Читать книгу Die Namenlose. Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.2 - Anny von Panhuys - Страница 14

43. Kapitel.

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Alfred von Bassing verbrachte die Nacht nicht mehr in dem kleinen Hause am Marktplatz, sondern im Gefängnis.

Man hatte ihn als Mörder seiner Frau verhaftet.

In der Nähe der Toten hatte man einen mit bunten Steinen besetzten, sehr scharfen orientalischen Dolch gefunden, den Frau Stäble sofort als Eigentum ihres Mieters feststellte.

Alfred von Bassing neigte zu der Ansicht, Lilli müsse doch Selbstmord begangen haben, trotzdem es so gar nicht ihrer Natur entsprach.

Aber der Stuttgarter Gerichtsarzt verneinte den Selbstmord, redete nur immer wieder von einem Mord.

Und Alfred von Bassing konnte und konnte es nicht fassen, dass man ihn für den Mörder hielt.

Lamprecht Overmans las in der Zeitung von dem Morde in Ludwigsburg und war aufrichtig entsetzt.

Er sprach in der Familie davon und meinte, eine solche Tat hätte er dem talentvollen jungen Künstler nicht zugetraut.

Traute lauschte mit bang pochendem Herzen auf die schreckliche Neuigkeit.

Schliesslich sagte sie, und ihre Stimme war schwankend von mühsam unterdrückten Tränen: „Grosspapa, das weiss ich genau, Herr von Bassing beging den Mord nicht. Wenn es sich wirklich um keinen Selbstmord handelt, ist irgendein anderer Mensch schuldig. Er bestimmt nicht. Ein Gesicht wie das seine kann nicht so sehr täuschen.“

Der alte Herr machte eine leicht abwehrende Handbewegung.

„Es fällt mir ja auch sehr schwer, es zu glauben, aber ich meine, die Beweise sind erdrückend! Wer ausser ihm hätte denn Interesse an dem Tod seiner Frau haben können? Die Wirtin sagt aus, das Ehepaar hätte keinen Tag Frieden gehalten, woran allerdings die Frau die Schuld getragen haben soll. Sie nimmt an, die sehr schöne Frau hat ihren Mann einmal wieder allzu stark gereizt und da habe er, seiner nicht mehr mächtig, mit dem Dolch auf sie losgestochen, der auf einem kleinen Tisch im Mordzimmer zu liegen pflegte.“

Traute vermochte kaum ihre Tränen zurückzudrängen.

„Der Schein trügt oft, Grosspapa. In diesem Fall sogar bestimmt. Ich glaube nicht an Alfred von Bassings Schuld. Es ist einfach unmöglich. Ein Mensch wie er begeht keinen Mord, auch nicht in der Erregung!“

Niemand widersprach ihr, denn Lamprecht Overmans dachte, genau wie sein Sohn und seine Schwiegertochter, mochte das junge Ding nur solange wie möglich das Beste von den Mitmenschen glauben. Das rauhe Leben würde schon ganz von selbst dafür sorgen, dass ihr der Glaube allmählich genommen wurde.

Von jetzt an durchsuchte Traute Overmans alle Zeitungen, um zu erfahren, ob sich die Unschuld Alfred von Bassings noch immer nicht herausgestellt hatte.

Sie musste sich doch herausstellen.

Sie war felsenfest davon überzeugt, er hatte die böse Tat nicht auf dem Gewissen.

Aber anscheinend hatte sich alles gegen ihn verschworen.

Trotzdem er immer aufs neue seine Unschuld beteuerte, fanden sich verschiedene Beweise, die für seine Schuld sprachen.

Traute hatte gar kein Interesse mehr für die Tapetenfabrik, die schon zu arbeiten begonnen. Im Bureau sass sie oft und starrte lange Zeit regungslos vor sich hin und ihre Gedanken liefen, sobald sie sich nur freimachen konnten, davon zu dem Manne, den sie kaum kannte, und für den sie Sympathie fühlte, über die sie weiter nicht nachsann, die sie aber zugleich wohltuend und schmerzlich empfand.

Er tat ihr so leid, o so bitterleid.

Wie mochte er, dieser furchtbaren Tat angeklagt, jetzt leiden.

Welche Seelenqualen musste er durchmachen!

Sie fand nachts keinen Schlaf und glaubte ihn dann vor sich zu sehen, fast zusammenbrechend unter dem schweren Schicksalsschlag.

Und eines Abends fasste sie den Mut zu einem Vorhaben, das Lamprecht Overmans bestimmt verhindert hätte, wenn er darum gewusst.

