Читать книгу Kopfstand - Annemarie Singer - Страница 32

Mutter - Verlust

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Das Leben bietet so viele wunderbare Dinge, die man tun und erleben kann. Meine Tochter ist schlichtweg unglaublich. Wer hätte das gedacht? Es ist, als hätte sich eine Schleuse geöffnet und die viele Jahre unterdrückte oder vielleicht auch nur fehl geleitete Kreativität sprudelt ungebremst aus ihr heraus. Sie ist nicht mehr aufzuhalten.

Ich komme nicht umhin anzuerkennen, dass dieser Italiener etwas damit zu tun hat. Er war das Feuer, mit dem sie gespielt hat, und an dem sie sich gehörig die Finger verbrannt hat. Trotz der Verletzungen, die er ihr zugefügt hat, kann sie es immer noch nicht lassen, in der Glut zu stochern. Sie hat noch nicht genug von dieser wilden ungezügelten Kraft. Im Grunde müsste sie erkennen, dass er lediglich der nötige Funke war, den es gebraucht hat, um ihr eigenes Feuer zu entfachen.

Es ist schön zu sehen, was durch ihre Hände alles entsteht und ich hoffe sehr, dass sie diesen Weg weitergeht. Sie sucht auf allen Ebenen nach Möglichkeiten, sich auszudrücken. Es ist ihr Weg aus der Sprachlosigkeit. Wie ich und auch ihre Großmutter bleibt sie in den wichtigen Momenten ihres Lebens stumm. Und wer weiß, wie weit diese Ahnenkette noch zurückgeht. Es ist ein schweres Vermächtnis, das sie da zu tragen hat.

Ich war vierzehn Jahre alt, als mein älterer Bruder an einer Blinddarmentzündung starb. Man hatte die Ursache seiner Bauchschmerzen zu spät erkannt und als man ihn endlich in ein Krankenhaus gebracht hatte, war es zu spät. Er war einfach weg, von einem Tag auf den anderen. Niemand hatte mich je gefragt, wie es mir damit geht. Hätte ich meinen Vater darauf angesprochen, so wäre seine Antwort gewesen: „Vom Reden kommt er auch nicht wieder zurück. Man muss das Leben nehmen, wie es kommt.“ Aber ich war traurig und vor allem war ich wütend, weil er mich alleine gelassen hatte.

Johanna war elf Jahre alt als ihr Bruder tödlich verunglückte. Er war der ältere meiner beiden Söhne. Von Geburt an eine Frohnatur, ein fröhlicher Junge, bei dem man nicht anders konnte, als ihn gern zu haben. Das galt nicht nur für seine Familie. Er war bei Gleichaltrigen genauso beliebt wie bei Verwandten, Nachbarn oder Lehrern. Nicht, weil er ein liebenswürdiger, hilfsbereiter Junge war, sondern weil er auf eine unwiderstehlich freche Art das sagte, was er gerade dachte und auch immer das tat, auf was er Lust hatte. Das scheint für einen 16-jährigen Teenager nicht so außergewöhnlich, doch bei ihm hatte es nichts Trotziges, sondern eine angeborene Natürlichkeit. Er hatte einen Verkehrsunfall mit seinem Moped. War zu schnell gefahren, kam auf die andere Straßenseite und fuhr frontal in einen entgegenkommenden LKW. Johanna und ich saßen am Küchentisch, als die zweite meiner Töchter nach Hause kam. Ich sagte noch zu Johanna, wie ungewöhnlich es sei, dass sie vor ihrem Bruder da ist. Da kam sie in die Küche geschossen, kreidebleich im Gesicht. Sie hatte den Unfall ihres Bruders, ungefähr 200 Meter von unserem Haus entfernt, mit angesehen. Zu der Zeit gab es noch keine Mobiltelefone und sie musste erst nach Hause laufen, um Hilfe zu holen. Die Zeit zwischen dem Hören der schrecklichen Nachricht, dem Realisieren, dass er nicht nur ein Bein gebrochen hatte, bis wir dann endlich zusammen mit meinem Mann am Unfallort waren, erscheint mir wie Stunden. Und doch können es nur Minuten gewesen sein. Ich habe keine Ahnung, was Johanna in dieser Zeit gemacht hat oder wie sie die Situation erlebt hat. Alles was danach kam, Formalitäten, Beerdigung, Trauergäste, Beileidsbekundungen zogen an mir vorbei, als wäre es ein Film. Mein Schmerz war schier unerträglich. Und ich kannte nur einen Weg, damit umzugehen. Um zu überleben, habe ich meine Traurigkeit und all den Schmerz in eine stille Kammer verbannt und die Tür fest verschlossen. Ich wusste, dass auch meine anderen Kinder einen Verlust erlitten hatten. Aber jeder musste selbst schauen, wie er damit zu Recht kommen würde. Ich habe nicht darüber gesprochen und konnte ihnen nicht helfen.

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