen waren leicht, ihr Gang anmutig. Langsam drehte der Todesritter den Kopf, sein Blick richtete sich auf die Gestalt. Es war, als ob die Höllenbestie Enago die Luft zum Atmen genommen hätte, er spürte, wie sich sein Innerstes verkrampfte. Hätte er schreien könne, er hätte es vermutlich getan. Blondes Haar fiel ihr locker über die Schultern. Sie hob den Kopf, blickte ihn aus ihren wasserblauen Augen an. Sie schienen so traurig, ihre Gesichtszüge so unglaublich betrübt. Seit Keira ihn verlassen hatte, hatte Enago nicht aufgehört an sie zu denken. Alles in ihm hatte sich nach ihr gesehnt, nach ihr verlangt. Wie sehr hatte er sich gewünscht, ihre weichen Lippen wieder auf seinen spüren zu können. Nun war sie da, stand nur wenige Meter von ihm entfernt. Sie war greifbar nah, doch wie sehr sich Enago auch gegen den Schatten zur Wehr setzte, es blieb ihm nicht vergönnt zu ihr zu eilen. Die schöne Seherin wandte den Kopf, sah ihn an und Enago glaubte den Anschein eines Lächelns auf ihren Zügen erkennen zu können. Plötzlich erstarb das Lächeln und Keira senkte den Blick – sein Flüstern lag in der Luft. Als ob die zischende Stimme der Kreatur die Seherin an Fäden führen würde, setzte diese sich wieder in Bewegung. Als ihre nackten Füße in das seichte Wasser eintauchten, färbten sich die Flocken rot. Blut tropfte in den See und es ward ein rotes Bad, das die Wanderseherin langsam ertränkte. Mit vor Schrecken geweiteten Augen musste Enago hilflos mit ansehen, wie sich das weiße Kleid seiner Geliebten langsam mit Lebenssaft vollsog. Einen Moment schwamm der leichte Stoff noch auf der Oberfläche, im nächsten Moment verschluckte der See es schön. Er verschluckte ihr Kleid, er würde sie mit sich nehmen. Keira stand bis zu den Schultern im Blut und Enago glaubte sie weinen zu hören. Das leise Schluchzen zerriss ihm das Herz. Doch er war verdammt, verdammt nichts zu tun, abzuwarten, gezwungen dem Schauspiel zu folgen. Als Keira ihn das nächste Mal anblickte, war ihr Gesicht das einer Leiche.

Das letzte, was Enago vernahm war der Schrei der Seherin und das gurgelnde Lachen, das aus der schwarzen Kehle drang. Ein lauter Schrei drang aus seinem Mund, er hatte sich wieder unter Kontrolle. Ruckartig fuhr er hoch. Er saß noch immer mit dem Rücken an der Höhlenwand. Leise fluchend umfasste er den Griff seiner Waffe, sie gab ihm Kraft und ein winziges bisschen Sicherheit. Dennoch, genau das war er nicht – sicher. Er hatte nicht geschlafen, hätte er wäre das Ausmaße des Albtraums weitaus schlimmer ausgefallen. Enago holte tief Luft und setzte sich aufrecht hin. Seine Augen trafen auf Lysia. Das Orakel der Surah saß auf ihrem Thron, ihre Augen waren weit geöffnet, doch ihr Gesicht war eine Maske, die nichts verriet. Anders als der Todesritter hatte sie damit begonnen Schutz in ihrer eigenen Welt zu suchen. Sie floh in ihre Gedanken, erschuf sich ein sicheres Plätzchen. Enago zweifelte stark daran, dass ihre Methode wirkungsvoller war, als die seine sich nicht dem Schlaf hinzugeben. Er spielte mit ihnen, er spielte mit ihren Verstand und es gab kein Entkommen. Die Bilder, die der Schatten ihnen zeigte waren nicht echt, das wusste er.

Ein bloßer Schein, ein Trugbild, eine Illusion – es war eine Lüge. Doch des Wahnsinns Schmerz war grausam echt.



Todestag

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