Читать книгу Kein Date ohne Katastrophe - Annie Sattler - Страница 4
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ОглавлениеClaras letzter Freund Lars war DJ, hauptberuflich jedoch in einer Lebenskrise. Er sah aus wie Cat Stevens im Jahre 1970, besaß aber wenig Selbstwertgefühl und war dafür regelmäßig voller Aggressionen. Man hatte irgendwann ADS bei ihm diagnostiziert und er nahm täglich die Selbstoptimierungs-droge Ritalin. Dabei dachte Clara immer, das sei eine Grundschulkrankheit und bei Erwachsenen hieße es einfach Depression oder Burnout. Lars surfte einst steil auf der Welle des ersten Wirtschaftsbooms nach der Jahrtausendwende und verdiente mit seiner kleinen, jungen und anfangs unerfahrenen Eventagentur in Berlin viel Geld, bis die Konkurrenz zu groß war, die Aufträge ausblieben und zeitgleich die Finanzkrise herannahte. Darauf folgten die Privat-Insolvenz und viele Jahre lang nur noch Gelegenheitsjobs als DJ.
Anfänglich fand Clara es cool, in den Berliner Clubs, in denen er auflegte, die First-Lady zu sein. Sie holte ihm immer ein frisches Bier und animierte unzählige Gäste, lachend und glücklich in die Kamera zu schauen, um Fotos für seine Website und Social Media Accounts zu machen. Mit Fotos wollte Lars der Welt zeigen, dass die Menschen nirgendwo so glücklich feierten wie bei ihm, DJ Groove Daze!
Clara tanzte vor dem DJ-Pult, meist umgeben von Mädchen, die alle einen Kopf kleiner und leider auch viel zierlicher waren als sie, und verscheuchte zugedröhnte Jungs, die sich, über seine Turntables hängend, irgendwelche alten Songs wünschen wollten. Wenn, dann durfte nur sie sich einen Song wünschen! Meistens war es „Born Slippy“ von Underworld, den Lars aber immer nur als Running-Gag zu ganz später Stunde spielte, weil es eben ein alter Song war. In seine wohlüberlegten Sets kamen keine Evergreens hinein.
Doch irgendwann wurden die Nächte langweilig. Wenn Lars stundenlang seine Musik auflegte, war er in einer anderen Welt. Clara hingegen sehnte sich nach Kommunikation. Wenn sie Glück hatte, waren Freunde von ihm dabei oder es kam mal eine Freundin von ihr mit. Die Nächte wurden zu einem richtigen Ausdauertraining für sie. Bis 6:00 oder 7:00 Uhr morgens musste sie wach bleiben, um ihn dann noch nach Hause zu fahren. Aus finanziellen Gründen wohnte er etwas außerhalb Berlins, während Clara in einer noch halbwegs bezahlbaren Zweiraumwohnung in Charlottenburg lebte. Lars besaß zwar ein Auto, hatte aber nie Geld zum Tanken übrig und wegen seinen schweren Plattenkoffern weigerte er sich, die S-Bahn zu nehmen. So kam es, dass Clara in ihrer Freizeit nicht nur seine feste Freundin, seine Partyfotografin und seine persönliche Assistentin war, sondern auch seine Chauffeurin. Wenn sie sich beklagte, dass sie so müde war, erinnerte Lars sie immer in einem gestressten Ton daran, dass er ja gerade die ganze Nacht gearbeitet habe, während sie sich bloß amüsiert hätte. Genauso wie er immer betonte, dass er ja früher Drogen konsumiert habe, während Clara sie ja nur mal ausprobiert hätte. Als ob man darauf stolz sein könnte!
Auf ein Ereignis war er tatsächlich besonders stolz. Bei einer Razzia in einem Club vor zwei Jahren hatte Lars noch fünf Ecstasy-Pillen in seiner Hosentasche und warf sie sich schnell alle auf einmal ein, weil sie seiner Meinung nach zu schade zum Wegschmeißen waren und er sich damit natürlich nicht erwischen lassen wollte. Anschließend lieferte er sich selbst in ein Krankenhaus ein, wo ihm erst einmal der Magen ausgepumpt wurde und er vier Tage entgiften und unter unglaublicher Übelkeit leidend ausnüchtern musste. Daher kam bestimmt auch sein ADS, vermutete Clara.
