Читать книгу Todestag - Anna-Lina Köhler - Страница 8

Stillschweigen

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Sie saß in einem großen mit roten Polstern bezogenen Sessel und wartete. Es war seltsam hier zu sitzen, seltsam zu diejenigen, die so vor gar nicht allzu langer Zeit mit gewisser Ehrfurcht behandelt hatte, zu gehören. Eine Bedienstete hatte ihr die Tür geöffnet und sie herein gebeten. Sie hatte die riesige Eingangshalle durchquert und war in einen gemütlich aussehenden Raum geführt worden. Die Einrichtung war schlicht. Es standen vier von den großen Sesseln um einen etwas zu niedrigen Tisch aus weißem Marmor. Es gab einen offenen Kamin und obwohl es draußen warm war prasselte ein kleines Feuer darin. Der Teppich passte farblich zu den Polstern und besaß zusätzlich noch einen goldenen Rand, der sich in vielen verschnörkelten Linien über den ganzen Boden erstreckte. Die Wände waren nicht verziert worden und wirkten im Gegensatz zu dem Teppich schon fast trostlos. Ganz hinten an der Wand befand sich noch ein Schrank, dessen einfaches dunkelbraunes Holz in dem Raum schon nahezu fremd wirkte. Auf den Brettern waren hunderte Bücher ordentlich aufgestellt worden und schienen Keira mit ihren bunten Rücken freundlich anzulächeln. Gleich nachdem sie in den Raum geführt worden war, hatte die Dame sie in einen der Sessel platziert und war kurz verschwunden, nur um darauf mit einer großen Kanne Tee und zwei Tassen in der Hand wiederzukommen. Eine davon stellte sie auf den Tisch, die andere drückte sie Keira in die Hand und begann damit ihr etwas aus der Kanne einzugießen. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie warten musste und meinte, dass Ephyer sie, sobald es ihm möglich war, empfangen würde. Dann war sie auch schon wieder verschwunden und Keira war allein. Gedankenverloren nippte sie an der heißen Flüssigkeit und zuckte erschrocken zurück, als sie sich die Zunge verbrühte. Misstrauisch blickte sie auf die rote Flüssigkeit in der kostbar aussehenden Porzellantasse, dann stellte sie sie auf den Tisch und lehnte sich im Sessel zurück. Das weiche Polster verschlang ihren zierlichen Körper und mit einem Mal merkte sie, wie sehr die Anstrengungen des Kampfes an ihren Kräften gezerrt hatten. Nun war alles anders, hier war alles anders. Doch wusste die junge Seherin seltsamerweise nicht, weshalb sie nicht sagen konnte, welches Leben eine Entscheidung wert gewesen war. Sie war bei ihrem Orden, bei ihrer Familie, gehörte sie hier nicht hin? Aber was war schon Familie? Besaß dieses Wort eine einfache Bedeutung oder war es nicht ein vollkommen komplexer Sinn? Ihre wasserblauen Augen trafen auf die hellen Flammen im Kamin. Das tanzende Feuer fesselte ihren Blick, sie konnte sich ihm nicht mehr entziehen. Und ehe sie auch nur begreifen konnte, passierte es erneut. Die kleinen schwarzen Figuren tauchten in den Flammen auf. Sie bogen sich, sie tanzten – sie entführten sie in eine eigene Welt, in eine Welt der Visionen. Die Augen der jungen Frau weiteten sich. Das Feuer loderte nun nicht mehr in einmal hellen gelb, sondern besaß alle Farben des Regenbogens, die Keiras Seele langsam mit sich nahmen. Sie konnte sich nicht bewegen, konnte nichts dagegen tun und musste es einfach geschehen lassen. Ihr ganzer Körper kribbelte, doch es war kein angenehmes Kribbeln, es war die Boshaftigkeit, die Kälte, die sie langsam fraß. Wieder war alles gleich und wieder war sie gezwungen dieselbe Vision noch einmal sehen zu müssen. Sie stieg die Treppen hinab, hinab an einen Ort des Todes. Dann blickte sie auf den riesigen Platz mit den Spitzen Felsen, blickte