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Des Zweifels Opfer

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Es war fast, als ob mit dem Wechsel der Jahreszeiten auch die Kälte in die Herzen der Menschen getragen worden war. Sie wussten nicht, woher sie kam, konnten den Ursprung ihrer schmerzenden Seele nicht ausmachen. Sie wusste nur, dass sie da war. Alles hatte mit diesem Mann begonnen. Er trug silbernes Haar und einen Bart, dennoch wirkte er keineswegs alt. Vielmehr erschien ihr weise, erschien er als ein Freund. Und diesem Freund hatten sie begonnen zuzuhören. Jeden Mittag stieg der Mann, der sich Aaron nannte, auf ein Podest im Zentrum der Stadt und jeden Mittag begann er zu ihnen zu sprechen. Zuerst hatten sie ihn kaum wahrgenommen, zuerst war er nicht mehr als ein merkwürdiger Fremder gewesen. Doch schließlich hatten sie damit begonnen ihm zuzuhören. Erst waren es wenige gewesen, doch von Tag zu Tag wuchs die Zahl der Menschen, die sich um ihn versammelten. Mit kalter Miene und ausdruckslosen Gesichtern nahmen sie seine Worte in sich auf. Und wenn auch zu Beginn Zweifel in ihnen aufgekeimt war, Aaron fing nun allmählich damit an ihn zu ersticken. Auch heute stand er wieder pünktlich auf seinem Podest. Es war mitten am Tag und dennoch hingen dichte Nebelschwaden über dem Land, die Sonne verlor den Kampf gegen die Trostlosigkeit. Es gab kaum noch jemanden, der nicht kam, um ihm zuzuhören. Seitdem die Kälte wie eine Seuche um sich gegriffen hatte, waren die Menschen froh, jemanden zu haben, dem sie lauschen konnten, der ihnen Hoffnung auf eine bessere Zukunft machte. Aarons Worte spendeten Trost und sie gaben ihnen etwas, woran sie sich klammern konnten. Denn wie oft hatten sie schon zu Surah gebetet? Wie oft hatten sie um Gnade für die sterbenden Kinder gefleht? Nie hatte sie ihnen geantwortet und mit der Zeit wuchs auch die Abneigung gegen die Göttin. Nun gab es etwas, das ihnen neue Versprechen machte, etwas das den Platz der Göttin einnahm. Der Mann war ihr Freund, er erzählte ihnen keine Lügen. Er war ein Abgesandter einer mächtigen Gestalt, einer Gestalt die ihnen Frieden versprach, Wohlstand und ewiges Leben, wenn sie ihm nur nach seinen Vorstellungen dienten. Vielleicht war es absurd zu glauben, eine Kreatur, könne die Macht der Surah einfach so überbieten, jedoch hatten die Menschen schon vieles über sie gehört. Überall im Land, vielleicht sogar verstreut auf der gesamten Erde, befanden sich seine Boten, seine Diener und überbrachten seine Nachricht an die Menschen. Und die Bürger kamen nicht auf die Idee zu fragen. Sie wollten bloß zuhören und vergaßen dabei vollkommen, dass sie erst ihrem Verstand und dann ihrer Seele beraubt wurden. „Ein Leben voller Sorgen“, begann Aaron und augenblicklich verstummten jegliche Stimmen auf dem Platz. Er war vollkommen überfüllt. Die Menschen drängten sich dich aneinander und selbst der Wind schien für seine Worte zu verstummen. „Sie plagen uns wie Krankheiten, rauben uns den Schlaf. Ein viel zu kurzes Leben, um all die Sorgen ertragen zu können, die uns jeden Tag verfolgen.“ Die Augen der Menschen fixierten den Mann, beobachteten jede Bewegung ihres Freundes, nahmen jedes Wort in sich auf. Fast erinnerten sie an Marionetten. „Dabei gibt es andere Dinge, für die es sich zu leben lohnt. Warum die Seele mit Problemen belasten? Warum sich dem aussetzten? Bisher hattet ihr keine andere Wahl, ihr braven Bürger dieser Stadt. Ihr habt eure Pflichten getan. Ihr konntet nicht anders, musstet euch um eure Existenz, die Existenz eurer Familie kümmern. Aber seid ihr das nicht langsam leid? Sehnt ihr euch nicht nach etwas Ruhe – einem sorgenfreien Leben?