»Ich hätte mich einfach zu Hause in mein Bett legen sollen! Das wäre der beste Trip meines Lebens geworden!«, prahlte er nach der Genesung in seinem Freundeskreis herum.
Das fand Clara im Nachhinein auch. Denn bestimmt wäre es dann auch der letzte Trip seines Lebens gewesen und sie wäre ihm niemals begegnet.
Hin und wieder ging sie damals mit ihrer Freundin Sunny ins Moonstruck, um auch mal auf anderen Partys zu feiern. Sunny kannte den Besitzer Marlon und hatte mit ihm einen lukrativen Deal ausgemacht: Sie beide bekamen jeweils 50 Euro und zwei Freigetränke, wenn sie von 22:00 Uhr bis Mitternacht die noch leere Tanzfläche füllten. Zuerst holten sie sich immer einen Gin Tonic, dann tanzten sie dicht beieinander und schauten sich tief in die Augen, wenig später warfen sie dann umstehenden Kerlen aufreizende Blicke zu und lockten sie auf die Tanzfläche. So kam die Party schneller in Schwung und die Leute verteilten sich im Raum. Als Marlon Clara einmal Drogen in ihren Cocktail gemischt hatte, fand sie diesen Job allerdings nicht mehr so lustig und nahm sich vor, beim nächsten Mal einfach besser aufzupassen.
Sunny hieß eigentlich Susanne, doch sie selbst fand, dass der Name aufgrund seines biederen Klangs überhaupt nicht zu ihr passte. Sie war im Gegensatz zu Clara ziemlich schlank und hatte zudem ein bildhübsches Gesicht, das die Blicke der Männer anzog wie ein Magnet. Leider ließ sie sich oft zu schnell mit einem Mann ein und führte nie lang andauernde Beziehungen. Wenn sie mal wieder Single war, schnallte sie sich den Rucksack auf und reiste allein durch Europa. Mit wenig Geld und mit noch weniger Angst im Gepäck. Noch vor zehn Jahren war sie getrampt, inzwischen bevorzugte sie das Reisen über die Mitfahrzentrale oder mit Fernbussen. Sie schlief dann in Jugendherbergen oder übernachtete per Couchsurfing in fremden Wohnzimmern. Zudem liebte Sunny es, neue Freunde mit exotischen, internationalen Namen auf Instagram und Facebook zu sammeln sowie kleine Fähnchen auf ihrer „Hier bin ich schon überall gewesen“-Karte zu platzieren. Wenn sie wieder in Berlin war machte sie fast jede Nacht zum Tag, ging nach dem Feiern noch zum Yoga und traf sich anschließend zum Brunchen. Sie war freiberufliche Mediengestalterin, hatte zwar wenige, aber dafür gut bezahlte Aufträge und legte mehr Wert darauf, sich lieber eine schöne, wilde Zeit zu machen, als sich mit Gedanken über ihre Finanzen oder ihre Rente zu plagen. Beim Ausgehen ließ sie sowieso irgendwelche Männer meist ihre Drinks bezahlen und wenn das Geld doch mal länger knapp war, half sie in einer Bar hinter der Theke aus. Sunny war immer unterwegs. Wollte sie einmal ausschlafen, so trug sie sich „Ausschlafen“ in ihren Terminkalender ein.
Clara hatte Sunny damals auf einer Party in einem recht kleinen Club, mit einem überraschend jungen Publikum kennengelernt. Clara fühlte sich zehn Jahre älter, als die meisten Mädels, die auf der Tanzfläche rumhüpften. Da half nur Alkohol. Irgendwann in der Nacht stand sie in der Damentoilette vor dem Spiegel und zog sich den Lippenstift nach, als sie im Spiegelbild eine auffallend schöne Frau aus eine der Toilettenkabinen kommen sah. Clara drehte sich um, strahlte sie an und sagte: »Ich bin ja so froh, dass hier noch jemand über 20 ist!«
Sunny lachte, denn sie war damals schon 30, sah aber deutlich jünger aus. Sie holte ihr Notizbuch raus und bat Clara ihre Handynummer reinzuschreiben. »Lass uns mal einen Kaffee trinken gehen!«. Seitdem zog sie mit Sunny regelmäßig um die Häuser.