die Wände hinauf und sah, dass hoch oben noch weitere Wege entlang führten. Doch sie schienen eng und boten keinerlei Halt, sodass jeder Schritt einen tiefen Fall zur Folge hatte. Es dauerte nicht lange und Keira spürte, wie sie die Finsternis erfasste. Vor ihr tat sich der Abgrund auf, eine Schlucht ohne Boden, eine Schlucht, die die Dunkelheit ausfüllte. Über der Brücke lag die Tür und der seichte Schein des blauen Lichts, vertrieb die Angst, die die junge Frau mittlerweile erfasst hatte, ein wenig. Keira war darauf gefasst, was sie als nächstes sehen würde, wusste was sie erwartete und seltsamerweise erfüllte es sie nicht nur mit Anspannung, sondern auch mit Neugier. Da war er wieder – der Gefangenen. Wieder sah sie bloß seine Zelle, mehr gab die Finsternis nicht frei und wieder saß er mit dem Rücken zu ihr, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Die Wanderseherin merke, wie sie sich nervös auf die Unterlippe biss. Jedes Mal, wenn sie ihre Vision auf ein Neues durchleben musste, wurde ihr ein weiteres Detail dieses grauenvollen Ortes offenbart, doch noch nie war sie so angespannt gewesen wie jetzt. Nun musste es passieren, er musste sich umdrehen, sie musste sein Gesicht sehen! Sie sah wie sich sein blutig weißes Hemd hob und senkte. Das blonde Haar hing in fettigen Strähnen über seinen Schultern hinab. Fast hätte sie ihn angeschrien, er solle sich ihr endlich offenbaren, doch da gab die Magie ihre Seele plötzlich wieder frei. „Nein!“ Keira schrie und warf sich nach vorne, so als ob sie es dadurch verhindern könnte, dass ihre Vision wieder verblasste. Die Wirklichkeit holte sie mit einem Schlag zurück und hätte Ephyer sie nicht aufgefangen, sie wäre hart auf dem Boden aufgeschlagen. Vorsichtig griff der Älteste ihr unter die Arme und hob sie zurück auf den gepolsterten Sessel. Die Wanderseherin war noch völlig benommen. Nur langsam erkannte sie Ephyer, nur langsam begriff sie, dass alles vorbei war. Sie atmete schwer, ihr Körper bebte. Plötzlich spürte sie etwas an ihren Lippen. Der Älteste hielt ihr die Porzellantasse an den Mund und Keira merkte, wie durstig sie war. Vorsichtig nahm sie einen Schluck, musste jedoch feststellen, dass der Tee mittlerweile eiskalt war. Währenddessen ihre Magie sie fest im Griff gehabt hatte, musste unwahrscheinlich viel Zeit verstrichen sein. Dennoch tat der kalte Tee unglaublich gut und sie nahm hastig noch einen weiteren Schluck, ehe Ephyer die Tasse wieder auf den Tisch stellte und sich selbst auf einen Sessel, ihr gegenüber setzte. Er musterte sie aus starren grauen Augen und die junge Frau merkte, wie sie sich unwohl zu fühlen begann. Verlegen strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wartet darauf, dass der Älteste das Wort ergriff. Es verweilte noch eine ganze Weile so. Vollkommen ruhig, die Hände gefaltet, den Blick starr auf sein Gegenüber gerichtet. „Ich hatte eine Vision…“, brach Keira schließlich das Schweigen. Ephyer nickte. „Ich weiß.“ Dann war es wieder still. Die junge Frau fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Es ist das erste Mal, dass ich solche Visionen habe. Ich meine, dass sich ein und dieselbe Vision immer wiederholt.“ Der Älteste lehnte sich in seinem Sessel zurück, gab ihr aber keine Antwort. Keira stutzte. Er wollte ihr keine Antwort geben. Stattdessen schien er nur darauf zu warten, dass sie sich ihm anvertraute. Ihre Worte schienen ihn nicht zu überraschen. „Meine Magie zeigt mir immer wieder den gleichen Ort“, fuhr sie zögernd fort. „Und noch etwas ist neu. Es ist diese Angst, eine Angst, wie ich sie noch nie zuvor spürte. Sie beginnt, wenn ich die Treppen hinabsteige.