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Plötzlich fiel ihr auf, dass in den Szenevierteln Berlins lauter Teen-Angel-Jason-Priestley-Kopien herumliefen. Clara überkam ein nostalgisches Gefühl und sie erinnerte sich an das Ende der Neunziger Jahre zurück, als sie von einem Kind gerade zu einem Teenager mutierte. Sie fand alle Mädchen, die auch nur mindestens ein Jahr älter oder einen Zentimeter größer und ein Gramm schlanker waren als sie, furchtbar cool. Na ja, ehrlich gesagt, fand sie damals alles „geil“ und ihr Lieblings-Schimpfwort war „du Ficker“, was sie am häufigsten zu ihrer älteren Schwester Carina sagte. Vom Style und von der Coolness her waren die Neunziger Jahre für sie die Hölle. Aber die etwas älteren Jungs auf ihrer Schule waren der Himmel, die Teen Angels mit so hübsch zurückgebürsteten Haaren, von denen eine kleine Strähne immer sanft in die Stirn fiel. Clara liebte es, sie in der Pause heimlich anzugaffen und träumte davon, auch irgendwann (wenn überhaupt) einmal einen festen Freund zu haben. Sie versuchte sich vorzustellen, ob so ein Teen Angel sich in eine pummelige und pickelige Clara mit Kuhaugen verlieben könnte. Dabei hatte bestimmt jedes zweite Mädchen als junger Teenager einmal daran gezweifelt, jemals einen Jungen abzubekommen! Es gab tatsächlich Zeiten, in denen Clara stark daran gezweifelt hatte, dass sich überhaupt irgendwann mal ein Junge in sie verlieben würde.

Dann passierte es schneller als es Clara lieb war: Im Alter von 15 Jahren, als sie noch in Zehlendorf lebte, hatte Clara ein traumatisches Erlebnis. Sie ging wie immer morgens aus dem Haus, um mit dem Bus zur Schule zu fahren. Es war ein recht dunkler Herbstmorgen und es wurde eine Arbeit in Französisch geschrieben, für die sie kaum gelernt hatte. Verträumt ging sie den von Bäumen gesäumten Weg zur Bushaltestelle entlang. Am ersten Baum flatterte ein weißes DIN A4-Blatt. Bestimmt wieder eine vermisste Katze, dachte Clara. Am nächsten Baum flatterte ebenfalls so ein weißer Zettel. Die Katze muss ja sehr schlimm vermisst werden, dachte sich Clara. Flüchtig schaute sie drauf und las ihren Namen. Ein Schauer durchfuhr sie.

Sie ging näher ran und las:

Liebe Clara,

wann bist du mal bereit,

und hast ein paar Stunden für mich Zeit?

Ich möchte dir so vieles sagen,

und dies nicht erst seit drei Tagen.

Zum einen, wie sehr ich dich begehre,

und dabei auch noch verehre!

Zum andern, wie sehr du füllst mein Herz,

nein, auch dies ist kein Scherz!

Bitte ruf mich an!

Dein B.M.K.

Oh, nein! Clara durchfuhr ein Schock. Ihr wurde schlecht und kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Haut. B.M.K.? Wer war das? Sie blickte auf und sah, dass an jedem der zwölf Bäume, die den Weg entlang standen, eine Kopie dieses Briefs gepinnt war. Im ersten Moment wollte sie losrennen und alle Zettel abreißen. Sie wollte aber auch nicht den Bus verpassen. Außerdem wüsste dann ja jeder, dass sie damit gemeint war. Kurz hoffte sie, dass der Brief vielleicht doch an eine andere Clara adressiert sein könnte. Aber sie war die einzige Clara in ihrer Straße und in ihrem Block. Also beschloss sie, einfach ruhig weiterzugehen und alles zu ignorieren.

An der Bushaltestelle standen bereits die anderen Schüler aus allen Jahrgängen und schauten sie erwartungsvoll an. Clara wollte einen unbeteiligten Eindruck machen. Vielleicht wussten ja nicht alle ihren Namen. Die Kleinen aus der Unterstufe garantiert nicht. Doch selbst an der Bushaltestelle hingen überall die Kopien des Liebesbriefs. Alle hatten den Brief gelesen und grinsten. Selbst an der Bushaltestelle gegenüber hingen die Zettel. Clara hatte Angst, dass er sogar noch die Schule damit zugepflastert haben könnte. Was sollte sie jetzt tun?

»Bist du damit gemeint, Clara?«, fragte Jennifer, die eine Jahrgangsstufe über ihr war.