Eines Abends war Clara mit Sunny auf der Hammer-Party im Millennium, die von einem Mode-Designer namens Maik Hammer, der durch überwiegend negative Schlagzeilen einen gewissen Bekanntheitsgrad genoss, veranstaltet wurde. Sie hatte keine Lust, ihren damaligen Freund zu einem Set zu begleiten und wollte mit Sunny allein feiern gehen. Die Location war der reinste Baggerschuppen. Sunny hatte gehört, diese Partys seien ein bisschen wie Tinder, nur offline. Ständig wurden sie angesprochen, am Rücken berührt oder am Handgelenk festgehalten. Sunny und Clara erzählten den besonders lästigen Typen, dass sie beide Psychologie studierten und heute Abend nur hier seien, um ein Experiment für eine Hausarbeit zu machen, in der Hoffnung, in Ruhe gelassen zu werden. Ein besonders schmieriges Exemplar kam wie Johnny Depp in Don Juan DeMarco direkt auf sie zu. In diesem seifigen Gesichtsausdruck hätte nur noch eine Rose zwischen den Zähnen gefehlt. Clara wusste, dass er zuerst Sunny ansprechen würde. Sie war blond, hatte große blaue Puppenaugen und war zwei Zentimeter größer als sie – heute sogar vier, da sie höhere Absätze trug.
»Äh, eine Frage!?«, schnalzte es aus Don Juans Mund.
»Was?«, schoss Clara zurück.
»Seid ihr Zwillingsschwestern?«, wollte er wissen und deutete dreimal abwechselnd auf sie.
Sunny trat näher an ihn heran und hauchte schwach: »Für dich sind wir alles!«
Clara erkannte die Ironie.
Don Juan nicht.
»Mega, cool!«, grinste er und fuhr sich unsicher durch sein mit Gel verklebtes Haar.
»Ich bin Djego. Wie heißt ihr?«
»Ich bin Sunny!«, trällerte ihre leicht angetrunkene Freundin.
Spinnt die? Seit wann verrieten wir denn solchen Typen unsere echten Namen, wunderte sich Clara. Normalerweise stellten sie sich bei diesen Männern immer als Bärbel und Hannelore vor, um sie schnell los zu werden.
»Und ich bin Claudi!«, brüllte Clara Don Djego an.
»Oh, wie reizend! Sunny und Claudi, darf ich euch einen Prosecco ausgeben?«
»Claudi? Was Attraktiveres ist dir nicht eingefallen, Clara?«, fragte Sunny verdutzt nach, als sie Djego zur Bar folgten.
»Doch, das klingt wie cloudy! Sunny und Cloudy! Der checkt das doch eh nicht!«
Nach dem Sektchen ließen sie Djego-Spacko stehen und verschwanden schnell auf die Tanzfläche.
»Warum haben wir uns von dem eigentlich was ausgeben lassen?«, fragte Clara.
»Weil er es angeboten hat. Ich verstehe auch nicht, was die Männer sich immer davon versprechen.«
Irgendwann weit nach Mitternacht hatte Sunny die Idee, den Veranstalter Maik anzutanzen. Er saß in einer Sofaecke, umgeben von schicken Leuten und den Tisch voll mit Magnum-Wodkaflaschen. Clara bemerkte nicht, wie betrunken ihre Freundin in Wirklichkeit schon war. Als Sunny vor seinem Tisch stand, begann sie ihm betörende Blicke zuzuwerfen, an ihrem dicken Cocktail-Strohhalm zu lutschen und ihre Hüften zur Musik kreisen zu lassen. Herr Hammer bemerkte sie sofort und winkte sie zu sich herüber. Sunny schlängelte sich an der Schickeria vorbei, um den Tisch herum und setzte sich rechts neben ihn. Clara hingegen war ziemlich sauer, dass sie sie allein stehen ließ. Also quetschte sie sich vier Minuten später auf der anderen Seite um den Tisch herum und platzierte sich links neben Maik Hammer. Dieser hatte aber nur Augen für Sunny, flirtete mit ihr und lehnte sich so weit zu ihr hinüber, dass er mit seinem fetten Kinn fast in ihrem Dekolleté lag.
