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Johanna - Erinnerungen

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Ich habe ungefähr eine Handvoll Erinnerungen an ihn. Wobei ich mir nicht sicher bin, was echt ist und was davon ich aus alten Fotografien übernommen habe. Ein Bild in meinem Kopf ist aus der Zeit als ich etwa fünf oder sechs Jahre alt war. Es ist Winter und wir sitzen am Küchentisch, er schneidet für alle Äpfel in Spalten und schält Orangen. Eine wundervolle Erinnerung oder das Wunschbild von Gemeinschaft, Wärme und Geborgenheit?

In einer anderen Szene kann ich seine Stimme hören, nein, nicht wirklich hören, aber ich weiß die Worte, die er gesprochen hat. Es war an dem Tag, an dem mein älterer Bruder verunglückte. Er hatte einen Unfall mit dem Motorrad ganz in der Nähe unseres Elternhauses. Wir alle waren am Unglücksort und er wurde mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen. Nach vielen Stunden im Operationssaal kam dann gegen Mitternacht der Anruf. Mein Vater kam in das dunkle Zimmer, das ich mit meiner Schwester teilte und sagte: „Euer Bruder ist tot.“ Das war alles, er drehte sich schweigend um und ging wieder. Es wurde kein weiteres Wort darüber gesprochen. Hilflosigkeit auf der ganzen Linie.

Dann weiß ich eine Geschichte über ihn, als eine Freundin bei mir übernachtete. Wir waren ungefähr zwölf oder dreizehn Jahre alt. Der Vater meiner Freundin hatte ein Alkoholproblem und kam angetrunken zu uns, um seine Tochter abzuholen. Es gab einen Riesenkrach und mein Vater ließ meine Freundin nicht zu ihrem Vater ins Auto steigen. Er rief die Mutter an, sagte dass das Mädchen bei uns schlafen würde und er sie morgen zu ihr nach Hause bringen würde. Da war er mein absoluter Held.

Weiter kann ich mich erinnern, dass ich in der siebten Klasse wegen Latein und Englisch durchgefallen war. Mein Vater fuhr am ersten Schultag nach den Ferien kommentarlos mit mir zum Gymnasium, meldete mich ab und brachte mich zur Realschule, wo ich zukünftig weiter zur Schule gehen würde. Kein Geschimpfe, keine Vorwürfe, keine Fragen, wieso ich plötzlich so schlecht in der Schule war und schon gleich gar nicht, was ich denn eigentlich wollte. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich gehört worden wäre, wenn ich den Mund aufgemacht hätte. Heute habe ich großes Verständnis für das ungewollte, missbrauchte Mädchen, das gerade den Bruder verloren hatte und bin voller Mitgefühl für den vollkommen überforderten Vater.

Bei meiner nächsten Erinnerung war ich dann schon 18 Jahre alt und hatte einen Freund. Ich kann mich nicht mehr an den Auslöser erinnern, aber mein Vater hat sich über den jungen Mann furchtbar aufgeregt und ihn mit allen möglichen Kraftwörtern bedacht. Mich beschimpfte er, mit welchem Nichtsnutz und Tagedieb ich mich da abgebe. Seine Wortwahl kam aus der untersten Schublade und hatte ich als Kind noch so etwas wie Loyalität ihm gegenüber verspürt, war damit jetzt Schluss. Nach dieser Schimpftirade empfand ich nur noch Verachtung für ihn.

Die letzten Erinnerungen sind aus der Zeit, als seine Krebserkrankung schon im Endstadium war. Er hat über nichts anderes mehr gesprochen, als seine Kriegserlebnisse. Sein ganzes Leben war nur noch Krieg. Schließlich habe ich noch das Bild von ihm im Krankenhaus vor Augen. Er war nur noch selten bei Bewusstsein, immer dann, wenn die Wirkung des Morphiums nachließ und er eine neue Dosis brauchte. Ich stand an seinem Krankenbett und er war furchtbar unruhig, wollte sich von seinem Katheter befreien und dabei war die Bettdecke verrutscht. Da bemerkte er, dass ich an seinem Bett stand. Ein Moment des entblößt Seins, nackt und voller Scham. Es war das letzte Mal, dass wir uns bewusst gesehen haben. Ich war 22 Jahre alt und es liegt jetzt mehr als 20 Jahre zurück. Er war ein gut aussehender, stattlicher Mann gewesen. Aus Erzählungen von meinen Geschwistern und Verwandten weiß ich, dass er immer sehr gerne gefeiert hat. Er muss durchaus ein lebensfroher Mensch gewesen sein. Warum habe ich keine Erinnerung an sein Lachen oder dass er mich im Arm gehalten, sich für mich interessiert hätte. Und auch nicht das Gefühl, dass sein Leben etwas mit mir zu tun gehabt hatte.

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