Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 13

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Die kleine Pendeluhr unten im Wohnzimmer schlug halb. Seit vier Uhr morgens schon lag Bremer wach und wartete auf das erste Gurgeln und Röcheln von Gottfrieds preisgekrönten Zwergwyandottenhähnen. Entweder war der Rotwein schuld. Oder es hing, wie er insgeheim fürchtete, mit dem Älterwerden zusammen. Man vertrug nichts mehr – weder Alkohol noch gutes Essen, konnte nicht mehr schlafen und wurde grau und grämlich.

Paul hing der Albtraum noch in den Knochen, der ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, schweißnaß war er aufgewacht, mit rasendem Herz. An Details erinnerte er sich nicht, an die Art des Schreckens nur vage: irgend etwas aus alten Zeiten, wahrscheinlich Sibylle, womöglich das frühere Leben. Zur Strafe für die Vergangenheit lag er nun wach und fürchtete sich vor der Zukunft.

Wer mitten in einer gepflegten Karriere den radikalen Bruch vollzieht, hat zwar die öffentliche Meinung auf seiner Seite, die nichts schicker findet als Männer in der Midlife-crisis, die beschließen, ihr Leben zu ändern. Aber die Lebenswirklichkeit war weniger romantisch. Als er sich vor fünf Jahren von seinem gutbezahlten Job in einer Frankfurter Kommunikationsagentur verabschiedete (man spricht ja heutzutage nicht mehr von Werbung), hatte er genug zurückgelegt, um sich zwei Jahre über Wasser zu halten. Aber nach zwei Jahren angeblich das Nachdenken fördernder Idylle auf dem Land hatte er sich selbst die Frist verlängert. Und wieder verlängert. Sich mit Berateraufträgen in der Stadt Bedenkzeit finanziert. Und auf die Eingebung gewartet: Was tun mit einem Leben wie dem seinen – viel erfahren und wenig erlebt? Sein »Enthüllungsbuch« über die Werbebranche war fast fertig – das gehörte ja wohl zu einem ordentlichen Abschied dazu. Aber üppig fließende Tantiemen versprach er sich davon nicht.

»I’m a loser«, sang er leise vor sich hin und stieg aus dem Bett, bevor er sich allzusehr als gescheiterte Existenz bemitleiden konnte. Komisch, dachte er, als er sich angezogen und in der Küche zu schaffen gemacht hatte, wie gut ein ganz banaler Alltag wirkt gegen Wehwehchen aller Art. Nichts ist beruhigender als, zum Beispiel, Abwaschen. Das bißchen von gestern abend. Dann den Rest von der Suppe mit den bunten Bohnen einfrieren, die er sich gestern gemacht hatte. Die leeren Katzendosen ausspülen (aus Solidarität mit den Müllsortierern) und zur Recyclingmülltonne bringen, die Gemüseabfälle auf den Kompost werfen. Die ausgelesenen Zeitungen in den überfüllten Papiereimer stopfen, die ausgeleerten Flaschen zum Wegbringen bereitstellen. Einmal durch den Flur fegen und die Küche feucht aufwischen.

Nach diesem Programm war Bremer hellwach und nicht bester, aber wenigstens besserer Laune. Draußen war es für die Jahreszeit entschieden zu kalt, glitzernder Tau lag auf den windschiefen Rosenkohlpflanzen und den gelben Zucchiniblüten, die sich schon halb entfaltet hatten. Aus dem Schornstein im Nachbarhaus gegenüber quoll eine schwarze Rauchwolke: Marianne heizte den Küchenofen an. Immerhin schien es ein sonniger Tag zu werden – am Morgenhimmel hinter dem Nachbarhaus sah er einen rosigen Widerschein. In diesem Licht hatten die Herbstfarben seines Gartens einen besonderen Zauber: die zarte Nachblüte seiner rosaroten Strauchrosen ergänzte das dunkle Karmesinrot der Clematis, die sich über den Zaun hinter der Sitzecke gelegt hatte, und das stumpfe Rotbraun der riesigen Büschel der Fetthenne, die sich vor den Rosen ausfächerten. »Herbstfreude« hieß diese Sorte, die er mindestens so schön fand wie die schon etwas verblichenen Samthortensien im Beet rechts von der Haustür. Hortensien, hatte ein gärtnernder Schriftsteller mal behauptet, verblühten so, wie manche Frauen älter würden: Ihre riesigen bläulichroten Tellerblüten nähmen unmerklich sanftere Farben an und verlören die Prallheit der Jugend, blieben aber bezaubernd, bis der Frost sie von den Stengeln knickte. »Na ja«, dachte Paul. »Hier spricht der Dichter.«

Ziemlich früh, sogar für seine Verhältnisse, warf er sich heute in die Fahrradklamotten und aufs Rad. Eine mäßig harte Tour vertrieb ziemlich unfehlbar auch die allerschwärzesten Spinnweben nächtlicher Albträume.

Danach: an den Schreibtisch. Wie immer.

Am späten Nachmittag, als Bremer das erste Mal mit echtem Interesse an so etwas wie ein Abendessen dachte, hatte sich ein neuer Ton in das Gemurmel und Geplätscher geschlichen, das von draußen an sein Ohr drang. Irgendwer stand immer auf der Dorfstraße und schwätzte: Marianne mit Gottfried, Alfred mit jedem, der sich nicht wehrte, Bauer Knöß mit Erwin, die alte Martha mit Willi, Mariannes Mann. Bremer hatte sich längst daran gewöhnt – er hatte mittlerweile sogar das Gefühl, daß ihn dieses Hintergrundgeräusch geradezu beflügelte bei der Arbeit. Manche brauchten die Szenekneipe oder das Café als akustische Kulisse für ihre geistigen Prozesse. Ihm genügte, vielen Dank, die Dorfstraße.

Doch jetzt war das gemütliche Geplauder entgeisterten Ausrufen gewichen. Bremer speicherte ab, klappte sein Notebook zu und öffnete das Fenster seines Arbeitszimmers im ersten Stock, das auf die Dorfstraße hinausging.

»Mord«, sagte Gottfried, den Paul, aus dem Fenster gelehnt, fragend ansah. »Mord«, wiederholte Marianne, fast andächtig.

»Wer?« fragte er. »Wo?«

»Bei Ebersgrund.« Der Nachbarort war vier Kilometer entfernt. »Im Weiherhof.«

Paul fühlte, wie er blaß wurde. »Anne!«

Marianne guckte ihn neugierig an und schüttelte den Kopf. »Die nicht«, sagte sie mit boshaftem Bedauern. »Die nicht.«

Anne? dachte Paul hilflos.

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