»Bei der würd‘ ich aufpassen! Die ist Psychologin!«, schrie Clara in sein Ohr.
Er guckte bloß kurz zu ihr hinüber und wandte sich wieder Sunny zu, die gerade ihre Telefonnummer in sein Handy eintippte. Clara griff nach einer Wodkaflasche und trank einen großen Schluck daraus. Als sie die Flasche wieder absetzte, machte der Maik mit seinem Handy gerade ein Foto von Sunny. Clara lehnte sich wieder zu ihm rüber und startete noch einen weiteren Ablenkungs- und Befreiungsversuch, um ihre Freundin wieder zurück zu bekommen.
»Ey, Mister Hammer, ich habe im Internet gelesen, dass deine Mama auch bei Onkel Toms Hütte wohnt, stimmt das? Ich bin dort aufgewachsen!«
Er sagte nichts und musterte sie von oben bis unten und zurück. Dann wanderte sein Blick zu einem jungen Security-Mitarbeiter, der vor dem Tisch stand und sich mit ernster Miene nur auf die Hinterteile der tanzenden Mädels konzentrierte.
»Hey, Junge!«, rief Maik zu ihm und winkte ihn zu sich heran. Der Security-Typ kam auf ihn zu und beugte sich zu ihm herunter.
»Hier, bring die Olle mal raus, setz sie in ein Taxi und sorg dafür, dass sie zurück nach Zehlendorf fährt«, befahl Maik ihm und steckte ihm ein paar Geldscheine in die Brusttasche.
»Aber ich will dort doch gar nicht hin!«
»Tut mir leid, aber du musst jetzt gehen. Ich bringe dich zur Tür«, sagte der Sicherheitsmann, griff Claras Arm und zerrte sie vom Tisch weg.
»Sunny, ich rufe dich gleich an! Ich kläre das hier mal eben schnell!«, rief sie ihrer Freundin zu, die nur kurz nickte und ihre Aufmerksamkeit dann wieder dem Hammer schenkte.
»Komm jetzt mit, schnell!«, sagte der Typ und zog Clara durchs Millennium.
»Hey, ich muss aber noch meinen Mantel holen!«, protestierte sie.
Er verdrehte die Augen und begleitete sie zur Garderobe. Clara stellte sich seelenruhig an die lange Warteschlange an und suchte in ihrer Tasche ganz entspannt nach ihrer Marke mit der Garderobennummer. Kaum hatte sie diese gefunden, riss sie ihr der Security-Typ aus der Hand und drängte sich nach vorn. Eine Minute später hatte sie ihren Mantel über dem einen und den Security-Typ am anderen Arm, der sie weiter zum Ausgang zog, als hätte er seine ganze Security-Karriere lang nur darauf gewartet, mal den „Bad Cop“ spielen zu dürfen.
Draußen vor der Tür grinste er sie auf einmal an und sagte in einem überraschend freundlichen Ton: »Hey, ich habe dich jetzt rausgebracht, aber von mir aus kannst du natürlich auch wieder reingehen!«
Clara runzelte skeptisch die Stirn.
»Wie viel Geld hat der Hammer dir gegeben?«, fragte sie scharf nach.
Er zog einen Fünfzig-Euroschein aus seiner Brusttasche. Clara riss ihm diesen aus seinen Fingern, bedankte sich lächelnd und stieg ins nächste Taxi ein. Wow, dachte Clara, im Moonstruck bekam sie 50 Euro, dass sie auf der Tanzfläche blieb und im Millennium gab man ihr Geld, damit sie den Club verließ. Verrücktes Nachtleben!
