Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 21

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Bremer hätte es sich ja denken können. Aber er hatte einfach vergessen, mit welcher Wucht eine Frau wie Karen in seinem ruhigen kleinen Dorf einschlagen konnte. Schon bei ihrem letzten Besuch war sie die Sensation des Tages gewesen und hatte Gesprächsstoff für mindestens eine Woche hinterlassen. Die Anspielungen, die auf ihr Verhältnis zu Paul zielten, waren alles andere als schmeichelhaft – für Paul.

»Ist sie nicht ’ne Nummer zu groß für dich?« hatte Willi mitleidig gefragt.

Und Marianne hatte spitz gemeint: »Sie will wohl gucken, ob du schon verbauert bist?«

Auch diesmal schenkte man ihrer Ankunft die gebührende Aufmerksamkeit, als sie mit ihrem grasgrünen MG vor Pauls Haus bremste und ausstieg. Der junge Noth mit dem Wieselgesicht, den Paul nicht leiden konnte, vergaß tatsächlich für einen Moment, zornig am klemmenden Schacht des Zigarettenautomaten zu rütteln. Der Sohn vom Schweinebauern Knöß stierte im Rückspiegel seines Traktors nach Karen und hätte fast das eigene Hoftor eingerammt. Selbst Erwin stellte seinen Rasenmäher ab und kam an den Zaun, um sich die Szene nicht entgehen zu lassen.

»Baaah, das stinkt hier ja wieder wie im Zoo«, rief Karen fröhlich und lauthals zur Begrüßung über die Dorfstraße. Paul lächelte gequält. Sie sah großartig aus.

Heute trug sie zur Jeans – ein Zugeständnis, dachte Paul, an seine ländliche Existenz – knallrote Pumps mit ziemlich hohen Absätzen und ein ebenso flammenfarbenes Jackett, was sich, wie Bremer fand, ein bißchen mit den roten Haaren balgte. Mit Schwung warf sie die Tür ihres grasgrünen Sportwagens hinter sich zu und stakste um die kuhfladengesäumte Wasserpfütze vor Pauls Haus herum, um ihm, der am Gartentor auf sie wartete, geräuschvoll die Wangen zu küssen. Das ließ tiefrote Lippenstiftspuren zurück. Wie immer.

»Was macht das inzüchtige Landleben?« rief Karen zur Begrüßung.

»Schrei doch nicht so«, flehte Paul.

»Ach was«, tönte Karen fröhlich, »das Landvolk hat Humor.« Gottfried, der wieder einmal auf seinem Beobachtungsposten saß, winkte gutgelaunt herüber. Vielleicht hatte sie ja recht.

Marianne, die mit dem Besen dem allabendlichen Kuhschiß hinterher war, grüßte nicht. Karen war nicht ihr Fall. »Wie unterschiedlich die beiden sind«, dachte Paul. Beide waren seine Freundinnen. Aber am Unterschied zwischen Marianne und Karen las er seine eigene Veränderung ab, seit er hier und nicht mehr in der Stadt lebte.

Marianne war eine kräftige, sonnengebräunte Frau mit breiten Schultern, großen blauen Augen und einem leichten Flaum auf der Oberlippe. Noch an kühlen Herbsttagen trug sie knappe Radlerhosen oder kurze, in der Mitte des Oberschenkels abgeschnittene Jeans. Dazu tief ausgeschnittene, spitzenbesetzte Hemden mit dünnen Trägern oder, im Sommer, ein schwarzes Bikinioberteil. Es machte schon was her, wenn sie so und mit gelösten blonden Locken ihre Kühe durchs Dorf trieb.

Neben Karen hatte sie, das mußte sogar Paul zugeben, der Marianne ehrlich mochte, keine Chance. Karen war nicht richtig hübsch. Alles an ihr war groß: die Figur, die Nase, der Mund. Sie betonte das; sie dachte nicht daran, sich kleinzumachen. Paul beneidete sie oft um ihr Selbstbewußtsein, um die Autorität, die sie ausstrahlte. Und manchmal sogar um ihr Stimmvolumen: Sie hatte einen vibrierenden Alt, der Angeklagte in Schweiß ausbrechen und Richter eifersüchtig werden ließ. Karen war beeindruckend.

Sie war eine städtische Schönheit, so wie Marianne eine ländliche Schönheit war. Marianne, das wußte Paul, fürchtete sich vor Frankfurt. Karen fürchtete sich zwar vor nichts und niemandem. Aber für die ganz normalen Erfordernisse des Dorflebens war sie bestimmt nicht qualifiziert: einen Kohleofen anzünden, zum Beispiel, und ihn auch über Nacht nicht ausgehen lassen. Ganze Kürbisse einmachen – und auch noch so, daß es schmeckte. Die Flasche mit dem Propangas für den Küchenherd auswechseln, was zwei- bis dreimal im Jahr nötig war. Einen Gemüsegarten unterhalten, ohne alles den Schnecken zum Fraß zu überlassen.

