Читать книгу Caruso singt nicht mehr / Wasser zu Wein / Nichts als die Wahrheit - Drei Romane in einem Band - Anne Chaplet - Страница 14

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Die Jüngste war sechs, der Älteste zwölf Jahre alt. »Die Kiste hoch, Maximilian!« rief Rena ihm zu, als er mit dem kleinen Trupp, den er auf dem Apfelschimmel anführen durfte, näher kam. »Uuuund Tempo, uuund alle«, kommandierte Rena lautstark und näselnd, ganz so, wie schon Tausende von Reitlehrern ihre Schützlinge gequält hatten.

»Wieder ein neuer Haufen Unbelehrbarer?« fragte Alexander mitfühlend, der neben ihr stand und wie sie die Arme auf den obersten Balken der hölzernen Balustrade aufgestützt hatte, die den Exerzierplatz in der Reithalle umgab. Es schien ihm keine sehr dankbare Aufgabe zu sein, den von ihren städtischen Eltern auf dem Weiherhof abgestellten Bälgern in drei Wochen alles Pferdgemäße beizubiegen.

»Ich halt’s aus.« Rena war sichtbar geschmeichelt, daß sich Alexander für sie interessierte. »Es ist ja das letzte Mal in dieser Saison.«

Leider, dachte Anne Burau, die den beiden zusah, und trocknete sich die langen, schmalen Finger an der Küchenschürze ab. Die große Reithalle, die sie vor drei Jahren hatte bauen lassen, um müde Städter mit »Ferien auf dem Bauernhof« locken zu können, hatte sich noch längst nicht amortisiert.

Anne gefiel es, daß Alexander sich seit einigen Wochen angewöhnt hatte, ihre Tochter zu besuchen. Zugleich wunderte es sie ein bißchen, daß der gutaussehende, gut gekleidete, immer höfliche junge Mann sich ausgerechnet für Rena interessierte. Ihre Tochter, fand Anne, war ein kluges, sensibles, gutherziges, ein geradezu großartiges Exemplar. Aber selbst die liebende Mutter mußte zugeben, daß es ihr ein bißchen fehlte an, na ja, sagen wir mal, klassisch weiblicher Attraktivität. Rena war von allem ein bißchen zuviel: zu blaß, zu dünn, zu blond, zu linkisch. Oder will wer noch immer behaupten, eigentlich komme es nur auf den guten Charakter an? fragte sich Anne, die mit dieser verlogenen Behauptung aufgewachsen war, und schickte einen Stoßseufzer hinterher. Hoffentlich war er nett zu ihr. Hoffentlich enttäuschte er sie nicht. Hoffentlich war er ein verläßlicher Freund. Hoffentlich passierte der Tochter nicht, was der Mutter widerfahren war.

Alexander hatte sich umgedreht und winkte ihr zu. Anne hob die Hand und winkte zurück. Die Eltern hatten sich vor einigen Jahren ein Fachwerkhaus in Ebersgrund ausgebaut. Der Junge hatte, wie Rena, gerade das Abitur hinter sich gebracht und überlegte noch, ob er ein Studium beginnen oder sich freiwillig bei der Bundeswehr verpflichten sollte. Alexander war ein netter Kerl, bestimmt. Anne Burau runzelte die Stirn. Zu nett?

Sie stöhnte innerlich auf. Verdammtes Mißtrauen. Nicht alle Männer sind Lügner und Betrüger! Oder? fragte eine kleine mißtrauische Stimme spitz zurück.

Sie gab sich einen Ruck und kehrte zu ihrer Kundschaft zurück, der sie draußen auf dem Hof Apfelwein ausschenkte. Irgendwie war ihr heute alles zu laut und zu anstrengend. »Reiß dich zusammen«, forderte sie sich mit gewohnter Härte auf, »sonst kannst du gleich den Beruf wechseln.« Besonders eine Blondgefärbte um die Dreißig ging ihr auf die Nerven. »Rotti! Bei Fuß!« herrschte die Dame den völlig unterdrückten Rottweiler an, den sie an kurzer Leine neben sich hielt (Warum nicht gleich Pavarotti? dachte Anne). Ob Anne denn qualifiziert sei für einen Ökobauernhof, wollte sie wissen. Ob sie denn alles ganz allein machen müsse. Anne zwang sich zu Höflichkeit und antwortete ausweichend. Schließlich wollte die Frau auch noch das Kühlhaus besichtigen. »Der Hund bleibt draußen!« sagte Anne bestimmt.