Mit dem Geld von Hammer fuhr sie natürlich weder zu Onkel Toms Hütte noch nach Hause, sondern weiter in die Soundgrotte, einem Keller-Club, in dem Lars gerade auflegte. In dieser Nacht waren erstaunlich viele Freunde von Lars. Alle umarmten Clara und freuten sich, dass sie doch noch vorbeikam.
Alle, bis auf Lars.
Er ignorierte Clara, was sie aber zunächst nicht wahrnahm, sondern auf seine Konzentration beim Auflegen schob. Es störte sie auch nicht weiter, denn sie versuchte mehrfach, Sunny zu erreichen, die jedoch weder ihre Anrufe annahm noch ihre Nachrichten erwiderte. Clara machte sich keine großen Sorgen um sie, sondern überlegte vielmehr, wie sie an ihren Schlüssel kommen sollte, die noch bei Sunny in der Wohnung lag. Sie hatten vor der Hammer-Party eine Flasche Sekt bei Sunny getrunken und Clara zog sich auch dort um, weil Sunnys Wohnung zentraler war und sie in ihren kurzen Klamotten nicht so weit durch den kalten Abend stöckeln mussten.
Wahrscheinlich stand Sunny wieder nackt auf irgendeinem Balkon. Sie liebte es, während ihr One-Night-Stand schlief, nackt auf seinen Balkon zu stehen und eine Zigarette zu rauchen – bei fast jeder Außentemperatur. Es war ja nicht ihr Balkon und man würde sie dort nie wiedersehen.
Clara teilte Lars, der schwitzend hinter seinem DJ-Pult stand, mit, dass sie nach der Party wohl mit zu ihm kommen müsste, da sie sonst heute Nacht obdachlos sei, weil Sunny verschollen war. Irgendwie schien er nicht sehr begeistert darüber zu sein, nahm Clara aber widerwillig mit. Besser gesagt, sein Freund Olli nahm sie mit, denn er hatte sich in dieser Nacht erbarmt, den Chauffeur zu spielen.
Als sie am frühen Morgen ein paar Stunden geschlafen hatten, machte Lars aus heiterem Himmel und aus fadenscheinigen Gründen mit Clara Schluss, aber fuhr sie noch zurück zu Sunny. Für diese Strecke waren ihm seine wertvollen Benzinreste im Tank nicht zu schade.
Auf der Fahrt sprach Clara kein Wort und weinte unaufhörlich.
»Du siehst aus, als hättest du gekifft!«, kommentierte Lars ihre roten Augen, als er vor Sunnys Wohnung hielt.
Clara antwortete nicht. Obwohl sie ihn nicht ansah, fühlte sie, dass er grinste. Sie stieg aus dem Wagen aus, schleppte sich, ohne sich noch einmal umzusehen, zu Sunnys Haustür und wollte nur noch heraus, aus dieser grausamen Situation. Egal wohin, Hauptsache weg von diesen Schmerzen. Ja, Schmerzen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Clara richtig fiese Kopfschmerzen und vermutete, dass sich so Migräne anfühlen musste. Sollte sie in nächster Zeit anfälliger sein für diese Art von Kopfschmerzen, dann wusste sie, wer ihre Migräne ausgelöst hatte.
Clara klingelte Sturm bei Sunny und war schockiert, aber erleichtert als Sunnys Ex-Freund Ben, den seit einem halben Jahr niemand mehr zu Gesicht bekommen hatte, die Haustür öffnete. Schockiert war sie darüber, dass er die Nacht bei ihr verbracht hatte, jedoch froh, dass Sunny nicht mit diesem alten Maik Hammer abgestürzt war.
»Was machst du denn hier, Ben?«
»Ich gehe!«, sagte er trocken und lief in großen Schritten die Straße Richtung U-Bahn hinunter. Clara stieg die Treppen zu Sunnys Apartment hoch.
»Oh, gut, dass du da bist, Clara! Du glaubst nicht, was mir passiert ist!«
»Nein, du glaubst nicht, was mir passiert ist!«, gab sie zurück und berichtete ihr unter Tränen, dass Lars sie verlassen hatte.