Karen kaufte die Milch in der Tüte und löste die anderen lebenspraktischen Dinge, indem sie die entsprechenden Knöpfe drückte: an der Heizung etwa. Bremers Sehnsucht nach den Herausforderungen des Landlebens verstand sie nicht. Marianne und Karen waren so verschieden wie Stadt und Land.

Bremer merkte plötzlich, wie sehr er sich freute, sie zu sehen.

»Danke«, murmelte er und umarmte sie. Es waren immerhin gut hundert Kilometer von Frankfurt bis Klein-Roda.

»Das war ja eher ein Hilfeschrei gewesen als eine Einladung zum Abendessen!« sagte sie ihm ins Ohr.

»Stimmt«, sagte Paul und lachte sie an. »Die Entschädigung: Gottfried hat uns eines seiner preisgekrönten Rassekaninchen geschlachtet.« Das lag jetzt im Bräter, zusammen mit Lorbeer, Thymian und Majoran aus dem Garten und in Rotwein mariniert.

»Vorher noch in die Kneipe?« fragte er sie. Es war noch Zeit für ein Feierabendbier. Karen nickte.

Die nächste Kneipe hieß »Zum rauschenden Brünnlein« und lag im Nachbardorf, in Heckbach. Man konnte dort im Sommer an langen Holztischen auf der Obstbaumwiese sitzen und Apfelwein trinken und Handkäs’ essen. Klein-Roda selbst hatte keine Dorfkneipe. Bremer war ziemlich froh darüber, denn in einer Kneipe wie dem »Rauschenden Brünnlein« spielte sich nicht das pralle Dorfleben ab. Sondern seine Kehrseite. Hier saßen Männer und brachten ihre Rente durch – beziehungsweise das Arbeitslosengeld oder die Sozialhilfe. Wer hier Abend für Abend trank, war überwiegend alt, einsam, unbrauchbar, alkoholkrank, deprimiert, perspektivlos oder alles auf einmal. Vollzeitbauern oder Nebenerwerbslandwirte traf man nicht in Kneipen. Die hatten auch abends zu arbeiten.

Doch immer noch war die Dorfkneipe ein Ort des Klatsches, eine Informationsbörse. Wer tags nichts zu tun hatte, außer durchs Dorf zu gehen und ein Schwätzchen zu halten, und wer nachts ausgiebig wach lag, dem entging kaum eine Regung des Lebens. Hier, dachte Paul manchmal, saßen die Hilfspolizisten des Landes und glichen ihre Informationen ab.

Er hätte sich allerdings denken können, daß man sich mit Karen im Schlepptau unmöglich unauffällig in den Strom des Dorftratsches einfädeln konnte. Erna, die hinter der Theke die Gläser polierte, servierte Karen zwar höflich einen Persico – »Der Name ist so schön«, behauptete Karen – und zapfte Paul ein Bier. Doch das Gemurmel an den Tischen, das bei ihrem Eintreten schlagartig verstummt war, setzte nur zögernd und leise wieder ein.

»Da kommt der Wichtigtuer vom Dienst«, flüsterte Paul Karen warnend zu, als Moritz von der Toilette an ihrem Tisch vorbei kam. Der magere Mann mit dem dünnen Ziegenbärtchen im Gesicht klopfte Paul jovial auf die Schulter und musterte Karen neugierig. »Willst du uns nicht vorstellen, Paul?«

»Moritz, Diplomsoziologe und Schreinermeister«, sagte Bremer widerwillig. »Karen Stark. Staatsanwaltschaft Frankfurt.«

Moritz hob die Augenbrauen und sah Karen mißtrauisch an. »Da müssen wir uns ja wohl geehrt fühlen!«

Moritz war ein altgedienter Aussteiger, einer, der schon in den siebziger Jahren die Flucht aufs Land angetreten hatte. Paul wußte gar nicht mal so genau, warum er ihn nicht leiden konnte. Der Mann machte ihn aggressiv. Er war ein Besserwisser. Immer authentisch-identisch. Immer politisch korrekt. Und immer, außer im Hochsommer, in einem abgewetzten kaffeebraunen Lamafummel, einem dieser Pullover, mit denen man sich früher in Dritte-Welt-Läden das gute Gewissen bestätigte. Wenigstens, dachte Paul angewidert, trägt er mittlerweile keinen Palästinenserfeudel mehr um den Hals.

»Und?« fragte Moritz, der offenkundig nicht wußte, ob er sie duzen durfte, »wird hier ermittelt?«

»Wir sind«, entgegnete Karen gepflegt, »mitten in der Beweisaufnahme«, und leerte ihren Persico, als ob er ihr schmeckte. »Und was weißt du?« fragte sie einladend.

Moritz zuckte mit den Schultern und zog sich einen Stuhl an den Tisch.

»Die Weiherhof-Leiche? Man tippt hier allgemein auf Drogenschmuggler oder die russische Mafia. Oder«, Moritz kniff die Augen zusammen, »auf den Pferdeschlitzer.« Das hielt er offenbar für eine besonders naive These.