Nachdem sie ihr Zimmer zum Schlafengehen betreten, schloss und riegelte sie sich ein und setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch. Sie schrieb impulsiv, und nur dem warmen Mitleidsempfinden gehorchend, das sie beseelte, einen Brief an Alfred von Bassing.

Sie adressierte: An den Untersuchungsgefangenen Alfred von Bassing in Ludwigsburg.

Der Brief würde schon sein Ziel erreichen, dachte sie.

Scheu und heimlich steckte sie ihn am nächsten Morgen in den Briefkasten nahe dem Hause.

Und der Brief erreichte sein Ziel zur selben Stunde, als sich für den schwergeprüften Mann die Pforten des Gefängnisses wieder öffneten.

Denn kurz zuvor hatte man den Gutsbesitzer Baron Westernhagen in die nächste Irrenanstalt eingeliefert.

Er war seiner Umgebung, seiner Frau und Schwester, schon seit längerer Zeit zuweilen etwas seltsam vorgekommen, aber man hatte seine sonderbaren Reden immer wieder darauf zurückgeführt, dass er gern ein Glas über den Durst trank.

Nun war ganz plötzlich der Wahnsinn ausgebrochen, in unverkennbarer Gestalt, und in dem tollen Anfall, in dem ihn sechs starke Gutsknechte kaum festhalten konnten, schrie er triumphierend heraus, wie er an der schönen Malersgattin das Todesurteil vollstreckt.

Alfred von Bassing vernahm auf diese Weise, dass die Tote eine Liebelei mit dem Baron unterhalten. Er dachte an die abendliche Begegnung mit dem Fremden vor der Tür des kleinen Hauses.

Er wusste jetzt bestimmt, Lilli hatte an jenem Abend gelogen.

Nun wusste er aber auch mit einem Male, weshalb ihm der starke Juchtengeruch aufgefallen, der um die tote Frau herumgewesen, als er sie gefunden.

Es war der Geruch, der den Kleidern des Fremden entströmt.

Er begriff jetzt ebenfalls, weshalb Lilli in letzter Zeit noch launischer und selbstbewusster geworden als vordem.

Sie hatte Frau Baronin werden wollen und nicht geahnt, dass der Mann, mit dem sie sich heimlich traf, längst verheiratet war, und dass der Wahnsinn schon seine Krallen nach ihm ausgestreckt, als sie sich in bunten, schillernden Zukunftsträumen gewiegt.

Als man ihn entliess, nachdem er die nötigen Erklärungen angehört, überreichte man ihm einen Brief, der gerade eingegangen für ihn.

Da er kein Untersuchungsgefangener mehr war, interessierte der Inhalt des Briefes hier niemand.

Er aber sah den Umschlag kaum an.

Alles dünkte ihm nebensächlich dem grossen Ereignis gegenüber, dass man ihn tagelang als Mörder festgehalten und dass seine Frau von einem Wahnsinnigen ermordet worden war, mit dem sie sich in eine Liebschaft verstrickt.

Er kam sich tief gedemütigt vor und in ihm brannte der Wunsch wie ein starkes, weithinleuchtendes Licht: Er wollte nicht nur den Ort, er wollte auch so bald wie möglich Deutschland verlassen.

Ihm dünkte, jeder Mensch in Deutschland müsse wissen, was geschehen war, jeder müsse ihn daraufhin neugierig ansehen.

Er eilte, es war Spätnachmittag und schon dunkel, nach dem kleinen Hause am Marktplatz. Er wollte seine Sachen dort abholen und heute noch nach Stuttgart fahren. Aber dann sann er wieder, das ging nicht, ohne das Bild, an dem er im Schloss gemalt, mochte er nicht abreisen.

Es war so gut wie fertig, die Kleinigkeiten, die noch fehlten, konnte er überall vollenden.

Die Besitzerin des Häuschens am Marktplatz, Frau Stäble, schrie gell auf, als sie den Mann erkannte, der an der Haustür geklingelt, dann aber rief sie laut und es schallte über den ganzen Platz: „Ich habe es doch gleich gesagt, Sie hängen nicht mit dem Mord zusammen. So ein Herr wie Sie macht sich die Hände nicht blutig!“

Er lachte spöttisch.