»Er sagte, dass er schon Anfang Dreißig sei und dass er noch andere Frauen in seinem Leben haben möchte …«, heulte Clara.
»Verstehe, er hätte dich also früher oder später sowieso betrogen! Und weiter?«, schlussfolgerte Sunny kühl.
»Dann meinte er noch, dass ich inzwischen wie eine kleine Schwester für ihn bin und nicht mehr wie eine Frau!«
»Der spinnt doch! Und weißt du was? Er wird das auch irgendwann merken, dass er spinnt!«
Clara war nicht bloß fassungslos darüber, dass es mit Lars so plötzlich vorbei war. Viel schlimmer fand sie, wie schnell ihr die Erkenntnis kam, so viel Zeit mit ihm verschwendet zu haben und nun irgendwann wieder von vorne, mit einem anderen Mann ein neues Leben anfangen zu müssen.
Ganze drei Wochen war Clara unglaublich traurig darüber, dass Lars ihre gemeinsame Beziehung aufgegeben hatte. Dennoch spürte sie Tag für Tag ein bisschen mehr, wie das Leben ohne Lars angenehmer wurde. Irgendwie entspannter. Seltsamerweise wollte er sie nach vier Wochen wieder zurückhaben und überhäufte sie mit gefühlsduseligen Liebeserklärungen, aber für Clara war es zu spät und endgültig vorbei. Für immer. Denn die schlechten Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit waren präsenter denn je.
Sie dachte an den letzten Sommer, als Lars und sie zusammen mit einem Freund von ihm nach Dänemark fahren wollten. Die Eltern seines Freundes hatten dort ein Haus am Nordseestrand, in dem sie übernachten konnten. Mit fertig gepacktem Koffer saß sie zu Hause und wartete darauf, dass die beiden Jungs sie abholten. Plötzlich rief Lars sie an und teilte ihr mit, dass sie jetzt doch nicht mit seinem alten Auto fahren würden, sondern mit dem Honda-Zweisitzer seines Kumpels und sie sie daher leider nicht mehr mitnehmen könnten.
»Warum können wir denn nicht mit meinem Auto fahren, wenn du nicht fahren willst?«
»Ach, Clara. Das ist doch jetzt gar nicht gewartet und gerüstet für so eine weite Fahrt. Es ist das Haus seiner Eltern. Wir müssen machen, was er will. Sorry!«
Heulend packte Clara ihre Koffer wieder aus und machte eine Woche unglücklich Urlaub auf ihrem Balkon. Allerdings hatte sie Lars diese Aktion viel zu schnell verziehen, denn nach dieser Woche verstritt er sich so sehr mit seinem Kumpel, dass er mit dem Zug zurückfuhr und sich von Clara, mit ihrem Auto, in Hamburg am Bahnhof abholen ließ, weil sein Geld nicht mehr für eine Fahrkarte nach Berlin reichte. Zur „Entschädigung“ bummelte er noch einen Tag mit ihr durch Hamburg, bevor sie zurückfuhren.
Im darauffolgenden Winter gab es in ihrer Beziehung noch ein paar weitere Highlights. Besser gesagt Downlights. Mit seinem Freund Olli und dessen Partnerin Bea wollte Lars plötzliche eine Wohngemeinschaft gründen, um aus seiner kleinen, schäbigen Wohnung rauszukommen und um etwas näher nach Berlin reinzukommen. Sie sprachen jedoch nicht von einer WG, sondern nannten ihr Projekt ganz rebellisch „Kommune“. Clara kannte die beiden von den vielen Partys und verstand sich mit Bea immer sehr gut. Auf Fotos sahen sie manchmal sogar wie Schwestern aus. Eines Samstagmorgens kamen Olli und Bea bei Lars vorbei. Clara war natürlich auch da, wie an fast jedem Wochenende. Sie brachten nicht nur frische Brötchen, sondern auch Zeitungen mit aktuellen Immobilienanzeigen mit sowie Ausdrucke von Besichtigungsterminen, die sie bereits für das Wochenende vereinbart hatten. Clara wunderte sich, dass alles so schnell ging und fragte sich, wie lange der Plan wohl schon bestand. Noch mehr verwunderten sie jedoch die Mietobjekte, also die Häuser, die sie am Nachmittag besichtigten. Ja, Häuser. Große Häuser und Doppelhaushälften mit vielen Zimmern am Stadtrand von Berlin. Sie dachte bei dem Kommunen-Projekt eher an eine große Altbauwohnung in einem angesagten Kiez. Und als sie nachfragte, ob sie nicht auch der Kommune beitreten könnte, merkte Lars bloß an, dass es irgendwie nicht ginge mit zwei Pärchen unter einem Dach. Aber dass sie schon noch eine vierte Person suchten, um das Projekt zu finanzieren beziehungsweise die Miete zusammenkratzen zu können. Natürlich am besten eine Frau, für das Gleichgewicht, sonst wäre Bea ja allein mit drei Männern.
