Читать книгу Die Namenlose. Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.2 - Anny von Panhuys - Страница 10
39. Kapitel.
ОглавлениеIm Bureau der Tapetenfabrik sassen Lamprecht Overmans und Traute beisammen.
Beide machten eifrig Geschäftspläne und das junge Mädchen begeisterte sich: „Wie der Phönix aus der Asche, so soll sich die neue Fabrik jetzt aus der alten erheben.“
„Da du das nur bildlich meinst,“ lachte der alte Herr, „ist es ja weiter nicht so schlimm. Sonst käme uns die Feuerversicherung auf den Kopf.“
Ein Bureauangestellter brachte eine Besuchskarte und Traute lächelte erwartungsvoll. Auf die persönliche Bekanntschaft des Malers Alfred von Bassing war sie ein wenig neugierig.
Auf der Besuchskarte stand sein Name.
Wer ein so wunderschönes Bild malen konnte, dachte sie, der war sicher kein Durchschnittsmensch.
Der Angemeldete trat ein.
Er war sehr gross, blond und seine Züge zeigten leichte Schärfe.
Er verneigte sich vor dem alten Herrn, dann etwas flüchtiger vor dem jungen Mädchen, und war ein wenig verblüfft, als ihn das junge Mädchen ansprach: „Ich habe Sie auf Ihre Offerte hin um Ihren Besuch gebeten und es würde mich vor allem interessieren, für welche Tapetenfabrik Sie tätig waren. Auch will ich vorausschicken, es soll bei uns nur im allermodernsten Sinne gearbeitet werden. Selbst Muster, die sich an irgendwelche alten Stile halten, müssen gewissermassen wie ins Moderne übertragen wirken. Ich weiss nicht, ob Sie mich verstehen?“
Alfred von Bassing konnte seine Verblüffung nicht verbergen. Er sah den rüstigen alten Herrn an und meinte etwas verlegen: „Ich darf wohl annehmen, die junge Dame sprach in Ihrem Sinne, Herr Overmans?“
Ein Blitz aus wundervollem grauen Augenpaar traf ihn, und während er sann, woher kannte er nur diese Augen schon, sagte der Jungmädchenmund betont: „Ich sprach nicht für meinen Grosspapa, Herr von Bassing, sondern erklärte Ihnen, wie ich über die Entwürfe neuer Muster denke. Mein Grosspapa hat mir gestattet, die Fabrik so zu reformieren, wie ich es für gut halte. Sie ist im ganzen Betrieb unter ihrem früheren Besitzer veraltet gewesen und ich möchte nun versuchen, sie jung und lebenskräftig zu machen.“
Alfred von Bassing horchte auf.
Eine junge Dame dieser Art war ihm bisher noch nie in den Weg gekommen.
Ihm war fast ein wenig nach Lachen zumute, aber diesen blitzenden Augen gegenüber wagte er es nicht einmal nur die Lippen zu verziehen.
Auch durfte es ihm wohl schliesslich gleich sein, ob ihn der alte Herr engagierte oder der ebenso hübsche wie energisch scheinende Backfisch.
Heutzutage hörte man ja aus dem Lager der Frauen im Erwerbsleben die merkwürdigsten Dinge. Man brauchte sich über gar nichts mehr zu wundern!
Er gab also auf jede Frage des jungen Mädchens Antwort und empfing zum Schluss die Versicherung, man wolle es mit ihm versuchen. Gefielen seine ersten Entwürfe, gäbe es sehr viel für die Fabrik zu arbeiten.
Alfred von Bassing verneigte sich dankend und sann dabei, woher kannte er nur diese grossen grauen Augen im Kranz der dichten dunklen Wimpern?
Der alte Herr besass ähnliche Augen, aber es waren Altmänneraugen, wenn sie auch noch so scharf und klar schienen.
Die jungen Augen aber waren erfüllt von kindlich reinem Glanz.
Es war eine Freude hineinsehen zu dürfen.
Ihm ging es durch den Sinn, er kannte diese Augen ganz genau, aber Nebel flatterten, die Erinnerung verdunkelnd, über sein Gedächtnis hin. Es fiel ihm nicht ein, woher er die grauen Sterne kannte.
Es klopfte und im nächsten Moment traten Günter Overmans und seine Frau ein.