“ Erwartungsvoll blickte er die Menschen um sich herum an, er erwartete keine Antwort, wollte nur, dass sie etwas darüber nachdachten. Aaron fuhr sich mit der flachen Hand durch das Haar. Dabei streifte er sein Ohr. Als er die Hand wieder wegzog, glänzten seine Finger rot. Das Blut an seinem Ohr war noch nicht vollkommen eingetrocknet. Er wischte die Hand an seinem Umhang ab ehe er fort fuhr. Diese Menschen hingen an seinen Lippen. Er war wie ein Priester, ein Geistlicher, der eine neue Religion verbreitete und sie würden die Kirche nicht eher verlassen, bis er ihnen das Zeichen dazu gab. „Der Schatten bietet uns solch ein Leben an und verlangt im Gegenzug nichts dafür außer unseren treuen Diensten. Er bietet uns ein Leben im Wohlstand und nicht nur das. Unser Meister verlangt für jeden von uns die Unsterblichkeit und fordert sogar die Göttin selbst heraus. Denn er versteht nicht, warum es uns nicht vergönnt ist, in der Ewigkeit zu leben. Der Preis, den wir dafür zahlen müssen, ist im Gegensatz dazu, was wir bekommen, mehr als geringfügig. Ich bin zum Schattendiener geworden. Ein Bote meines Meisters und er belohnt mich dafür. Werdet zu seinen Dienern und auch ihr werdet euch in seiner Großmütigkeit sonnen können.“ „Schwachsinn ist das!“ Aaron brach abrupt ab und hob erstaunt den Kopf. Noch nie war es bisher vorgekommen, dass ihn einer der Bürger, während einer Rede unterbrochen hatte. Seine Augen fixierten einen alten gebrechlichen Mann, der sich nun langsam einen Weg durch die Menge bahnte. „Ich sage hört nicht auf diesen Lügnern.“ Er hob den Finger und zeigte damit auf Aaron, während er immer näher kam. Aaron jedoch blieb ruhig. Er setzte ein spitzes Lächeln auf. Irgendwann hatte es kommen müssen und eigentlich war er auch ganz froh darüber. Nun würden die Menschen sehen, was es hieß sich gegen den Schatten zu erheben und sie würden vor Angst erzittern und ihre Seelen freiwillig an die Finsternis verkaufen. Der alte Mann stand nur direkt vor Aaron. „Verschwindet aus unserer Stadt und nehmt eure hinterhältigen Worte mit euch.“ Er sprach gerade so laut, dass jeder auf dem Platz ihn gut verstehen konnte. „Beruhigt euch, mein Freund.“ Aaron hob beschwichtigend die Hand, doch der Alte funkelte ihn aus starren grünen Augen böse an. „Ihr erzählt uns jeden Tag irgendwelche Geschichten, für die ihr keinerlei Beweise habt und das Schlimme ist die einfältigen Bürger hier fangen damit an, euch mehr und mehr Glauben zu schenken.“ „Aber ich sage es ist Unfug!“ Der alte Mann drehte Aaron den Rücken zu und riss beide Arme in die Luft. „Wollt ihr wirklich einfach so einem völlig Fremden vertrauen, der einfach in unsere friedliche Stadt spaziert kommt und uns dazu bringen möchte jemanden zu dienen, dessen Name alleine mein Herz gefrieren lässt. Habt ihr es denn nicht gespürt? Diese Kälte, eure Seelen sind in Gefahr meine lieben Mitbürger. Also lasst uns diesen Tunichtgut so schnell wie möglich loswerden.“ Die Menschen begannen plötzlich damit aufgeregt zu tuscheln. Ab und zu rief jemand etwas dazwischen. Manche verlangten danach, dass der Alte endlich verschwinden sollte, andere jedoch runzelten die Stirn und fingen an über seine Worte nachzudenken. Denkende war es, was Aaron keines Falls gebrauchen konnte. Die Menschen mussten ihm blind vertrauen und sich möglichst leichtfertig an seinen Meister verkaufen. Schließlich packte er den alten Mann an den Schultern und zog ihn zu sich auf das Podest. Der Alte war davon so überrascht, dass er kurz innehielt. „Du glaubst also wirklich meine Worte seien Lügen? Du strafst mich mein Lieber, denn auch dich hätte der Schatten in Ehren in seine Reihen aufgenommen.“ Ein perfides Grinsen erschien auf seinen Lippen und plötzlich begann es dem alten Mann zu dämmern, dass er gerade einen großen Fehler begangen hatte. Aaron holte tief Luft und schloss für einen winzigen Moment die Augen. Inständig hoffte er, dass sein Herr ihm beistehen würde, denn die Bürger hatten an Vertrauen verloren und das galt es nun durch Angst zu erneuern. Wenn es ihm nicht gelang, dann würde er es sein, den die Menge am Ende zerfleischte. „Nun meine Freunde“, sprach Aaron und jeder auf dem Platz konnte augenblicklich erkennen, dass eine gewisse Bedrohlichkeit in seiner Stimme mitschwang. Stille trat ein. „In unserer neuen Welt, die unser Meister mit uns zusammen aufbauen wird, gibt es keinen Platz für Zweifler. Jeder erhält bloß eine Chance, nur eine.