Sie verarbeitete auf ihrem Hof mit Bioland-Gütesiegel nicht nur die eigenen Charolais-Rinder, ihre das ganze Jahr über im Freien lebenden Schweine, die zahllosen Lämmer, Gänse, Enten und Truthähne, die sich um den Löschteich herum vergnügten, sondern verkaufte auch Wild. Aus allererster Hand: von den beiden Jagdpächtern aus dem angrenzenden Revier. Rudolf und Werner hatten einen Schlüssel zum Kühlhaus und hängten ihr frühmorgens an den Haken, was sie nachts erlegt hatten. In der linken Kühlkammer hing das kleine Wildschwein, noch in der Decke, das die beiden gestern abgeliefert hatten. Der rote Zettel des Fleischbeschauers steckte auf dem Fleischerhaken, »beschlagnahmt bis ...« stand oben rechts in der Ecke. Erst wenn sie bis morgen früh nichts vom Veterinäramt gehört hatte, war das Fleisch freigegeben.

Die Rottweilerin, wie Anne sie ungnädig getauft hatte, legte theatralisch die Hand vor den Mund, als sie den Kadaver sah. Na ja, dachte Anne. Tote Tiere in gekachelten Kühlkammern haben ja auch wirklich keinen Charme. »Also, einfach ein Stückchen Filet, das tät mir reichen!« verkündete der ungeliebte Gast. Einfach Filet. Schau an. Nur vom Feinsten. »Die Lende hängt in der Kühlkammer rechts«, sagte Anne, schloß die eine und drückte den Hebelarm der anderen Kühlkammer nach unten. Hier hingen Lammkeulen und Lammrücken, eine halbe Hausschweinseite, ein Rinderfilet. Eine Gans im Federkleid. Und noch etwas anderes. Etwas ganz anderes. Aus weiter Ferne hörte sie neben sich die andere Frau aufschreien. Ihr wurde erst flau, dann übel, dann weich in den Knien. So ist das also, dachte sie erstaunt.

Sie mußte, machte sie sich später klar, wie von Furien gehetzt aus den Wirtschaftsräumen hinausgestürzt und zum Reitstall gelaufen sein. Zu Rena.

Alexander rief den Arzt. Und die Polizei.

Die Gäste waren gegangen, die blonde Hundebesitzerin hatte vom Arzt ein Beruhigungsmittel erhalten. Anne fühlte sich völlig gefaßt, als sie oben im Wohnhaus die Polizei erwartete. Gregor Kosinski stand auf dem Ausweis, den der große, schlaksige Mann ihr hinhielt. Ein für diesen Landstrich ziemlich ungewöhnlicher Name, dachte sie flüchtig, bevor sie ihn in den großen Wohnraum einlud, in dem er sich ihr gegenübersetzte und sie lange und freundlich ansah.

»Es ist Leo«, sagte Anne, jetzt plötzlich doch nervös. »Er ist mein Mann. Er war mein Mann.«

»Herzliches Beileid!« sagte der Polizist. Das kam ihr so grotesk vor, daß sie kicherte. Jetzt keinen hysterischen Anfall! beschwor sie sich, reiß dich zusammen, verdammt! Der Mann wartete geduldig, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

»Haben Sie die Leiche angefaßt oder bewegt?« fragte Kosinski und hielt fragend eine Schachtel Ernte 23 in die Höhe. »Natürlich nicht!« wehrte Anne ab und stand auf, um einen Aschenbecher zu holen.