Alfred von Bassing blickte die zierliche Dame, die eben gekommen, prüfend an.
Sie kannte er doch auch!
Sie musste ihm schon einmal im Leben begegnet sein, und diese Begegnung hing irgendwie mit den kindlich reinen Augen des jungen Mädchens zusammen.
Und jetzt hoben sich die Nebelschleier, die ihm das Nachdenken erschwerten.
Nun war er im reinen mit sich.
Die schönen, klaren, grauen Augen hatte das Mädelchen auf seinem Bilde, das der Kunsthändler Meifinger letzthin an einen reichen Stuttgarter Herrn verkauft hatte.
Er konnte nicht begreifen, dass er das nicht sofort gewusst hatte.
Der alte Herr unterbrach seinen Gedankengang.
„Das sind mein Sohn und meine Schwiegertochter, Herr von Bassing. Beide freuen sich sicher, Sie kennen zu lernen. Ich habe meiner Schwiegertochter nämlich zu Weihnachten ein Bild geschenkt, das Sie gemalt haben. Es heisst „Erwachendes Kind“ und die Kleine ähnelt auffallend unserem Liebling in ihren Kinderjahren.“
Er wies bei dem Worte „Liebling“ auf das junge Mädchen, das jetzt zu Alfred von Bassing hinüberlächelte.
Lamprecht Overmans stellte nun den Maler vor und Karolas Blick musterte den Mann fast angstvoll, der das Bild gemalt, das wie ein Gespenst aus der Vergangenheit plötzlich unter ihrem friedlichen Dache aufgetaucht und sie nicht mehr in ihre frühere Ruhe zurückfinden liess.
Alfred von Bassing fand, es drang da plötzlich viel Neues auf ihn ein.
Lamprecht Overmans lächelte: „Setzen wir uns doch alle recht gemütlich in diesem neuen, noch ein wenig nach Anstrich duftenden Bureau, und unterhalten uns über das Bild.“
Karola zuckte zusammen.
Sie scheute vor einer Unterhaltung über das Bild zurück, wiederum aber sagte sie sich, vielleicht würde sie nach einer Unterhaltung über den Gegenstand ihrer ständigen Erregung ruhiger. Vielleicht hörte sie nun eine sehr harmlose Entstehungsgeschichte des Bildes und konnte die seltsame Furcht, die sie jetzt wieder quälte, für immer verscheuchen.
Lamprecht Overmans rieb sich die Hände.
„Ja, denken Sie, Herr von Bassing, genau so, wie das drollige Strampelchen auf Ihrem Bilde, sah meine Enkelin aus, als sie noch so ein winziges Gnomenweibchen war. Es interessiert uns alle natürlich ausserordentlich, wer Ihr Modell gewesen, da die Aehnlichkeit frappant ist.“
Alfred von Bassing erwiderte versonnen: „Das Modell zu meinem Bilde habe ich in der Schatzkammer meiner Erinnerungen aufgestöbert und zwar in Gestalt einer Postkarte aus Knabenjahren.“ Er sah das junge Mädchen an. „Vor zwölf Jahren wohnte mein Vater vorübergehend mit mir in Freiburg, in einem kleinen Hotel. Wir kamen aus der Schweiz und wollten nach Berlin. In Freiburg machten wir Rast. Es war kurz vor dem Ausbruch des grossen Weltkriegs und alle Menschen waren durcheinander und kopflos.“
Karola war froh, jetzt zu sitzen, sie war überzeugt, wenn sie jetzt nicht sässe, würde sie den Halt unter den Füssen verlieren.
Ihr war es, als strecke sich eine drohende Faust gegen sie aus und sie fühlte die Angst wie ein feuchtes ekles Gewürm über ihren Körper gleiten.
Was würde dieser Mensch, den sie wissentlich vor dieser Stunde noch niemals im Leben gesehen, dessen Namen sie erst seit dem Weihnachtsabend von dem Bild her kannte, jetzt erzählen?
Es musste irgend etwas sein, was mit jenem furchtbarsten Tag ihres Lebens zusammenhing. Soviel wusste sie bereits, ahnte es mit vollkommener Sicherheit.
Wahrscheinlich standen sie alle nun schon dicht vor der Katastrophe, die sie eigentlich nie mehr gefürchtet und die jetzt plötzlich gefährlich nahe gerückt war, die drei Existenzen bedrohte. Die ihres Mannes, die eigene und die des Kindes, das im Mittelpunkt einer Handlung stand, die man wohl in die Abteilung Verbrechen einreihte.