“ Aus dem Augenwinkel konnte er erkenne, wie der alte Mann hastig verschwinden wollte. Er schien seine unbedachten Worte zu bereuen, schien zu wissen, dass es seine letzten gewesen waren – doch es war zu spät. Aaron konnte die Anwesenheit des Schattens spüren, konnte sein grauenvolles Flüstern mit dem Wind kommen hören. Die Bewegungen des Alten wurden steif und es dauerte nur einen kurzen Moment, ein Wimpernschlag, dann hatte er die Kontrolle über sich verloren. Aaron sog scharf die Luft ein, als die Stimme seines Meisters immer lauter zu werden begann. Für die Menschen auf dem Platz war sie nicht mehr als ein abscheuliches Flüstern. Aber er, derjenige, der dieser grauenvollen Stimme Stunden ausgeliefert worden war, von ihr gepeinigt wurde, zuckte heftig zusammen, als er sich der Schmerzen erinnerte. Die Schmerzen, die sich durch sein Gehör gefressen hatte, immer weiter, immer weiter … Der alte Mann gab ein Röcheln von sich. Er riss den Kopf nach oben und starrte mit vor Entsetzten geweiteten Augen in den grauen trostlosen Himmel. Plötzlich entfuhr ein gequälter Schrei seiner Kehle. Seine Mitbürger starrten mit offenen Mündern zu ihm hinauf, wussten noch nicht genau zu sagen, was dort oben vor sich ging. Wieder ein Röcheln, doch dieses Mal drang auch ein Schwall Blut aus seinem Mund hervor. Die Menge keuchte erschrocken auf, als es ihm über das Kinn lief, von dort auf den Boden tropfte. Zwar war es das erste Mal, dass Aaron eine solche Hinrichtung miterlebte, dennoch zweifelte er keinen Augenblick daran, dass er alles tun würde, um einem solchen Schicksal zu entfliehen. Der Alte begann zu wimmern. Er presste sich seine Hände verzweifelt auf die Ohren, während sein Kopf, sein Körper wie von Sinnen zu zucken begann. Plötzlich brach der Mann zusammen. Wild schreiend und um die Kontrolle seines Körpers ringend, lag er auf dem Boden. Die Menschen um ihn herum reckten die Köpfe, versuchten einen Blick auf das grausige Schauspiel erhaschen zu können, manch andere jedoch traten mit gesenkten Köpfen einige Schritte zurück. Keiner von ihnen machte Anstalten dem Alten zur Hilfe eilen zu wollen. Mit einem Mal erstarrte der alte Mann in seinen Bewegungen und streckte krampfhaft alle Gliedmaßen von sich. Aus seinem Mund kam nur noch ein leises Gurgeln. Plötzlich sprangen die Bürger in der vordersten Reihe zurück. Panik begann sich unter denjenigen breit zu machen, die immer noch sehen konnten, was mit dem alten Mann geschah. Aus den Augen des Unglückseeligen quoll Blut hervor. Es zwang sich unter den Liedern hindurch, färbte sein Gesicht. Immer mehr Lebenssaft drang aus seinen Augen hervor und wenig später aus seinem Mund. Noch ein letztes Mal drang ein solch abscheulicher Schrei aus seinem Rachen, dass sich viele erschrocken die Hände auf die Ohren pressten. In unvorstellbaren Mengen wurde der rote Lebenssaft aus dem Körper des Mannes gepresst. Aaron machte einige Schritte zur Seite, als das Blut auf ihn zu gekrochen kam. Er wollte es unter keinen Umständen berühren. Der Unglückselige war mittlerweile nur noch ein Teil seiner selbst. Seine faltigen, vertrockneten Überreste klebten auf dem Podest. Er war geradezu ausgesaugt worden. Nachdem Aaron vollkommen sicher war, dass der Mann tot war und der Schatten sich zurückgezogen hatte, richtete er sich auf. Sein Gesicht war eine Maske. Keinesfalls durfte er nun Gefühle zeigen. Er hatte die Bürger genau da, wo er sie haben wollte. „Seht ihr, was mit Ungläubigen passiert?“, schrie er und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die übriggebliebenen Hautfetzten. „Seht, was mit denjenigen passiert, die den Schattendiener Lüge strafen wollen. Wir alle werden ihm folgen, denn aus der Hölle stieg er empor.“



Todestag

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