Читать книгу Todestag - Anna-Lina Köhler - Страница 4

Visionen

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Es war kalt und finster. Kein Sonnenlicht drang an diesen Ort – niemals. Hier regierten Finsternis, Dunkelheit und das Böse. Dieser Platz gehörte nicht zu der Welt, die sie kannte. Dieser Platz beherbergte das absolute Grauen, das, was das Tageslicht nicht berühren sollte. Es gab einen Grund warum der Zugang zu diesem Ort stets unberührt blieb, denn hinter den Pforten befanden sich die Albträume jeder guten Seele. Sie brauchte nicht zu wissen, wo sie sich befand, sie wusste, dass sie sich umdrehen und die Flucht ergreifen musste. Sie tat es nicht. Stattdessen setzte sie ihren Fuß auf die erste Stufe einer langen Treppe. Sie bestand aus schwarzem Stein, glich ihrer Umgebung und führte in scheinbar bodenlose Tiefen. Die Treppe war gerade einmal so breit, dass sie darauf Platz fand. Es gab kein Geländer, nichts, das eine unvorsichtige Bewegung ungestraft ließ. Trotzdem ging sie weiter. Jeder Schritt war unsicher, jede Bewegung ungenau, ihr Körper zitterte. Es war die Angst, die sich langsam in ihrer Glieder fraß, sie zu beherrschen drohte. Ihre Schritte wurden immer schneller, immer hastiger stürmte sie die Stufen hinunter und plötzlich tauchte das Ende der Treppe vor ihr auf. Sie zog die Stirn kraus, setzte ihren Fuß auf den neuen Untergrund und blickte nach oben. In langen Spiralen bohrten sich die steinernen Stufen in die Tiefe und wurden schon bald von der Dunkelheit verschluckt. Es war ihr ein Rätsel, wie sie das Ende der Treppe so schnell hatte erreichen können. Der jungen Frau fiel es immer schwerer zu atmen. Die Luft roch noch Moder und Verwesung. Es lag der unverkennbare Geruch des Todes in der Luft. Sie hatte schon viel erlebt, schon vieles gesehen, doch an einem Ort wie diesem hier, war sie noch nie gewesen. Sie wollte es auch nicht sein, dennoch etwas zwang sie an diesem Platz zu verweilen. Es war fast, als ob sie keine Kontrolle mehr über ihren Körper besaß, ihr Willen nur noch als stummer Schrei in ihrem Innersten existierte. Sie war bloß noch eine fleischliche Hülle, in der die Magie wohnte, sie dazu zwang, diesen Ort zu besuchen und trotzdem vollkommen wehrlos zu sein. Ihre Glieder bewegten sich und sie sah, was sie sehen sollte. Die junge Frau ging um eine hohe Felswand herum, die ihr die Sicht versperrte. Der Weg wurde nun mit einem Mal breiter und erstreckte sich zu beiden Seiten, bis er auf eine finstere Wand traf. Ein gewaltiger Platz tat sich vor ihr auf. Die junge Frau blieb stehen und ihre wasserblauen Augen betrachteten das Bild, das sich ihr bot. Es war eine riesige gerade Fläche, auf der sich immer wieder kleine und große Felsen wiederfanden. Sie sprossen aus dem Boden und wirkten mit ihren spitzen Ecken genauso grob und düster wie der Rest des Ortes. Die junge Frau hob leicht das Kinn an und versuchte über den Platz weiter nach hinten zu sehen. Plötzlich verdichtete sich das Bild vor ihren Augen, es verschwamm regelrecht. Sie wollte sich einmal über die Augen reiben, um wieder klar sehen zu können, doch ihre Hand gehorchte ihr nicht. Ehe sie auch nur die Möglichkeit dazu hatte, in Panik zu geraten, stoppte das Flackern und sie blickte auf einen neuen Platz, der sich jedoch ohne Zweifel immer noch in dieser grausamen Welt befand. Die junge Frau drehte sich einmal um, doch hinter ihr tat sich nur der grimmige Schlund eines Ganges auf. Wie sie so urplötzlich den Ort gewechselt hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Langsam spürte sie, wie der kalte Schatten der Angst sich über ihre Seele legte. Sie wollte nicht hier sein, aber etwas brachte sie dazu zu bleiben. Vor ihr lag ein scheinbar bodenloser Abgrund. Es war ihr gerade einmal möglich, wenige Meter weit zu sehen, bevor die Finsternis alles verschluckte. Jedoch befand sich in der Mitte des Abgrundes eine kleine Brücke. Sie war gerade einmal so breit, wie die Treppe, die sie eben noch passiert