Karen legte den Kopf zur Seite und sah ihn prüfend an. »Und du?«

»Anne«, erwiderte der ergraute Landfreak knapp, der sich keineswegs zu wundern schien, daß sich die Frankfurter Staatsanwaltschaft für den Fall interessierte. »Sie hatte ihren Alten doch längst dicke.«

Karen merkte, wie Paul neben ihr tief Luft holte, und legte ihm beruhigend die Hand aufs Knie. Er wäre, das spürte sie, seinem alten Bekannten am liebsten in aller Öffentlichkeit an die Gurgel gegangen.

»Ach«, sagte Karen interessiert. »Woher weißt du das?«

Moritz strich sich bescheiden durch den dünnen Bart. »Man hört so einiges. Und es liegt doch nahe, oder?«

»Die Statistik jedenfalls spricht dafür«, sagte Karen und nickte. »Nur verstehe ich dann nicht, warum sie die Leiche nicht weggeschafft hat – statt sie auch noch auf dem eigenen Hof regelrecht auszustellen.«

Moritz strich sich wieder durch den Bart. Dazu, sah Paul mit Genugtuung, fiel ihm nichts ein.

»Dieser Mord wirkt auf Effekt kalkuliert.« Ausnahmsweise sprach Karen mal leise. Nichtsdestotrotz merkte Paul, wie die Männer um sie herum versuchten, jedes Wort mitzubekommen. »Eine intelligente Person würde so nicht vorgehen. Höchstens eine Verrückte.«

»Ich tippe«, sagte Paul, leicht ironisch, schon weil er sich da gar nicht so sicher war, »ebenfalls auf die Mafia. Oder auf die Lobby der Rindfleischindustrie. Auf radikale Tierschützer.«

»Oder auf alte Seilschaften aus der DDR?« fragte Moritz spöttisch. Paul guckte irritiert. »Ja wußtest du das nicht?« triumphierte der Schreiner.

»Wußtest du das wirklich nicht?« fragte Karen, als sie in Pauls Küche vor dem Herd standen, in dem das Kaninchen duftete. »Ich habe übrigens Hunger.«

»Nein, keine Ahnung. Sie hat nichts erzählt.« Paul gab weiter, was Kosinski über Annes Vorleben berichtet hatte.

»Das wenige, was ich über sie weiß, habe ich nicht von ihr erfahren«, mußte er zugeben. »Und die Verbindung zur DDR hat Kosinski ausgelassen.«

Karen zögerte. Sie hütete sich normalerweise davor, Privates mit ihrem Beruf zu vermischen. Aber irgendwie berührte sie der Fall – nicht nur, weil Paul sich für die Hauptverdächtige interessierte. Und eigentlich sprach wenig dagegen, den Kommissar einmal anzurufen, der Paul, was ungewöhnlich genug war, schon soviel erzählt hatte. Vielleicht war er kooperativ.

Sie setzten sich ins Wohnzimmer zum knisternden Kaminfeuer und aßen in einer unbefangenen Stille, die sich nur erlauben konnte, wer schon lange und verläßlich befreundet war. Das ganze Haus duftete nach Holzfeuer und Schmorkaninchen, und nur das anhaltende Motorengeräusch von draußen beunruhigte Paul etwas. Als Karen von ihrem Teller aufsah und mit zusammengezogenen Augenbrauen die geblähten Nüstern in alle Himmelsrichtungen hielt, grinste er, fast entschuldigend.

»Bauer Knöß«, gestand er mit fester Stimme, »fährt Schweinegülle.«

»Um diese Uhrzeit?«

»Nur um diese Uhrzeit«, sagte Paul.

Karen ließ geräuschvoll die Gabel auf den Teller fallen und prustete. »Um Himmels willen, Paul! Wie hältst du das aus?« Er hielt es aus. Das war ja das Wunder.

Sie waren beim Nachtisch, als beide gleichzeitig das Geräusch hörten. Draußen pfiff es – laut und durchdringend. Eine Fledermaus konnte es nicht sein, eine Eule oder ein Uhu oder ein Käuzchen klangen, wenn Paul sich recht erinnerte, anders. Paul hatte draußen die Lampen angezündet. Nichts war zu sehen, als beide aus der Tür traten. Es pfiff noch immer. Vom Gartentor her.

Bremer wäre nie auf die Idee gekommen, daß Igel pfeifen konnten, aber genau so war es. Zwei kleine, dunkle Stacheltiere schrillten verzweifelt nach ihrer Mutter, die sich vorsichtig entfernte, als sich Karen und Paul ebenso vorsichtig näherten. Paul sah mit Rührung, daß Karen sich plötzlich wie eine typische Vertreterin ihres Geschlechts verhielt – die Laute, die sie ausstieß, klangen so, wie sie Frauen überall auf der Welt beim Anblick von Babys von sich gaben.

Und Männer? Wir sind geräuschlos entzückt, dachte er und grinste in sich hinein.

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