Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 20

10

Оглавление

Als Bremer den Motor abgestellt hatte, kam ihm mit wehenden Ohren der rote Setter entgegen, der für die Freundlichkeiten zuständige Hund vom Weiherhof. Der Hund für die nötigen Unfreundlichkeiten bellte – völlig korrekt, dachte Paul. Er fand Anne im Gastraum hinter der Theke, dort, wo sie ihren Feriengästen Apfelwein und Ökobier ausschenkte. Sie blätterte mit gerunzelter Stirn in ihrem Auftragsbuch und sah erst auf, als er fast vor ihr stand. Paul bildete sich ein, daß sie sich über seinen Besuch freute. Wenigstens ein bißchen.

Sollte er »herzliches Beileid« sagen? Seine Generation hatte diese Worte als floskelhafte Höflichkeit aus dem Sprachschatz gestrichen und für Ersatz nicht gesorgt. Ihm wäre eine gute, alte, bewährte Floskel gerade recht gekommen, um die Verlegenheit zu überbrücken, die zwischen ihnen stand.

»Es tut mir leid«, brachte er schließlich heraus. Sie nickte und legte das Auftragsbuch beiseite.

»Willst du dich setzen? Ein Bier?«

Paul schüttelte den Kopf. Sie wirkte trotzig, nicht traurig.

»Ich mach hier nicht die Trauernummer«, sagte sie und warf den dicken grauen Hofkater vom Stuhl, bevor sie sich setzte. Und brach im selben Moment in Tränen aus.

Keine Trauernummer, dachte Paul und legte ungeschickt den Arm um sie. Aha.

Als sie sich beruhigt und kräftig ins Taschentuch geschneuzt hatte, das er ihr hinhielt, ging er selbst zum Zapfhahn und zapfte zwei Bier.

»Erzähl«, sagte er, als er ihres vor sie hinstellte. Sie sah blaß aus, wie sie da in Leggings, kariertem Hemd und Sandalen am Tisch saß – ganz schön mitgenommen, dachte Paul. Und ihre Brille könnte mal wieder geputzt werden. Sie hatte heute sicher nicht zum ersten Mal geweint. Das gab ihm einen kleinen, eifersüchtigen Stich: Sie mußte ihren Mann geliebt haben. Mehr, als er geglaubt hatte.

Doch ihre Kälte überraschte ihn. »Ich wünschte, er hätte sich nie hier blicken lassen«, verkündete Anne bitter. »Ich wünschte, ich hätte ihn nie wiedergesehen.«

»Leo?« fragte Paul.

»Leo Matern. Mein Mann. Mein sogenannter Mann. Der Grund, warum ich in diesem gottverlassenen Landstrich gelandet bin.« Anne nahm einen großen Schluck aus dem Bierglas und strich sich die verstrubbelten blonden Haare hinter die Ohren. »Er war ja kaum vorhanden die letzten fünf Jahre. Aber ausgerechnet hier läßt er sich auf bestialische Weise umbringen. Ausgerechnet.«

Ich finde sie auch in verheultem Zustand noch schön, dachte Paul und versuchte zu begreifen, was sie ihm da erzählte.

»Was hattet ihr denn«, fragte er unbeholfen, »für eine Beziehung?«

»Beziehung?« fragte Anne zurück und verzog das Gesicht. »Er kam, wann er wollte. Meist unangemeldet. Und ging wieder, wann immer es ihm paßte.«

»Und das hast du dir gefallen lassen?«

Anne zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Eine Ehe war das schon lange nicht mehr.«

»Und – warum habt ihr euch nicht scheiden lassen?«

Anne machte eine wegwerfende Handbewegung, als ob sich sogar das nicht gelohnt hätte.

»Und Rena?.

»Sie konnte Leo nicht ausstehen.«

»Den eigenen Vater?«

Anne schüttelte den Kopf. »Als Leo kam, gab es Rena längst. Und die hatte sich an ein Leben ohne Vater ziemlich gewöhnt.«

»Und wann hattet ihr mal eine Ehe, Leo und du – vorher? In Kiel?« fragte Paul leise.