Wie entsetzlich schuldig kam sie sich wieder vor, wie grausam deutlich erhob sich jetzt alles wieder vor ihren Augen, was sie einst durchgemacht.
Günter Overmans sah seine Frau bittend und warnend an.
Sie schien ihm jetzt fähig, ohne angeklagt zu sein, ein Geständnis hinauszuschreien.
Karola blickte vor sich nieder.
Sie war nicht fähig, dem Manne ins Angesicht zu schauen, der ihr das verkörperte Schicksal schien und der jetzt fortfuhr:
„Also vor zwölf Jahren befand ich mich ein Weilchen allein in dem kleinen Hotel in Freiburg. Mein Vater besuchte einen Freund und ich stand am Fenster unseres Zimmers — es dämmerte schon ein wenig — und unterhielt mich damit, die gegenüberliegende Strassenseite zu mustern. Plötzlich vernahm ich von nebenan Kinderweinen, und weil ich ein mitleidiger Junge war, ging ich kurzentschlossen in das Nebenzimmer, dessen Schlüssel steckte und nicht einmal im Schloss herumgedreht war, und fand dort ein niedliches Mädchen, das nach der Mutter weinte. Es erzählte mir eine verworrene Geschichte vom Mutti, und ich tröstete das drollige Ding, ersann schleunigst ein Märchen, um es abzulenken. Und bei dem Märchen schlief es ein. Nun kehrte ich in das andere Zimmer zurück und zeichnete, bis mein Vater kam, auf eine Postkarte das Bild der Kleinen, wie sie mir im Gedächtnis haften geblieben. Mein Vater kehrte dann zurück und als er und sein Freund mit mir fortgingen, sah ich eine Dame und zwei Herren mit dem Hotelportier sprechen.“ Er liess seine Augen auf Karola ruhen. „Wenn mich nicht alles täuscht, waren Sie jene Dame, gnädige Frau.“
Günter Overmans atmete ein wenig auf. Alfred von Bassings Erzählung barg bisher nicht die geringste Gefahr.
Karola erwiderte bedrückt: „Der eine der Herren war mein Mann, der andere unser Hausarzt.“
Alfred von Bassing nickte.
„Ich dachte es mir damals, als ich an Ihnen vorbeiging, dass Sie die Mutter der Kleinen sein müssten, nach der sie geweint. Das Kindchen nannte mir auf meine Frage auch seinen Namen.“
Karola fühlte ihren Herzschlag stocken vor toller, wirbelnder Angst.
Allbarmherziger, die Gefahr, die sie vorübergewähnt, war ja noch gar nicht vorüber. Sie begann wohl erst.
Fiel der Name Babette Kempen, dann war der Stein ins Rollen gebracht, der das Glück der ganzen Familie Overmans zerschmettern würde.
Sie hob sich ein wenig im Stuhl, von dem Gefühl getrieben, ganz einfach fortzulaufen, sobald der Name fiel, aber trotzdem fragte sie lächelnd: „Konnte denn meine kleine Traute ihren Namen gut und deutlich sagen? Sie war damals so ein Dummerchen Fremden gegenüber.“
Alfred von Bassing fuhr sich über die Stirn.
„Verzeihung, gnädige Frau, seinen Namen nannte das Kind, aber ob deutlich oder undeutlich, das weiss ich nicht, denn den Namen habe ich längst vergessen.“
Das junge Mädchen warf vergnügt ein: „Ich bin fest überzeugt, ich habe mich Ihnen damals deutlich als Trautchen Overmans vorgestellt.“
Der Maler nickte lächelnd.
„Davon bin ich ebenfalls überzeugt. Aber mein Gedächtnis lässt mich leider im Stiche. Es sind eben schon mehr als zwölf Jahre her. Ich war damals ein Dreizehnjähriger, und wenn ich mich auch zuweilen an das kleine Mädchen erinnerte, so vergass ich doch den Namen und vieles von dem Drumherum der niedlichen Episode. Manchmal aber fiel mir wieder die Postkarte in die Hände, auf die ich die Kleine hingestrichelt. Eine Karte mit der Ansicht des kleinen Freiburger Hotels und dem Datum des achtundzwanzigsten Juli 1914. Eines Tages reizte es mich dann, nach der Skizze ein Bild zu malen, das ein fast unglaublicher Zufall nun in das Haus meines Modells gebracht.“
Lamprecht Overmans hatte eine Falte auf der Stirn, aber er unterhielt sich in freundlichem Tone mit dem Maler weiter, der sich dann aber bald verabschiedete.
