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Johanna - wieder einmal stumm

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Blieb ich wieder einmal stumm und passte mich den Wünschen eines anderen Menschen an? Es gab eine Begebenheit in dieser Zeit, über die ich mich tatsächlich noch lange Zeit danach ärgerte. Im Grunde nicht über den Vorfall, sondern weil ich nichts gesagt habe und es versäumte, den Herrn der Schöpfung in seine Schranken zu verweisen. Ich wollte Urlaub in Irland machen und hatte die Nacht vor meinem Abflug bei Igor verbracht. Am Morgen küsste er mich zum Abschied und meinte, wenn ich in Irland jemanden kennen lernen würde und ich Sex haben wollte, dann sollte ich nicht wegen ihm darauf verzichten, er wäre nicht eifersüchtig. Was ich hätte sagen wollen, war: „Ich glaube, du tickst nicht mehr ganz richtig! Mit wem ich wann und wo Sex habe, entscheide nur ich alleine. Was glaubst du eigentlich wer du bist!“ Und den letzten Satz hätte er sich komplett sparen können. Arrogantes Arschloch! Ja, diese Worte hätte ich gerne alle aussprechen wollen. Chance verpasst und das ärgerte mich. Während dieser paar Wochen, in denen wir uns trafen, erfuhr ich einiges aus seinem Leben. Er war wegen eines Jobs nach Deutschland gekommen und hatte sich hier verliebt. Es gab auch Kinder im Ausland. Zwischenzeitlich war er arbeitslos, konnte aber für seine Holzskulpturen die Werkstatt des Noch-Ehemanns seiner Ex-Freundin benutzen. Seine Holzarbeiten waren toll. Er verwendete dafür Schwemmholz und zeigte mir die besten Sammelplätze in der Umgebung. Das war etwas, das ich unbedingt auch ausprobieren wollte. Letztendlich verschwand er dann so schnell aus meinem Leben wie er gekommen war. Wir trafen uns noch einmal, als ich von Irland zurück war. Eine laue Sommernacht, wir wollten eigentlich einen Freund von ihm besuchen. Es war schon mindestens eine Stunde später als wir eigentlich vor gehabt hatten zu fahren, trotzdem hielten wir unterwegs an einem See, weil es so eine schöne Nacht war. Wir schwammen nackt im See und liebten uns am Ufer. Bei seinem Freund sind wir nie angekommen. So war das mit Jesus-Igor, nur im Hier und Jetzt leben und was vorher oder nachher kommt, das ist vollkommen unwichtig. In dieser Nacht erzählte er mir von der Hölle seiner Kindheit und den Erlebnissen in den Straßen von Krakau. Als ich in den frühen Morgenstunden gefahren bin, war es das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Ich versuchte, noch zwei- oder dreimal ihn anzurufen, aber er reagierte nicht mehr darauf. Wieder verließ mich jemand ohne Worte. Wie bei Luca war von Anfang an in meinem Hinterkopf, dass die Beziehung nicht von Dauer sein würde und doch ist es sehr verletzend, ohne Abschied stehen gelassen zu werden. Es gibt noch etwas zu sagen zu Igor. Er mag der unzuverlässigste Mensch auf Gottes weiter Welt sein und ich kann gar nicht beurteilen, auf welchen Marihuana-Wolken er oft schwebte. Bei all dem war er aber ein hoch sensitiver Mensch mit einer unglaublichen Beobachtungsgabe. Er sah, wie angestrengt ich war, wie sehr ich an etwas festhielt. Einmal fragte er mich nach dem Liebesspiel: „Diese zwei Stirnfalten zwischen deinen Augenbrauen“, und er strich sanft mit dem Finger darüber, „sind so tief. Woher kommt das?“ Ich musste noch oft darüber nachdenken. Seitdem fällt es mir ab und zu auf, wenn ich wieder meine Stirn zusammenziehe und mich ganz besonders anstrenge. Er versicherte mir wieder und wieder, wie schön ich sei, jedes einzelne Körperteil und doch war es nicht genug. Erst mit etwas Abstand konnte ich erkennen, wie speziell und ganz besonders diese, meine höchst persönliche Begegnung mit Jesus-Igor für mich war.