»Ach, um Himmels willen«, sagte Anne, schob ihren Stuhl geräuschvoll nach hinten und stand auf. »Jetzt hat sich das auch hier schon herumgesprochen.«

Holte die Vergangenheit sie denn immer wieder ein? Anne war wütend – auch auf den Mann, dem sie eben noch heulend an der Brust gelegen hatte. Der sie in einem schwachen Moment erwischt hatte. Und dem sie gerade beinahe die ganze elendige Geschichte erzählt hätte. Du bist zu vertrauensselig, wies sie sich zurecht und ging zum Kühlschrank. Sie spürte, wie Paul ihr traurig hinterhersah. Das machte sie noch wütender. Ich kann nicht, dachte sie. Ich kann einfach nicht.

Anne stellte einen Teller mit Lammsalami und eingelegten Gurken auf den Tisch. »Noch ein Bier?« fragte sie Paul, ohne ihn anzusehen.

»Ja«, sagte er genauso wortkarg. Irgendwie war es ihm offenbar schon wieder gelungen, das bißchen Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachte, zunichte zu machen. Oder war sie es, die zu Vertrauen gar nicht in der Lage war?

Anne hielt ein frisches Glas unter den Zapfhahn und holte tief Luft. »Kiel ist Vergangenheit, Paul«, sagte sie. Wenigstens sah sie ihn jetzt wieder an. »Daran will ich nicht denken, daran will ich nicht erinnert werden. Ich habe damit gebrochen, vollständig, ganz und gar.« Ihre Stimme zitterte. Sie wollte darüber nicht reden, verdammt noch mal.

»Ich habe meinen Preis gezahlt. Das kannst du mir glauben.«

Anne stellte das Bier auf den Tisch und setzte sich. Keiner von beiden aß. Es gab irgendwie nichts, was ihm Appetit machen könnte, dachte Paul.

»So, und jetzt Schluß damit.« Anne hielt das betretene Schweigen nicht mehr aus und stand auf.

»Kommst du mit?«

Was bleibt mir anderes übrig? dachte Paul, als sie sich Jacke und Gummistiefel anzog. Ich weiß doch schließlich selbst, wann nichts mehr geht. Erfahrungen mit gescheiterter Kommunikation hatte er genug. Annes Abwehr machte ihn müde.

Er versuchte, beim Gang über den Hof, ihr von sich zu erzählen. Als vertrauensbildende Maßnahme sozusagen. Er hatte nicht das Gefühl, daß es sie wirklich interessierte.

Glucksend lief ihnen vor der großen Reithalle eine Schar von aufgeregten Truthähnen entgegen – kollernd, dachte Paul, das war tatsächlich das einzige Wort, das das Geräusch beschrieb, das diese seltsamen Tiere von sich gaben. Er merkte, wie Anne neben ihm ruhiger wurde. »Ich liebe diesen Hof«, sagte sie leise. Paul war überrascht. Hatte sie nicht eben noch auf diese gottverlassene Gegend geflucht?

»Manchmal hilft nur Arbeit«, sagte sie und streichelte einen schönen weißen Ziegenbock, der in einem Freigehege rechter Hand stand und mit seinen seltsamen Augen melancholisch über das Gatter blickte. »Still, Dagobert«, sagte sie zu dem schwarzen Kettenhund, der bei ihrem Anblick leise zu heulen begann und dabei Paul mißtrauisch beäugte. Paul tat das Tier leid.

Sammy, der rote Setter, der seine Rolle als verwöhntes Schmusetier sichtlich genoß, wedelte aufreizend mit dem schönen Schweif und drehte sich kokett im Kreise, als ob er dem anderen vorführen wollte, wie das wirkliche Leben aussieht. »Der eine tut die Arbeit, und der andere amüsiert sich«, sagte Paul zu Anne. »Findest du das etwa in Ordnung?«

»So ist das Leben«, antwortete sie und zuckte mit den Schultern. »Kennst du das anders?« Sie sah ihn mit freundlichem Spott an und legte ihm die Hand auf den Arm. »Komm, Paul, sei nicht eingeschnappt. Gespräche übers Wetter sind erlaubt.«

Aus den Stallungen vor der großen Reithalle wehte ihnen der warme Duft von Heu, Hafer, Pferdeäpfeln und atmenden Tierleibern entgegen. Anne nahm drei Äpfel aus einem Eimer, der vor der Stalltür stand, und steckte sie sich in die Jackentasche. Drinnen mahlten die Pferdegebisse, Schweife schlugen nach Fliegen, zufriedene Tiere grunzten. Anne tätschelte einen schönen grauen Apfelschimmel und hielt ihm einen Apfel vor das Maul.