“ Die Wanderseherin entwand sich dem Blick des Ältesten und starrte auf ihr rotes Kleid. Auch wenn sie ihn nicht ansah, wusste sie, dass er ihr ganz genau zuhörte. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als sie von dem Ort erzählte, den sie in letzter Zeit immer wieder besuchen musste. „Die Treppen scheinen unendlich lang, führen mich tief in die Finsternis hinein. Ich weiß nicht, ob ich sie jemals vollständig hinabgestiegen bin. Das Bild verschwimmt zu schnell, meine Magie zeigt mir einen anderen Ort. Es ist ein gewaltiger Platz, auf dem hunderte Menschen stehen könnten. Ab und zu ragen Felsen aus dem Boden hervor. Sie scheinen regelrecht aus ihm hinauszuwachsen. Manchmal fürchte ich, ich könne mich an den spitzen Kanten verletzten, wenn ich sie auch nur zu lange ansehe. Wenn ich nach oben blicke, kann ich schmale Pfade erkennen. Ich weiß nicht, wo sie ihren Ursprung haben, kann nicht sagen, wofür sie gebaut wurden, aber umso öfter ich diesen Platz sehe, umso mehr erinnert er mich an etwas.“ „An was erinnert er dich?“ Keira hob den Kopf. „An ein Schlachtfeld.“ Sie beobachtete Ephyers Reaktion auf ihre Antwort, versuchte etwas in seinem Blick zu erkennen, doch es blieb alles regungslos. Sie holte tief Luft. „Nach dem Schlachtfeld sehe ich in den Abgrund. Ich weiß nicht ob er einen Boden besitzt, nach wenigen Metern verschluckt die Dunkelheit alles, was sich ihr nährt. Über den Abgrund führt eine Brücke, ohne Geländer, ein schmaler Streifen und er endet an einer finsteren Tür, die blaues Licht hinter sich im Verborgenen hält. Es hat keine Chance, das Böse regiert an diesem Ort.“ Sie wartete ab, starrte in die Flammen und zuckte erschrocken zurück, als sie befürchtete, sie könne erneut von einer Vision übermannt werden. „Was war noch dort?“ Ephyers Frage, kam aus der Ferne, war nicht mehr als ein Wispern in ihren Ohren, doch sie überraschte die junge Frau. „Seit kurzem sehe ich ein Gefängnis.“ „Ein Gefängnis, bist du dir sicher?“ Die Stimme des Ältesten verriet nichts, sie war vollkommen ruhig. Keira nickte langsam. „Ich sehe immer nur eine Zelle und einen Gefangenen, aber es ist ein Gefängnis, da bin ich mir sicher. Er ist nicht alleine, da sind noch mehr verdorbene Seelen, ich kann sie spüren.“ „Wen siehst du in der Zelle? Wer ist der Mann aus deiner Vision?“ Keiras Augen zuckten zu dem Ältesten hinüber. Sie glaubte eine Spur Neugier in seiner Stimme gehört zu haben. „Ich weiß es nicht. Er sitzt immer mit dem Rücken zu mir. Es scheint fast, als ob er mir sein Gesicht absichtlich nicht zeigen möchte. Dann, kurz bevor ich ihn sehe kann, kurz bevor er sich zu mir umdreht, endet die Vision. Ich habe erwartet, dass ich das nächste Mal in sein Gesicht blicken werde, dass er sich mir offenbart, aber ich habe mich geirrt. Nun hat die Magie meine Seele genau im gleichen Moment freigegeben, wie das letzte Mal.“ Sie hielt kurz inne, betrachtete das Flackern des Feuers auf ihrer Haut. Es war Schatten auf ihrem Handrücken, schien sie zurück in die Welt der Magie locken zu wollen. „Es ist fast so, als ob er sich absichtlich nicht zeigen möchte“, sagte sie leise. „Als ob mich etwas daran hindern würde ihn erkennen zu können.