Wieso eigentlich »natürlich« nicht, fragte sie sich im selben Moment. Hätte sie nicht seinen Puls fühlen müssen, nachprüfen, ob er vielleicht noch lebte? Hätte sie nicht einen kühlen Kopf bewahren müssen bei seinem Anblick? Wiederbelebungsversuche machen?

Zwecklos, das hatte sie seltsamerweise sofort gewußt.

Sein Mörder hatte Leo in die Kühlkammer gehängt, neben das Schlachtvieh. An einen Fleischerhaken. Vielmehr, man hatte den Fleischerhaken hinten durch seine Weste gestoßen, in der er hing, als wolle er mit den Flügeln schlagen. Seine Füße berührten den Boden, Leo war viel zu groß für die geringe Höhe, in der die Stange die Kühlkammer durchquerte. Das eine Knie war abgewinkelt, das andere durchgedrückt. Das weiße Oberhemd hatte sich nach oben geschoben, die elegante, jetzt schlammverschmutzte Hose war ihm auf die Knöchel gerutscht.

»Haben Sie eine Vorstellung, wer Ihrem Mann übelwollte?« fragte der Landpolizist. »Übelwollte«? Elegant ausgedrückt für den Tatbestand eines Mordes. »Nein«, antwortete Anne. Und fügte zögernd hinzu: »Oder jedenfalls nicht so, daß man ihn hätte umbringen wollen.«

Jemand hatte Leo erwürgt. Und dann in ihre Kühlkammer gehängt. Wie das Schlachtvieh. Erstaunt merkte Anne, daß ihre Zähne klapperten.

Gregor Kosinski betrachtete Anne Burau mit freundlicher Distanz. Die Frau war blond, lang und schlank. Ein bißchen nervös, aber ziemlich gefaßt. Ungerührt? So weit würde er nicht gehen. Kosinski musterte ihre Hände. Zu schlank, um den Gatten selbst erwürgt und an den Haken gehängt zu haben? Wohl kaum. Landfrauen waren Schwerarbeiterinnen. Sie hatten Kraft.

»Wann waren Sie das letzte Mal in dem Raum?« Er versuchte es noch einmal.

»Gestern«, sagte Anne und rückte ihre Brille zurecht. »Gestern abend. Vor dem Abendessen.«

Sie konnte sich nicht wehren gegen das Bild vor ihrem inneren Auge. Wie er da hing, den Kopf auf die Brust gesunken, die Haut unter dem unrasierten Kinn ziehharmonikaförmig zusammengeschoben. All die Schönheit dahin ... Anne schluckte. Fast hätte sie doch noch geweint. Sie versuchte sich einzureden, daß sie das alles nichts mehr anging. Schon lange nichts mehr anging. Leo war tot. Und für sie war er kaum lebendiger gewesen, als er noch lebte.

Kosinski drückte seine dritte Zigarette aus und betrachtete abwesend die Fliege, die neben dem Aschenbecher lag und mit rasend schlagenden Flügeln erst größere, dann immer kleinere Kreise zog. Immer noch abwesend, nahm er seine Zigarettenschachtel und beendete den Todeskampf. Leo Matern, der Mann von Anne Burau, hatte schon länger im Kühlraum gehangen, das sah man auch ohne gerichtsmedizinische Untersuchung. Er war, darauf ließ der Zustand seiner Kleidung schließen, nicht am Fundort gestorben. Dorthin hatte man ihn offenbar geschleppt, um die Leiche zur Schau zu stellen. Gebrandmarkt.

Anne hatte es auch gesehen: An der einen, der linken, der eingefallenen Pobacke der Leiche prangte leuchtend blau etwas, das wie das Prüfsiegel des Fleischbeschauers aussah. Als ob man ihn noch im Tod hatte demütigen wollen.

»Und wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?«

Anne fuhr nervös durch ihr Haar, das sich aus der Spange zu lösen begann, mit der sie es im Nacken zusammengefaßt hatte. »Ich glaube«, sagte sie und zögerte. »Vielleicht am Mittwoch?«

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