hatte und besaß ebenfalls kein Geländer. Die Brücke aus dunklem Stein verlief gerade über den Abgrund, bis sie auf eine Felswand stieß, die vor ihr emporwuchs und sich in der Finsternis verlor. Die junge Frau kniff die Augen zusammen, doch schließlich erkannte sie eine Tür, vor der die Brücke hielt. Unscheinbar war sie in den Stein gehauen worden. Ein goldener Türknauf hob sich von der finsteren Oberfläche ab, stach regelrecht aus ihr hervor. Die junge Frau senkte den Kopf. Sie glaubt erkennen zu können, wie seichtes hellblaues Licht immer wieder versuchte unter der Tür hindurchzukriechen. Doch es gelang ihm nicht. Die Finsternis drängte es zurück, die Dunkelheit verschluckte es. Sie starrte noch eine Weile auf die Tür, unschlüssig und vielleicht auch ein wenig ängstlich. An diesem Ort konnte das Licht jeglichen Kampf nur verlieren. Sie drehte sich um, es drängte sie geradezu diesen unheimlichen Platz endlich verlassen zu können. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. Nicht, weil sie das gewollt hatte, sondern, weil sie nicht anders konnte. Unfähig sich zu bewegen, verschwamm die Umgebung vor ihren Augen, alles begann zu flackern und zu tanzen, bis sich das Bild lichtete und sie sich an einem neuen Platz befand, der jedoch ohne Zweifel auch zu diesem düsteren Ort gehörte. Sie befand sich in einem langen Gang, der sich zu beiden Seiten von ihr erstreckte und in der Dunkelheit verschwand. Er war bloß wenige Fuß breit und hinterließ ein beklemmendes Gefühl in der Seele der jungen Frau. Sie wandte den Kopf. Ein schwaches Licht, das von einer Fackel vor ihr ausging, schlug ein ungewohnt wirkendes Loch in die Dunkelheit. Doch so konnte die Frau erkennen, wo sie war. Es war ein Gefängnis. Der Pfad wurde von beiden Seiten von mehreren Zellen umgeben. Der dahinter liegende Raum war nicht besonders groß. Es waren kahle graue Wände nach oben gezogen worden und außer ein wenig Dreck befand sich nichts darin. Die Zelle wurde von vielen dicken Stäben verschlossen, die handbreit immer wieder von neuem aus dem Boden schossen. Das Merkwürdige war jedoch, dass es keine Tür oder Ähnliches gab, was den Raum hätte öffnen können. Aber wie war es möglich dann dort jemanden einzusperren? Ein plötzlicher Gedanke packte die junge Frau. Sie hielt den Atem an. Vielleicht waren diese Stäbe erst eingesetzt worden, nachdem sich ein Gefangener in dem Raum befand. Die Zellen dienten sicher nicht dazu jemanden hinein zu lassen, sondern waren dazu gedacht, ihre Beute nie mehr hinaus zu lassen. Noch während sie der Gedanke beschäftige, was es sein könnte, das hinter den dicken Eisenstäben festgehalten werden musste, entdeckte sie eine Gestalt im Inneren des Gefängnisses. Das Licht reichte gerade einmal wenige Meter weit, sodass die junge Frau bloß diese eine Zelle sehen konnte und ihr Insasse wurde schon fast wieder vom Schatten verborgen gehalten. Vorsichtig trat sie einen Schritt näher an die Stäbe heran. Er saß mit dem Rücken zu ihr. Es war ein Mann, daran bestand kein Zweifel, obwohl das schulterlange blonde Haar dagegen sprach. Dennoch, seine Statur passte nicht zu einer Frau. Der Gefangene trug eine schlichte braune Hose und ein vollkommen verschmutzest Hemd. Es war vielleicht einmal weiß gewesen, doch nun durchtränkte es getrocknetes Blut. Die Frau öffnete den Mund, wollte es schon wagen ihn zu rufen, als sie mit einem kräftigen Ruck plötzlich von ihren Füßen und aus ihrer Vision gerissen wurde. Als Keira die Augen aufschlug, lag sie auf dem Boden ihres Zimmers. Vor ihr knisterte das Feuer ruhig im Kamin. Stöhnend richtete sie sich auf und griff an ihren Kopf. Das lange Haar hing ihr wirr im Gesicht, doch sie strich es nicht zur Seite. Der Atem der Seherin rasselte immer noch. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte verzweifelt sich zu erinnern. Sie hatte am Kamin gesessen, Feuer entfacht, als die Flammen plötzlich hoch geschlagen waren und sie die kleinen schwarzen Figuren hatte tanzen sehen. Sie hatte eine Vision gehabt. Keira krabbelte ein Stück nach vorne und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Sie rieb sich mit der flachen Hand über die Augen. Visionen zehrten an ihrer Kraft, darüber war sie sich im Klaren. Es war nie leicht mit Magie umzugehen, alles hatte seinen Preis. Doch dieses Mal war es anders. Noch nie hatte sie sich so elendig gefühlt, nachdem sie wieder aufgewacht war und noch nie waren die Emotionen, die sie während einer Vision hatte, so spät abgeschwächt, hatten sie verfolgt. Immer noch zitterte die junge Frau, immer noch schien sie den Tod und das Böse riechen zu könne, das an diesem Ort zweifellos regiert hatte. Und es gab noch etwas, das sie mehr und mehr beunruhigte. Seit einigen Wochen schon, ein paar Tage, nachdem sie die Tiefen des Sees durchquert hatte und wieder bei ihrem Orden, den Conscii Mysteriorum, war, hatten die Visionen begonnen. Und es war immer die gleiche. Nur schien sie von Mal zu Mal länger zu werden. Erst war sie nur die Treppe hinabgestiegen, dann hatte sie den großen Platz mit den spitzen Felsen gesehen und schließlich hatte sie in den Abgrund geblickt. Das Gefängnis war neu gewesen. Während sich ihr Körper langsam wieder zu beruhigen begann, dachte sie an die Zelle und den Mann darin zurück. Sie wusste nicht warum, aber seine Gestalt löste Misstrauen in ihr aus und sie wünschte sich, er hätte ihr sein Gesicht gezeigt. Langsam erhob sich die schöne Frau, musste sich dabei jedoch immer noch an der Wand abstützen. Sie warf ihre langen blonden Haare nach hinten und setzte sich an den großen Tisch aus Stein. Sie war eine Wanderseherin und seit einiger Zeit auch ein ehrbares Mitglied der dreizehn wichtigsten Seher der Conscii Mysteriorum. Ihre Visionen hatten etwas zu bedeuten, davon war sie überzeugt. Erst recht, wenn sie sich ständig wiederholten, was auch für sie vollkommen neu war. Sie seufzte und griff sich unter den Ärmel. Vorsichtig zog die Seherin den kleinen silbernen Dolch mit den Drachenköpfen am Griff hervor. Es war eine kleine Waffe und dennoch war sie ihr die Liebste. Der Dolch hatte sie nie im Stich gelassen und dadurch, dass sie ihm im linken Ärmel aufbewahrte konnte sie ihn mit einer einzigen schnellen Bewegung sofort in ihre Handfläche gleiten lassen. Das sparte wenn nötig Zeit und konnte bei einem überraschenden Angriff über ihr Schicksal entscheiden. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Jedoch konnte sie nicht sagen, ob es traurigen oder fröhlichen Gefühlen entsprang. Wer sollte sie hier schon angreifen? Das böse gelangte niemals in die Welt ihres Ordens, das war nicht möglich. Sie lebten hier in völliger Sicherheit und selbst wenn das Böse in der Welt dort draußen, jenseits der fünf Brücken, außerhalb der Tür und des Sees auf ewig Fuß fassen sollte, würden sie hier immer noch unbeschadet weiter leben können. Ihr Orden hatte sich einer einzigen Sache verschrieben. Ihre Aufgabe war das gesamte magische Wissen zu schützen und zu erweitern. In ihrer Bibliothek lagerten Schätze, die unvorstellbare Macht bargen. Geschichten, aus längst vergangener Zeit. Keira erhob sich, ging die Treppe hinunter zu der Tür ihres Hauses mit den zehn Rubinen. Leya hatte hier gelebt, bevor sie vom Schatten während einer Versammlung grausam getötet worden war. Er hatte sie in ihren Gedanken gepeinigt, ihr jedes Tröpfchen Blut aus dem Körper gesaugt, die Organe aus ihr herausgerissen, wie es seine Züchtungen zu tun gepflegt hatten. Die junge Frau trat hinaus in die Nacht. Nun hatte sie ihren Platz eingenommen. Sie war eine der dreizehn geworden, weil sie sich von den anderen abgehoben hatte. Wanderseherin hatten üblicherweise grüne Augen. Wie von selbst musste sie an die Farbe ihrer Augen denken. Wasserblau. Die Seherin bog nach rechts ab und ging über den Pfad. Sie war sich sicher, dass ihre Visionen bedeutungsvoll sein mussten. Ephyer würde wissen, was zu tun war.



Todestag

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