»Ja, ich befürchte, er meint mich«.

»Du Arme! Wann hast du ihm denn so den Kopf verdreht?«

»Ich weiß nicht einmal, wer das ist!«

»Doch, das ist Smelly aus Schmargendorf.«

»Smelly? Den kenne ich nicht.«

»Aber er hat anscheinend ein Auge auf dich geworfen!«

Für einen kurzen Moment überkam Clara ein freudvolles Gefühl, aber „Smelly“ ließ allein vom Namen her nichts Gutes erahnen.

»B.M.K. Das sind die Initialen von Brian-Marcel Klausner aus unserer Parallelklasse«, erklärte Jennifer. »In der Schule nennen ihn aber alle nur Smelly, weil er so stinkt.«

Es gab diverse Gerüchte darüber, warum und nach was er stank. Die einen meinten, er roch wohl immer schlimm nach Zigarettenqualm, weil seine Eltern zu Hause so viel rauchten. Jennifer wusste, dass er aus Kostengründen, die Dusche nur in der Woche benutzen durfte. Und weitere Mitschüler berichtete von einer riechenden Fretchen-Zucht im Hause Klausner. Er war der Loser des ganzen Jahrgangs. Clara wollte sich nicht über ihn lustig machen, wie die anderen Schüler. Sie hatte eher Mitleid mit ihm, aber nahm sich vor, sich von ihm fern zu halten, weil er als uncool galt und weil er nun mal miefte.

»Wir können ihn dir in der Pause mal zeigen«, schlug Jennifer vor.

»Nein, danke! Haltet mich bloß von ihm fern!«

Brian-Marcel war kein Teen Angel und er hatte natürlich auch keine Jason-Priestly-Frisur. Die Haare von Brian-Marcel glichen eher der Cartoon-Figur Ralph Wiggum von den Simpsons. Platte, fettige Strähnen, die zu allen Seiten herunter an seiner Birne festklebten und bitter nach kaltem Aschenbecher stanken. Sie empfand wirklich Mitleid mit ihm, aber sie war gerade selbst noch dabei, sich an der neuen Schule einen guten Ruf aufzubauen, da konnte sie sich unmöglich mit Smelly sehen lassen.

Jennifer zeigte sich emphatisch und schlug vor, dass sie ihn einfach anrufen und ihm erzählen solle, dass sie bereits einen Freund habe. Aber Clara hatte keinen Freund. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt und konnte sich auch nicht vorstellen, in näherer Zukunft einen Freund abzubekommen.

Warum konnte ihr keiner von den coolen, hübschen und beliebten Jungs solch eine Liebeserklärung machen? Warum ausgerechnet Smelly?

Andererseits hätte das aus heutiger Sicht wesentlich schlimmer ausgehen können. Heutzutage hätten die anderen Kinder an der Bushaltestelle den Zettel abfotografiert, öffentlich auf Facebook oder Instagram gepostet, in sämtlichen WhatsApp-Gruppen rumgeschickt und er wäre viral gegangen bis „Notes of Berlin“ den Brief sogar noch veröffentlicht hätte. Die Follower und Freunde hätten gelacht und bestimmt wissen wollen, wer denn diese arme Clara sei. Dann hätten die Kinder Clara heimlich im Bus fotografiert, wie sie verträumt oder traurig aus dem Fenster starrte und dieses Bild hinterherschickt. Spätestens nach der großen Pause hätte es dann peinliche Bild-Collagen von Clara und Smelly gegeben, mit peinlichen Emojis darauf und lustigen Sprüchen darunter. Wenn nicht sogar perversen Sprüchen.

»Klausner«, meldete sich eine weibliche Raucherstimme im leicht gestressten Tonfall, als am Abend Clara anrief. Es war offensichtlich Smellys Mutter.

»Hallo, hier ist Clara. Ist Brian zu sprechen?«

»Brian-Marcel!«, brüllte sie.

»Oh ja, meinte ich doch«, sagte Clara schüchtern und entschuldigend, aber bemerkte im nächsten Moment, dass sie gar nicht gemeint war.

»Telefon für dich!«, rief seine Mutter nach ihm.

»Hallo?«, sagte Brian-Marcel kurz darauf müde.

»Hey, das war echt eine coole Aktion von dir, aber ich habe doch einen Freund!“, sagte sie ihm entschuldigend.

»Oh. Wieso sieht man nichts von ihm?«, wollte Brian-Marcel

wissen.