„Lassen Sie es gut sein, Frau Stäble, strengen Sie sich nicht an! Sie gerade haben ja mit Ihrem törichten Geschrei zuerst diesen unseligen Verdacht auf mich gelenkt. Aber ich nehme es Ihnen gar nicht übel, der Schein war gegen mich.“

Sie fühlte sich schuldig, war deshalb sehr dienstbeflissen und lief ihm eilfertig voraus, öffnete oben die Tür, machte Licht.

Sämtliche Möbel waren umgestellt, und es tat dem Manne wohl, dass dort, wo die Tote gelegen, jetzt ein breiter Schrank stand.

Er sagte: „Ich bleibe, wenn es Ihnen recht ist, heute nacht hier und morgen reise ich dann ab.“

Frau Stäble nickte: „Natürlich ist es mir recht. Ich habe jetzt einen Neffen bei mir wohnen unten, weil ich mich so allein in dem Hause gegrault habe.“

Er befand sich dann allein.

Er wusste genau, schlafen konnte er in diesen Räumen doch nicht, darüber noch der Odem des furchtbaren Geschehens wie zitternder, blutiger Dunst lag, aber er war doch wenigstens unter Dach.

Und morgen früh würde er das Bild aus dem Schlosse abholen und danach abreisen.

Er ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa.

Er hatte den Paletot nicht ausgezogen und da es in den ungeheizten Räumen kalt war, steckte er seine Hände in die Taschen des Paletots, den er noch trug.

Dabei fühlte er den Brief, der ihm vorhin bei der Entlassung ausgehändigt worden war.

Er sah die Adresse aufmerksam an und schüttelte den Kopf. Wer hatte Interesse daran, ihm ins Gefängnis zu schreiben.

Die Handschrift musste er kennen.

Wenn er sich nicht sehr irrte, schrieb Traute Overmans so.

Er verzog in bitterem Selbstspott die Lippen. Eine Traute Overmans würde wohl kaum an jemand schreiben, den man des Mordes beschuldigt hatte.

Er riss den Umschlag auf und suchte zuerst die Unterschrift.

Wahrhaftig, da stand klar und deutlich: Traute Overmans.

Nein, da stand: Ihre Sie herzlich grüssende Traute Overmans.

Wie ein warmer, inniger Händedruck war das, und er überlegte, als die junge Traute Overmans den Brief in Stuttgart abgesandt, hatte sie noch nichts gewusst von der Wendung in seinem Schicksal.

Es würde erst morgen früh in den Zeitungen stehen, wer der wirkliche Mörder gewesen. Allerfrühestens konnte man es heute abend lesen.

Und der Brief war schon morgens von Stuttgart abgegangen.

Er las:

„Lieber Herr von Bassing!

Vielleicht tut es Ihnen, in dieser für Sie sicher furchtbar schweren Zeit, gut, zu wissen, es glaubt jemand an Sie. Und deshalb möchte ich Ihnen sagen, ich habe nicht einen einzigen Augenblick an Ihrer Unschuld gezweifelt.

Ich kenne Sie zwar noch nicht lange, aber es gibt Menschen, die meint man sofort zu kennen. An denen kann man gar nicht zweifeln. Und so ein Mensch sind Sie!

Bitte, verlieren Sie den Mut nicht, die Wahrheit muss sich ja doch herausstellen.

Ich fühle es, Sie werden sehr bald wieder frei sein und ich bete indessen für Sie, damit sich alles zum Guten fügen möge.“

Alfred von Bassing liess seine Rechte sanft über das Papier gleiten, es war, als streichele er es und er dachte dabei: Niemals würde er es der jungen Traute Overmans vergessen, dass sie an ihn geglaubt hatte.

Mit fast scheuer Bewegung hob er den Brief an die Lippen.

Und mochte er noch so weit fortgehen von Deutschland, die liebliche Traute Overmans mit den reinen Kinderaugen und dem warmen Herzen würde wie eine Heilige durch seine Erinnerung gehen.

Nein, niemals im Leben konnte er sie vergessen.

Aber auch ohne den Brief würde er sie nicht vergessen.

Er presste ihn abermals an die Lippen und flüsterte in das feine gelbliche Papier hinein: „Ich habe dich lieb, du gutes, reines Kind, ich habe dich lieb, aber erfahren wirst du es niemals!“

Und eine heisse Träne tropfte auf die Stelle der Schrift: „Ich bete indessen für Sie, damit sich alles zum Guten fügen möge!“

Davon verlöschte die Schrift ein wenig.

Alfred von Bassing sann, wie eigen das doch war, dass sich Tränen in seine Augen gedrängt.

Die ersten Tränen seit dem Tode des geliebten Vaters.

Die Namenlose. Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.2

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