Ja, eine Frau, aber nicht Clara. Sie verstand es nicht. Sie war sich auch nicht sicher, ob sie überhaupt außerhalb der Stadt in so einem spießigen Haus leben wollte. Zudem bekam sie mit, wie schlecht die Besichtigungstermine liefen. Keiner der Vermieter zeigte bei der Truppe große Begeisterung. Also nahm Clara sich vor, sich nicht aufzuregen und erst einmal abzuwarten, ob sie überhaupt eine Unterkunft für ihre neue, hippe Kommune bekommen würden. Und tatsächlich ist niemals etwas daraus geworden.
Wenige Wochen darauf fand eine Bekannte von Sunny Lars in einer Dating-App und aus seinem Profil war eindeutig herauszulesen, dass er Single und auf der Suche sei. Natürlich sprach Clara ihn sofort darauf an. Er redete sich jedoch damit raus, dass er dort ja nur ein Pärchen für sie gesucht hätte, mit dem sie „etwas Spaß“ haben könnten. So ein Blödsinn, dachte Clara. Sie wollte niemals mit einem anderen Pärchen rummachen, geschweige denn, dass dies jemals ein Thema zwischen ihnen war. Es ergab für sie auch keinen Sinn, wieso er in dieser App überhaupt als Single unterwegs war. Es stellte sich schließlich auf Claras hartnäckiges Nachfragen heraus, dass er dort tatsächlich nach anderen Frauen suchte, vor allem um Aufmerksamkeit und Bestätigung von ihnen zu erhalten. Clara wunderte sich schon, woher er in den letzten Wochen die vielen Followerinnen auf Instagram hatte.
Das waren drei von vielen Ereignisse in ihrer letzten Beziehung, die sie nicht vermisste und im Nachhinein blieb nur noch eine Frage offen: Warum hatte sie das alles so lange mitgemacht?
Anderthalb Jahre später sollten endlich andere Zeiten anbrechen und sie würde ihren Freundinnen beweisen, dass sie nicht zur „Generation Beziehungsunfähig“ gehörte. Clara war zwar fest davon überzeugt, dass leider viele Frauen und auch Männer lieber in einer unglücklichen Beziehung oder sogar Ehe verweilten, als Single zu sein. Doch Clara war bereit, neue Männer kennenzulernen und sich zu verlieben. Denn das war nicht immer der Fall, als sie Single war. Manchmal war sie eine Zeit lang einfach nicht an Männern und Dates interessiert oder hatte einfach keine Lust, sich auf jemand Neues einzulassen. Sie genoss ihr unabhängiges Leben. Und in der Zeit, in der Clara offen und bereit war, neue Männer kennenzulernen, bedeutete es nicht, dass sie bei sämtlichen Online-Singlebörsen und -Apps angemeldet war, jedes Wochenende feiern ging und sich von allen möglichen Typen anquatschen ließ. Wobei es in Berlin eher eine Seltenheit war, dass man von Männern angesprochen wurde.
Nur weil sie sich mal bindungsbereit fühlte, hieß es nicht, dass sie verzweifelt auf der Suche war. Oder doch?