Die Art und Weise, wie es zu Ende ging, kratzte an meinem Ego, aber ich war nicht am Boden zerstört. Im Grunde hatte ich genau diesen Abgang erwartet. Und es hatte etwas Gutes. Ich konnte wieder vollkommen frei über meine Zeit verfügen. Einer der Kollegen aus dem Team auf der Almhütte hatte mir einen Kontakt zu einer Keramikerin gegeben. Ich liebe irdenes Geschirr und töpfern wollte ich schon lange einmal ausprobieren. Ich rief sie an, machte einen Termin für eine Probestunde aus und wie es der Zufall wollte, war einer Frau die Partnerin für einen Drehkurs abgesprungen und so war ich gerade richtig gekommen, um ganz kurzfristig einen der begehrten Plätze zu ergattern. Warum vergaß ich eigentlich immer wieder, welchen Spaß und wie viel Freude ich daran habe, neue Dinge auszuprobieren. Vor allem solche, die es mir ermöglichen, mit den Händen zu schaffen und mich in irgendeiner Form auszudrücken. Die Ergebnisse waren durchaus vorzeigbar. Sie waren nicht perfekt, aber sie waren meine. Mein Meisterstück war eine Butterdose. Von dieser war mein Mitbewohner so begeistert, dass er sie mir sogar abkaufen wollte. Neben der handwerklichen Tätigkeit, war meine Töpfermeisterin auch eine wirklich interessante Frau. Sie erzählte witzige Geschichten aus ihrer Zeit im Ausland. Sie hatte vor vielen Jahren zusammen mit ihrem Mann das Abenteuer gewagt, auszuwandern. Und das zu einer Zeit, als sie zwei kleine Kinder hatte und mit dem dritten schwanger war. Zudem sagte sie mir zu Beginn des Kurses, dass sie im Sommer in Rente gehen werde und ihre Werkstatt dann schließen würde. Doch Rente hieß in diesem Fall nicht, im Sessel vor dem Fernseher einzurosten, sondern das bedeutete für sie, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Sie und ihr Mann planten den nächsten Auslandsaufenthalt und deshalb würden sie in Deutschland wieder einmal alles aufgeben. Was für ein erfülltes Leben. Diese zwei Menschen hatten es geschafft, alles unter einen Hut zu bringen. Sie haben ihren Kindern immer ein stabiles Elternhaus geboten und darüber aber nicht ihre Abenteuerlust und Selbstverwirklichung vergessen. Das ist absolut bewundernswert. Ich hätte diese Frau gerne früher kennen gelernt, um mich von ihrem Vorbild inspirieren zu lassen. Spirituelle Menschen behaupten ja, alles sei immer da, man könne es aber nur dann sehen, wenn man bereit dafür ist.

So war ich neben Malerin auch Töpferin geworden und als nächstes stand ein Schnitzkurs ins Haus. Ich war eine Vorzeige-Midlifecrisis-Frau. Ich erfüllte jedes Klischee und machte mich gerne selber darüber lustig. Insgeheim war ich mächtig stolz auf mich. Ich will ja niemanden langweilen, aber ich könnte hier auch noch von diversen Tanzworkshops oder meinen schweren Beinen nach der fünftägigen Alpenüberquerung erzählen. Oder von den leuchtenden Augen nach meinem ersten Klettersteig berichten. Ich weiß gar nicht, woher all diese Energie kam, hatte ich doch neben meinem vollgepackten Freizeitprogramm auch einen ziemlich intensiven Job zu erledigen. Und trotz all der Lebendigkeit, die ich dabei verspürte, muss ich zugeben, so wirklich glücklich und zufrieden war ich trotzdem nicht. Jede Aktivität, und war sie noch so aufregend und spannend, war nur eine kurzfristige Abwechslung.

Die Situation in der Arbeit war irgendwie umgeschwenkt. Was ich früher noch eher belustigt sah, wurde immer tragischer und das wirkte sich auf meine Arbeitsmotivation aus. Ich sah keinen Sinn mehr in all dem, was ich tat. Mein ganzes Engagement verlief irgendwo auf dem Weg von meinem Schreibtisch nach Italien und wieder zurück im Sand. Nur der Humor meiner Kollegin machte es einigermaßen erträglich. Sie hatte beispielsweise beschlossen, Emails, die von der Geschäftsführung kamen und länger als fünf Zeilen waren, ungelesen zu löschen. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Ich fragte: „Carola, hast du gelesen, was da wieder für ein Unsinn gekommen ist?“ und sie antwortet: „Nein, ist meiner Grundsatzverordnung Nr. 3 zum Opfer gefallen.“ „Und wie lautet diese Verordnung?“. „Lass dich durch Labersäcke und Vorgesetzte mit Profilneurose nicht von deinen eigentlichen Aufgaben ablenken.“ „Und deshalb löschst du Emails ungelesen?“ „Willst du nicht unter die Räder kommen, darfst du dem Wahnsinn nicht mit Logik oder gesundem Menschenverstand begegnen. Da bist du auf aussichtslosem Posten. Also immer schön auf der gleichen Welle reiten.“ Ich musste zugeben: „Wo du recht hast, hast du recht.“ Während ich immer wieder aufs Neue damit konfrontiert war, mit dem ganz normalen Wahnsinn umzugehen, zeichnete sich so nach und nach eine Änderung in der Geschäftsführung ab. Bisher gab es aber nur Gerüchte, etwas Genaueres wusste niemand.

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