»Ich hab das nie verstehen können, warum es ein Zeichen für bitteres Elend gewesen sein soll, daß das arme Jesulein in einem Stall in einer Krippe liegen mußte«, meinte sie, die Hand auf der weichen Nase des Pferdes. »Für mich waren Ställe immer Orte unendlichen Friedens.«

»Die meisten unserer Vorfahren haben unter einem Dach mit ihren Tieren gewohnt«, sagte Paul. »Selbst in meinem Haus muß es noch bis in die Nachkriegszeit hinein immer Schweine und wenigstens ein Rind gegeben haben.« Unvorstellbar. Der Platz reichte kaum für ihn allein.

»Hast du keine Angst vor dem Pferdeschlitzer?« fragte er Anne, als sie hinunter zu den Pferdekoppeln gingen. Er konnte ihren Besitzerstolz verstehen. Sie hatte viel Platz, für den sie viel Geld bezahlt haben mußte. Üppige Wiesen schwangen sich in eine Talsenke hinunter, in der Bäume und Hecken für Schatten sorgten. Drei Shetlandponys grasten friedlich vor sich hin; unten in der Senke stand eine ganze Pferdeherde: »Oldenburger überwiegend«, erklärte Anne. Zwei Tiere lösten sich aus der Gruppe und trabten auf Paul und Anne zu. »Das ist Killroy, ein Palomino. Und rechts davon mein Lieblingspferd.« Anne hielt dem Hengst den letzten der drei Äpfel entgegen. »Ein Araber. Bucephalus.«

Paul lachte. Anne sah ihn nachsichtig an.

»So hieß der Lieblingsgaul von Alexander dem Großen, ich weiß. Ich finde den Namen völlig passend.«

»Und selbst um diesen schönen Kerl hast du keine Angst?« fragte Paul, dem nicht entging, mit welcher Zuneigung sie sanft in die Nüstern des großen Pferdes blies.

»Angst kann ich mir nicht leisten«, antwortete Anne spröde. Patsch, dachte Paul. Schon wieder eins auf die Finger. Ob das irgendwann mal Hornhaut gibt?

Anne hatte gemerkt, daß er zusammengezuckt war, und lenkte ein. »Natürlich habe ich Angst. Nichts ist einfacher, als einen Gaul umzubringen.«

Paul streckte vorsichtig die Hand nach dem Hals des Pferdes aus. Er traute Pferden nicht. Sie hatten so verdammt große Zähne.

»Sie haben keine Angst vor Menschen, wenn die sich richtig verhalten. Nähere dich den Gäulen langsam, ruhig und mit einem Apfel in der Hand, und schon ist ein Pferd da, jedenfalls die neugierigen, die Leittiere – und vor allem gute Reitpferde, die an Menschen gewöhnt sind.«

Sie gab dem Pferd einen Klaps.

»Und dann nimmst du das Tier am Halfter, bindest es irgendwo fest – am Zaun, sonstwo –, fesselst ihm die Hinterbeine – und schon kannst du machen, was du willst.« Anne schluckte. Allein bei der Vorstellung wurde ihr übel.

»Niemand wird es hören. Pferde schreien nicht.«

Paul streichelte ihren Arm.

»›Das Schweigen der Pferde‹ wäre auch ein guter Krimititel gewesen«, sagte Anne und wandte sich ab.

Sie erlaubte ihm, den Arm um ihre Schultern zu legen, als sie zum Hofladen zurückgingen. Er ist ein netter Kerl, Anne, redete sie sich zu. Dabei wußte sie ganz genau, daß sie sich noch nie in nette Kerle verliebt hatte. Als sie an seinem Auto angelangt waren, küßte sie ihn auf die Wange. Er hätte sie am liebsten heftig umarmt. Und wußte im selben Moment, daß das der größte Fehler wäre, den er machen könnte.

Anne wunderte sich über seine Kühle. Wahrscheinlich ist es besser so, sagte sie sich und trat einen Schritt zurück, während Paul sein Auto startete. Er legte den Gang ein und fuhr vom Hof. Er hatte vergessen, sich zu erkundigen, ob er wirklich sie gesehen hatte – morgens. Hinter einem Jeep mit verschmutztem und deshalb praktischerweise unleserlichem Kennzeichen. »Der Flug des Falken«. Am Tag des Mordes.

Aber auf eine solche Frage hätte er unter Garantie auch keine Antwort gekriegt.

Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band

Подняться наверх