Читать книгу Die Namenlose. Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.2 - Anny von Panhuys - Страница 11
40. Kapitel.
ОглавлениеAlfred von Bassing legte Traute Overmans bald die ersten Entwürfe vor.
Sie zog erst ein kritisches Gesicht, nickte dann wohlwollend: „Ich sehe, Sie haben verstanden, wie ich in unserem Fall das Wort „modern“ meinte, Herr von Bassing. Die Proben gefallen mir und ich bin überzeugt, meinem Grosspapa werden sie auch gefallen.“
Ja, die Proben gefielen auch Lamprecht Overmans, und so erhielt denn Alfred von Bassing gute Aufträge und die erste Honorarzahlung, die eine viel höhere Summe ergab, als er zu hoffen gewagt.
Als er mit dem Geld nach Ludwigsburg kam und es in einem Anflug von selten guter Laune auf den Tisch der Wohnstube aufbaute, in der Art von Kartenhäusern, schnippte Lilli die Geldscheine verächtlich mit den Fingern um.
„Du liebe Güte, was machst du für einen Kram von den paar Tapetengroschen! Wenn ich mir nur das Allernotwendigste anschaffe, bleibt schon nichts mehr davon übrig.“
„Was verstehst du unter dem Allernotwendigsten?“ fragte er.
Seine gute Laune war sofort zerronnen, als sie das, worüber er Freude empfunden, so überaus geringschätzend abtat.
Sie gab ihm prompt Antwort.
„Das Allernotwendigste sind für mich erstens mindestens sechs Paar anständige Seidenstrümpfe, so billige, wie du mir letzthin brachtest, will und kann ich nicht tragen. Zehn Mark muss ich wenigstens für das Paar anlegen.“
Er warf ihr ärgerlich entgegen: „Bist du verrückt geworden, Lilli! Meinst du etwa, ich arbeite nebenbei für eine Tapetenfabrik, damit du dir von dem Gelde Strümpfe kaufst wie eine Millionärin oder ein verwöhnter Filmstar? Wenn du zwei bis drei Mark für ein Paar ausgibst, so ist das für unsere Verhältnisse schon zu viel.“
Sie dachte an ein paar heimliche Zusammenkünfte mit einem leidenschaftlichen Manne, der ihr immer wieder erklärte, sie wäre die schönste der Frauen, und es sprang ihr höhnend über die Lippen: „Hättest damals die Scheuerfrau heiraten sollen, die dein Atelier in Ordnung hielt, anstatt mich unglücklich zu machen. Die wäre vielleicht — ganz sicher ist das natürlich auch nicht — mit solchen billigen Strümpfen zufrieden gewesen.“
„Weshalb bist du nur immer gleich so ausfallend und bissig?“ rief er ärgerlich. „Meine Schuld ist es jedenfalls nicht, wenn es keinen Frieden zwischen uns gibt. Schliesslich habe ich dich doch nicht zum Altar geschleift! Eher hast du mich dorthingezogen.“ Er seufzte. „Ich habe mich gefreut über die ansehnliche Extraeinnahme und hoffte, du würdest dich mitfreuen. Aber du benimmst dich immer anders wie man denkt.“
Ihre Augen forderten ihn förmlich heraus mit spöttischem Gefunkel.
„Lass dich von mir scheiden, Freundchen, ich meine, es wäre für uns beide das Gescheiteste.“
Er war verblüfft.
Noch vor wenigen Wochen hatte er ihr sehr ernsthaft und vernünftig den Vorschlag gemacht, man wolle sich doch einmal in aller Ruhe eine endgültige Trennung überlegen, und hatte darauf die Antwort erhalten, sie liesse sich auf keinen Fall scheiden.
„Nie!“ hatte sie aufgetrumpft, „nie wirst du von mir frei werden! Ich bleibe allerdings nicht aus Liebe bei dir, sondern aus Hass. Das Leben will ich dir schwer machen, dich quälen mit allen Mitteln, die mir nur einfallen.“
Und jetzt begann sie selbst von der Scheidung zu sprechen.
Was mochte sie beeinflusst und ihren Sinn so verändert haben?
Aber schliesslich war das ja gleich, die Hauptsache war, sie zeigte sich der Scheidung nicht mehr abgeneigt.
Er schloss flüchtig die Augen, als blende ihn ein greller Schein.
Wie schön musste es sein, frei zu werden von dieser Frau!
Erst zwei Jahre war er mit ihr verheiratet, aber ihm schien es oft mehr als zwanzig Jahre her zu sein.
Wie war das alles so widerwärtig und quälend: Die kleinlichen Zänkereien, der beissende Spott, die bösen Ausfälle gegen seinen Vater, an dem sein Herz noch immer hing.
Sie beobachtete ihn scharf.
