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ОглавлениеLiebe auf den ersten Blick
Herzensräuber
Es gibt sie wirklich, die Liebe auf den ersten Blick, auch wenn ich dieses Phänomen lange belächelt habe. Ich habe mich verliebt, ganz spontan und mit einer Intensität, die ich nie für möglich gehalten hätte. Jahrzehnte sind seitdem vergangen und aus der Verliebtheit ist eine tief verwurzelte Liebe geworden.
Wie an jedem Morgen seit Beginn meines Urlaubs, den ich in einer kleinen, familiären Pension in den Alpen verbringe, liegt er zur Frühstückszeit mit dem Kopf an der Schwelle zum Speiseraum, hat ein Bällchen in der Schnauze, kaut darauf herum und schaut sich alle Gäste gründlich an. Auch heute erwidere ich seine Blicke, bewundere die tiefbraunen, lebhaft funkelnden Augen, das lustige Bärtchen, die keck nach oben gerichteten Augenbrauen und die kleinen, v-förmigen Ohren, die er nach vorne gekippt trägt. Ich mag seine intensiven Farben, die tiefschwarze Decke, das rötliche Braun des übrigen Fells, das drahtige Haar, den muskulösen, kompakten Körperbau und die selbst im Liegen fröhlich getragene Rute, die mich jedes Mal anwedelt, wenn sich unsere Blicke treffen. Er ist ein Rassehund, ganz sicher, aber einer Rasse zugehörig, die mir unbekannt ist. Er muss gespürt haben, dass meine Aufmerksamkeit nicht mehr dem Frühstück gilt, und stupst sein Bällchen in den Raum, ohne mit der tiefschwarzen Nase auch nur einen Millimeter in den offensichtlich verbotenen Bereich des Frühstücksraumes zu geraten. Jetzt hält mich nichts mehr auf meinem Stuhl. Ich lasse Brötchen Brötchen sein, hebe den Ball auf und rolle ihn zum Hund zurück. Geschickt nimmt er ihn an, kaut ihn genüsslich zwei-, dreimal durch und schickt ihn erneut auf die Reise in den Gastraum. Ganz begeistert schaut er mich an, ja, ich habe fast den Eindruck, er grinst! Und so hocke ich auf dem Parkett; er liegt weiterhin auf der Schwelle und wir rollen uns gegenseitig den Ball zu, ohne einander räumlich näher zu kommen! Viel länger noch hätte ich dieses Spielchen genießen können, aber er folgt brav einem »Paul, komm her!« und verschwindet mitsamt Ball in den privaten Räumlichkeiten der Gastgeber.
Der obligatorische Morgenspaziergang bietet heute wenig Abwechslung. Schon zum x-ten Mal wandere ich straßauf, straßab an meinem Urlaubsquartier vorbei. Irgendwann muss er doch herauskommen, mein ballverliebter Herzensräuber, und ich bin wild entschlossen, so lange hin und her zu gehen, bis ich ihn samt Leinenhalter erwische. Keinen Blick habe ich für die Schönheit der Hochgebirgslandschaft. Stattdessen starre ich die Holztür der Pension an und habe das Gefühl, ich könnte aus dem Gedächtnis jeden einzelnen Schnörkel der gegendtypischen Schnitzereien aufzeichnen. Gut, dass ich meine Schnürschuhe trage, so kann ich beim Passieren des Hauses eine unverdächtige Pause einlegen, um die Senkel neu zu binden. Als ich noch intensiv mit dem rechten Schuh beschäftigt bin, fühle ich, dass mir jemand aufmerksam zusieht. Ich schaue auf, während ich krampfhaft nach einer plausiblen Erklärung für mein ständiges Schuhschnüren suche. Auf Augenhöhe befindet sich das Pelzgesicht, in das ich mich so verliebt habe, und eine feucht-warme Zunge schleckt über meine Nase.
Selbstverständlich nehme ich als Dritte im Bunde am Gassigang teil und sauge so viel Wissenswertes wie möglich über Paul, den ersten von mir bewusst wahrgenommenen Airedale-Terrier, auf. Und während ich mir die unterhaltsamen und informativen Erzählungen eines überzeugten Airedale-Halters über die Rasse und seinen Paul anhöre, begeistere ich mich immer mehr für meinen Herzensräuber und er sich für meine Schnürsenkel. Zielsicher öffnet er sie bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit und ich bin überzeugt davon, dass er sich und mir damit einen Gefallen tun will. Bei der Beobachtung meiner unzähligen Bindeübungen vor seiner Haustür musste er den Eindruck gewonnen haben, meine Lieblingsbeschäftigung sei das Zubinden von Schnürsenkeln. Wie passend, seine ist eindeutig das Aufziehen!