“ Keira verstummte und hob den Kopf, um Ephyer in die Augen blicken zu können. Sie hatte ihm alles erzählt und insgeheim hoffte sie einen Rat von ihm zu erhalten. Die junge Frau kannte niemanden, der so alt und weise war, wie er. Wie alt mochte er sein? Über welches Wissen mochte er verfügen? Der Blick des Ältesten verfolgte jede ihrer Bewegungen starr und ungerührt. Es war fast, als ob ihm Keiras Besuch gleichgültig war. Nein, das war es nicht. Es war etwas anderes, etwas, das die Seherin stutzig werden ließ. Ephyer mochte sie regungslos betrachteten, mochte kaum auf ihre Worte eingegangen sein, aber er hatte ihr auch still und aufmerksam zugehört. Der Älteste schien seine Neugier hinter einer Fassade zu verbergen, seine Emotionen und Gedanken zu Keiras Visionen verstecken. Aber er hörte ihr zu und der Ort von dem Keira gesprochen hatte, hatte gewiss auch ihm einen Schauer über den Rücken gejagt. Die junge Frau legte den Kopf auf die Seite. Etwas stimmte nicht. Ephyer benahm sich schon seit längerem seltsam. Seitdem sie mit ihm auf dem Friedhof der Seher, dem wunderschönen Platz des ewigen Seelenfriedens, hinter der rechten Brücke neben der Tür zu ihrer Welt gesprochen hatte, war ihr seine kühle und vor allem verschlossene Art merkwürdig erschienen. Damals hatte er sie gewarnt, er hatte sie vor der Todes Tochter gewarnt – vor Lia. Die Wanderseherin atmete einmal tief durch, dann erhob sie sich aus dem Sessel und ging langsam zur Tür. Hinter ihr blieb es still, der Seher machte keine Anstalten sich zu erheben und sie hinauszubegleiten. Er blickte ihr mit einem seichten Lächeln auf den Zügen hinterher. Doch Keira wusste ganz genau, dass das Lächeln kein Zeichen von Freundlichkeit sein sollte. Aus seiner Miene sprach Unruhe. Plötzlich drehte sie sich noch einmal um und ging einige Schritte auf den Ältesten zu. Dieser hob überrascht den Kopf. „Das ist noch etwas“, murmelte sie und ihre Augen funkelten dabei nervös im Licht. „Ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl, dass mir diese Vision etwas sagen möchte. Sie wiederholt sich ständig und das aus einem einzigen Grund – sie ist wichtig. Der Ort, dieser Platz des Todes, ist wichtig. Ich kann meine Magie nicht einfach ignorieren, ich muss herausfinden, was sie mir zeigen möchte!“ Nun erhob sich auch Ephyer aus dem Sessel und trat auf Keira zu. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und blickte ihr starr entgegen. Die junge Frau wollte sich dieser Geste entziehen, aber sie tat es nicht. „Magie ist unergründlich“, sagte er. „Manchmal hat sie ihren eigenen Willen. Mach dir keine Gedanken, meine Liebe. Die Visionen werden aufhören. Du bist jetzt wieder bei uns. Du bist eine der dreizehn und hast wichtigere Dinge zu tun, als dich mit solch grausamen Orten zu beschäftigen. Der blonde Mann soll dich dabei nicht von deiner Aufgabe, dem Schutz und der Erweiterung des Wissens, abhalten. Wenn er sich dir nicht zeigen will, dann wird das seine Gründe haben.“ Schließlich entließ er sie mit einem Lächeln. Als Keira hinaus in die Nacht trat, empfing sie das seichte Licht des Mondes, umarmte sie, schien ihr Trost spenden zu wollen. Doch auf der Haut der jungen Frau war ein unangenehmes Kribbeln erschienen. Sie spürte einen Stich tief in ihrem Inneren – sie misstraute Ephyer. Früher hätte sie sich dafür geschämt, so etwas auch nur zu denken, aber nun war sie sich sicher. Der Älteste hatte sie belogen. Er wusste viel mehr, als er zugab. Vielleicht sogar die Bedeutung ihrer Visionen, vielleicht kannte er den Ort, den sie nun schon so viele Male besuchen musste. Keira hatte ihm gegenüber nur von einem Gefangenen gesprochen, dass der Mann blond gewesen war, hatte sie gewiss nicht erwähnt. Der Älteste verbarg etwas, etwas Dunkles, das ahnte sie und sie war gewillt herauszufinden was. Sie fröstelte. Mit einem Mal erschien ihr dieser wunderbare Ort, die Welt der Conscii Mysteriorum nicht mehr sicher. Was war das für ein Ort, an dem man das Grauen verschwieg?



Todestag

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