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Johanna - on fire

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Ich wollte nochmal in den Saal zurückgehen und schauen, ob sich vielleicht nicht doch eine Gelegenheit bot mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Dabei lief mir der schöne Jesus wieder über den Weg. Mir gefallen eigentlich die etwas kräftigeren Männer. Der hier war einer von der dünnen Sorte. Nicht klapperdürr, sondern wie ein Langstreckenläufer. Er stellte sich mir als Igor vor. Ich konnte nicht sagen, woher er kam, aber er war auf keinen Fall ein Deutscher. Bei der Begegnung vor dem Haus dachte ich, er sei Franzose, aber als er jetzt sprach und auch immer wieder ins Englische wechselte, hörte sich sein Akzent nicht französisch an. Wir unterhielten uns über das Konzert und auf Nachfrage erfuhr ich, dass er Pole war, lange in Frankreich gelebt hatte und hier in der Nachbarschaft lebte. Er arbeitete irgendetwas mit Holz. Er sprach über Skulpturen und eine Schreinerwerkstatt, aber ich verstand nicht so recht, was er wirklich machte. Was ich sehr wohl verstand, war, dass er mir anbot, mir seine Arbeiten bei sich zu Hause zu zeigen. Künstler? Aufreißer? Oder beides? Wie immer, wenn mein Herz spontan ja sagt und gleichzeitig mein Kopf anfängt tausend Gegenargumente auf einmal zu produzieren, sagte ich gar nichts dazu.

Kennt ihr Ally McBeal, die amerikanische Serie? Ally hat einen Kollegen, der in solchen Momenten den Kopf in den Nacken legt, seine Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger nimmt und sagt „Ich bin verwirrt und muss kurz innehalten“. Ich konnte das so gut nachvollziehen. Mir ging es ähnlich und es wäre hilfreich in solchen Momenten, die Zeit kurz stillstehen zu lassen. Der emotionalen Aufregung einen Namen geben und sie etwas abklingen lassen, in der Zwischenzeit kann sich der Kopf beruhigen und man ist wieder handlungsfähig. Ich sollte mir diese Marotte wirklich angewöhnen! Es musste nicht dramatisch wirken, ein einfaches „damit bin ich gerade überfordert“, würde schon ein Anfang sein. Aber noch blieb ich in solchen Situationen stumm und versuchte, ein verbindliches Gesicht zu machen.

Während ich mich also bemühte, mir meine Verwirrung nicht anmerken und meinem Gegenüber auch nicht wissen zu lassen, was gerade für ein Film bei mir ablief, war der Seebär hinter mir aufgetaucht. Genialer Zeitpunkt! Igor wollte wissen, ob wir uns schon kennen gelernt hätten, stellte ihn als Anjou vor und fragte den auch gleich noch, ob er nicht eine Flasche Wein für uns hätte. Wieder kam meine konservative Seite zum Einsatz, die dachte: „Klar, kein Geld, um die Musiker zu bezahlen, aber Alkohol ist immer da.“ Vollkommen wertfrei, versteht sich!

So war das an dem Abend. Die nächsten paar Stunden waren nicht spannend. Wir, also Igor und ich, saßen zusammen mit ein paar Leuten aus der Gemeinschaft, man unterhielt sich und zwischendurch spielte Anjou auf einem der Flügel. Etwas später kamen auch die Musiker zu unserer kleinen Runde. Ich war aus dem Gespräch ausgestiegen. Mein Kopf fühlte sich wie ein Ameisenhaufen an. Tausende Gedanken, von denen scheinbar kein einziger zielgerichtet irgendwo ankam und doch kreisten sie alle um einen Mittelpunkt. Dieser Mann strahlte eine Energie aus, die mich in eine Luftblase packte. Alles, was um mich herum passierte, war wie durch eine unsichtbare Schicht von mir abgetrennt. Ganz klarer Fall, meine Hormone spielten verrückt! Ich war verunsichert und nachdem ich sowieso nichts mehr von der Unterhaltung mitbekam, entschied ich, den Rückzug anzutreten. Sehr raffiniert, denn das brachte wieder Bewegung in meine Umlaufbahn. Ich stand auf und wünschte einen schönen Abend in die Runde. Igor folgte mir und ich wollte mich mit einer Umarmung verabschieden. Doch daraus wurde nichts. Wie selbstverständlich nahm er mein Gesicht zwischen seine Hände und ich wurde geküsst wie (Tatsache!) noch nie in meinem Leben zuvor. Ich schmolz dahin. Er hatte es raus! Ich kann ihn immer noch schmecken! Es war nicht nur, dass sein Mund und seine Zunge sanft und trotzdem voller Leidenschaft den meinen berührten und streichelten. Eine Hand lag ganz zart auf meiner unteren Gesichtshälfte. Sie schenkte mir Geborgenheit, schützte und hielt mich, während ich die andere sanft in meinem Rücken spürte. Habe ich schon gesagt, dass ich dahinschmolz? Ich war Wachs in seinen Händen. Ganz ungeniert küsste er mich vor all den Leuten. Dabei wurde er fordernder und schürte das Feuer in mir gewaltig. Und auch hierbei bewies er wirklich Geschick. Es war kein schlabbriger, feuchter, ich-will-dich-vögeln-Kuss. Es war ein ästhetischer ich-will-mit-dir-Liebe-machen-Kuss. Und genauso sprach er das auch aus!