Auch in Gegenwart des jungen Mädchens blieb der alte Herr sehr ruhig, doch als er sich später, am Abend, im Zimmer des Sohnes mit dem Ehepaar allein befand, machte er seinem Grolle Luft.
„Wie durftet ihr damals das Kind auch nur eine einzige Minute allein lassen! Unverantwortlich war das von euch und ich zittere noch nachträglich vor Angst, was alles hätte geschehen können.“
Günter zwang sich ein Lachen ab.
„Die Hauptsache, Vater, ist doch, es geschah dem Kinde gar nichts. Damals kamen wir von St. Blasien und machten in Freiburg Station, ehe wir nach Davos weiterfuhren. Und die Alarmgerüchte, die dem schon sicheren Kriegsausbruch vorangingen, trieben uns kurze Zeit aus dem Hotel. Es war so eine erregte Stimmung damals um einen herum, man konnte es in den vier Wänden nicht mehr ertragen. Da blieb das Kind ein wenig allein. Nicht lange, gar nicht lange! Die Nurse hatten wir doch ihrer Unverschämtheit wegen in St. Blasien entlassen müssen.“
„Das sind alles keine Entschuldigungen,“ zürnte der alte Herr, „recht ist es jedenfalls nicht von euch gewesen, das arme Wurm mutterseelenallein im Hotelzimmer seinem Schicksal zu überlassen und aus Sensationslust auf die Strasse zu laufen. Doktor Frank soll sich schämen, dass er nicht wenigstens bei der Kleinen geblieben ist.“
Günter erwiderte, um den Doktor nicht wieder in das traurige Spiel mit hineinzuziehen, daran er ja auch beteiligt gewesen: „Der Doktor war schon vor uns ausgegangen, er wusste nichts von unserem Ausgang. Unterwegs in Freiburg trafen wir ihn dann zufällig.“
„Dann ist er wenigstens leidlich entlastet,“ brummte Lamprecht Overmans.
Um Karolas Kinn zuckte es verdächtig.
O wenn der Vater wüsste, wie sich alles in Wirklichkeit verhalten hatte!
Ihr Herz schlug schmerzhaft vor toller Angst.
Geringfügig und nebensächlich war das Poltern des alten Herrn, wüsste er die Wahrheit, dann ginge wohl ein Sturm durch das Haus, erschütterte es in seinen Grundmauern, risse alles um, was fest und standhaft geschienen, wirbelte Glück und Frieden für immer in alle vier Himmelsrichtungen.
Sie liessen beide den alten Herrn schimpfen, hielten still.
Und schliesslich ward er ruhiger.
„Seht ihr,“ sagte er, noch immer erregt atmend, „auf so sonderbare Weise kommt noch nach langen Jahren etwas heraus, an das ihr sicher überhaupt nicht mehr gedacht habt.“
Der Satz klang für die beiden doppelsinnig, obwohl sie genau wussten, es barg sich nichts dahinter.
Ganz ruhig aber schloss er dann: „Sonderbar ist’s, dass dieser Bassing unser Trautchen auf dem Bilde als so ein molliges, gesundheitsstrotzendes Ding wiedergegeben hat. So erholte sie sich doch erst in Davos! Aber Maler verbessern gern die Natur. Sie haben auch wohl noch ein paar heimliche Augen, diese Künstler, die gewöhnliche Sterbliche nicht haben, und mit den heimlichen Augen ahnte er schon damals in unserem blassen Püppchen die spätere, die genesene Traute. Die Traute, die uns der Aufenthalt in Davos schenkte, die Traute, an der sich das Wunder vollzog.“
Das Wunder! klang es in Karola nach.
Das Wunder!
Sie empfand noch einmal im Geiste all die entsetzlichen Schmerzen, die sie schon erlitten um des „Wunders“ willen.
Sie hätte laut aufschreien mögen, wenn sie des Wunders gedachte, so wie sie es kannte.