Clara errötete, sie konnte nicht lügen, doch in diesem Moment wusste sie sich einfach nicht besser zu helfen. Sie kam sich so unreif vor, was sie auch war und wollte nur, dass dieses unangenehme Telefonat vorüberging und er sie für immer in Ruhe lassen würde.

»Er ist etwas älter. Er geht auf eine andere Schule und will noch nicht, dass seine ganzen Freunde uns sehen«, antwortete sie aufgeregt.

»Schade. Ich geh dann mal weiterzocken. Ciao!«, reagierte er emotionslos und legte den Hörer auf.

Wie sie es hasste, zu lügen. Hoffentlich hätte sie bald einen festen Freund! Dann wäre auch das schlechte Gewissen wieder beruhigt.

Diese Phase der Hoffnungslosigkeit änderte sich nach ihrem sechzehnten Geburtstag rasend schnell. Sie fand sich zwar immer noch nicht viel attraktiver als mit zwölf Jahren, aber sie war mutiger geworden. Als Kind hatte sich Clara selten Gedanken darüber gemacht, nicht normal zu sein oder wodurch sich „normal sein“ überhaupt definierte, dann versuchte sie es irgendwie, aber bekam selten die Chance dazu. Sie hasste es, wenn man ihr indirekt einredete, dass ihr Traum, Schauspielerin zu werden, nur eine kindische Schwärmerei sei. Denn als Kind hatte sie noch das Gefühl, alles werden und erreichen zu können, was sie möchte, aber als Teenager war sie schüchtern und hatte nur ihre Freundinnen, ihre Boygroups und ihre schlechten Noten in der Schule.

Geändert hat sich das erst, als eine Freundin sie dazu überredete, bei der Theatergruppe in der Schule in dem Stück „Arsen und Spitzenhäubchen“ mitzumachen. Clara war mit ihren 16 Jahren die Jüngste und sie wurde in dieser Gruppe zum ersten Mal direkt mit Jungs konfrontiert. Es war für sie grauenhaft und wunderschön zu gleich. Sie fand es toll, ihren Wunsch nach Schauspielerei auszuleben, auch wenn sie nur Officer O'Hara spielen durfte und bloß ein paar Zeilen Text auswendig zu lernen hatte, dass es nicht mal für echtes Lampenfieber reichte. Und wenn, dann hatte sie kein Lampenfieber, weil sie Angst hatte, den Text zu vergessen, sondern sie hatte Angst vor den Blicken. Angst vor den Blicken auf ihren pummeligen Körper, der in der viel zu engen Polizei-Uniform steckte. Trotzdem war sie in der Theatergruppe an ihrer Schule. Das sollte schon was heißen. Ihre eigentlichen schauspielerischen Künste liefen aber nicht auf der Bühne, sondern dahinter ab. Zum Beispiel als man sie nach der Generalprobe bat, ein Tablett mit leeren Sektgläsern in das Lehrerzimmer zu tragen.

»Das ist nicht euer Ernst? Ich lasse bestimmt was fallen!«, trällerte Clara gespielt, wobei sie natürlich so ins Schwanken geriet, dass es zwei Sektgläser zerlegte. Dabei wollte sie nur spielen und dieses „Oh, Clara, ist dir was passiert?“ von den Jungs hören. Vielleicht war es bescheuert, aber sie fand es in diesem Moment lustig. Ein schlechtes Gewissen wegen der beiden Sektgläser hatte sie zwar schon, aber der Stolz, dass sie es sich wirklich getraut hatte, diese Szene zu spielen und vor allem, dass es ihr alle abgekauft haben, war viel größer.

In der Gruppe fiel ihr besonders Björn, der drei Jahre älter war, sofort ins Auge. Sie beobachtete ihn ununterbrochen, schaute bei seinen Proben zu und war einfach ein bisschen verknallt. Nach den Proben bat sie ihn immer wieder darum, dass er sein Hemd vor der Premiere bügeln solle, auch wenn er einen Verrückten spiele, der sich für Präsident Roosevelt hielt. Selbstverständlich wollte Clara nur seine Aufmerksamkeit erregen und bekanntlich neckt sich ja, was sich liebt.

Björn gab ihr zwei Tage vor der Premiere sein Hemd mit, welches sie dann schließlich bügeln durfte. Natürlich schlief sein Hemd erstmal zwei Nächte in ihrem Bett bevor es gebügelt wurde. So war man eben als 16-jähriges Mädchen. Naiv und plötzlich verliebt.

Einen Monat später kam sie mit Björn zusammen. Er war ihr erster Freund und mit ihm fing alles an.

Die Sache mit den Männern.

Kein Date ohne Katastrophe

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