In dieser Nacht fuhr ich nach Hause, doch schon am nächsten Tag rief ich ihn an. Er kam zu mir und sein Kuss hatte nicht zu viel versprochen, er war ein grandioser Liebhaber. Neben dieser wunderbaren Fähigkeit, brachte er noch etwas anderes in mein Leben. Er kam aus einer vollkommen anderen Welt. Durch ihn fiel mir erst richtig auf, in welch geordneten Verhältnissen ich lebte. Eigenheim und festes Arbeitsverhältnis waren ihm so fremd, wie mir Sozialhilfe und zum Frühstück einen Joint rauchen. Bevorzugt tat er dies nackt in meinem Garten. Die Nachbarn hatten was zu schauen und was ich mit zwei Scheidungen bisher nicht geschafft hatte, war jetzt besiegelt, mein Ruf war endgültig ruiniert. Klar stand ein körperliches Bedürfnis im Vordergrund, aber wir haben auch andere schöne Dinge gemeinsam gemacht. Wir waren viel draußen, oft im Wald und an Flüssen, haben Steine gesammelt und Schwemmholz heimgetragen. Wir liebten beide die Kunst und dachten uns die verrücktesten Geschichten aus.

Mein Mitbewohner bekam davon Gott sei Dank nicht viel mit. Er meinte nur einmal: „Igor ist etwas merkwürdig, der lacht immer so verrückt! Aber im Grunde ist er ja ein ganz witziger Typ.“ Ob er das auch gesagt hätte, wenn er gewusst hätte, dass der merkwürdig Witzige schon des Öfteren mit seiner Gitarre gespielt hatte?

Jesus Igor war ein schräger Vogel. Er sagte einmal zu mir, dass er es unglaublich fände, dass ich mich nie beschwerte. Ich würde nie mit ihm rauchen und es trotzdem nicht an ihm kritisieren oder es ihm ausreden wollen. Daran musste ich noch oft denken, denn es stimmte nur zu Hälfte. Es machte mir tatsächlich nichts aus, dass er immer vollgedröhnt war. Ich kannte ihn nicht anders. Nichtsdestotrotz war mir nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass er sich ungeniert bei mir im Haus bewegte, so wie es ihm gerade gefiel. Er rüttelte stark an meinen Grenzen. Bewegten wir uns in der Natur oder liebten uns, mochte ich gerade seine unkonventionelle Art. Aber sobald wir Lebensbereiche betraten, die meinen Alltag ausmachten, fühlte ich mich unwohl. Es war, als würden sich die zwei Herzen, die in mir schlugen, gegenüberstehen. Das eine, wild und frei, tut was es gerade will. Das andere, nach Sicherheit strebend, wägt seine Schritte gut ab und ist von Vernunft geführt. Ich bewunderte seine Ungeniertheit, wollte gerne selber so sein und war doch in mir selbst gefangen. Wann immer dieser innere Konflikt auftrat, betete ich mir vor, dass es total normal sei, mit jemandem wie ihm zu verkehren und alles andere wären nur spießige und konservative Prägungen. Ich wollte so gerne die wilde, ungezügelte Abenteurerin sein und verdrängen, dass auch dieser ungeliebte Teil, der die Sicherheit brauchte, zu mir gehört.

Kopfstand

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