„Mein lieber Alfred, versenke dich nicht in Zukunftsträume, kehre in die Wirklichkeit zurück. Noch sind wir verheiratet, noch mache ich also auch Ansprüche. Deshalb, verehrter Gatte, Kunstmaler und Tapetenmusterklexer, ich brauche anständige Strümpfe, Handschuhe und einige sonstige Kleinigkeiten, und vor allem muss ich endlich einen Pelzmantel haben, es braucht ja nicht gerade der teuerste zu sein. Kannst ihn wohl schliesslich in mehreren Raten bezahlen, wenn es mit einmal nicht geht. Schmiere doch für den ollen Tapetenfritzen rasch noch ein paar so blödsinnige Verzwicktheiten zusammen, wie du ihm heute abgeliefert hast. Dann reicht es nicht nur zum Pelz, dann springt auch noch allerlei anderes dabei heraus, was ich ebenfalls brauche, wenn auch nicht ganz so wichtig.“
Er blickte sie sprachlos an und dachte, eben hatte das etwas zu rot gefärbte Lippenpaar noch von der Scheidung gesprochen, jetzt baute es ihm schon wieder eitle Wünsche auf.
O welch ein Tor war er gewesen, die Worte von der Scheidung auch nur eine einzige Sekunde lang ernst zu nehmen.
Diese oberflächliche Frau redete viel zusammen und es bereitete ihr Freude, ihn ordentlich durcheinanderzubringen.
Sie nickte ihm aufmunternd zu.
„Also pfusche nochmal ein paar Muster hin, damit der olle Tapetenfritze rausrückt mit den Moneten für Lillichens Pelzmantel.“
Alfred von Bassing dachte, es war gut, dass er der Frau nicht erzählt hatte, dass der „olle Tapetenfritze“, wie sie sich so geschmackvoll ausdrückte, eigentlich eine blutjunge Dame war, das einstige Original seines Bildes „Erwachendes Kind“.
Er war froh, ihr nichts von allem erzählt zu haben, was damit zusammenhing.
Er meinte, die wunderbar reinen grauen Augen Traute Overmans vor sich zu sehen und es dünkte ihm Heiligtumsschändung, zu Lilli von diesem Mädchen zu sprechen.
Sie riss ihn aus seinen Gedanken.
„Fange doch gleich heute an,“ drängte sie, „der Abend ist noch lang.“
Er erhob sich hastig und stiess seinen Stuhl zurück.
„Nein, heute fange ich nicht mehr an und morgen wahrscheinlich auch nicht, in den nächsten Tagen muss ich mein Bild der „Landverderberin“ fertigmalen. Und einen Pelz brauchst du nicht! Hast dir ja erst den eleganten, teuren und reich mit Pelz besetzten Tuchmantel anfertigen lassen. Also Schluss der Debatte! Ich gehe jetzt noch ein Stündchen hinaus, unsere Unterhaltung hat mir Verlangen nach frischer Luft gemacht.“
Sie lachte das klirrend helle Spottlachen, das ihn stets aufs neue erregte.
„Ja, laufe nur in deiner beliebten Manier noch Strasse auf, Strasse ab. Vielleicht triffst du unterwegs eine Bauernliese, die mit deiner Liebe und Baumwollstrümpfen zufrieden ist. Die heiratest du, wenn wir geschieden sind. So eine hätte das tragische Schicksal verdient, deine Frau zu sein.“
Er sah sie ernst an.
„Lilli, du benimmst dich in letzter Zeit so ganz besonders unausstehlich, dass es kaum noch zu ertragen ist. Aber sage: Ist es dir denn wirklich ernst mit der Scheidung?“
Sie nickte: „Jawohl, es ist mein voller Ernst. Ich mag nicht mehr. Das Zusammenleben mit dir ist das reinste Trauerspiel.“
Er wanderte im Zimmer auf und ab, hatte völlig vergessen, dass er noch ausgehen wollte.
„Also reden wir einmal vernünftig, Lilli, nicht wahr?“ bat er. „Du weisst ja, wie sehr ich für eine Scheidung bin.“
Sie wehrte lebhaft ab.
„Darüber zu reden habe ich jetzt gar keine Lust, das hat noch Zeit.“
Sie hatte überlegt, es ging ihr, trotz ihrer Unzufriedenheit mit allem, nicht schlecht bei ihrem Manne, und ob es dem anderen wirklich Ernst war mit der Heirat, das musste sie erst sicher wissen, ehe sie ihn aufgab, der ihr immerhin ein bequemes Faulenzerleben ermöglichte.
Er sagte scharf und zornig:
„Man kommt mit dir nicht weiter! Eigentlich bist du aber alt genug, zu wissen, was du willst.“
Sie lachte nur, gab ihm keine Antwort und sann, wie so ganz anders wäre alles, wenn sie genau wüsste, wie sie mit dem Baron daran war.
Man traf sich heimlich draussen vor dem Städtchen und immer leidenschaftlicher ward der Verehrer. Manchmal sah sie sich schon als Baronin in Reichtum und Behaglichkeit schwimmend, dann aber gab es Augenblicke, wo sie stutzte.
Der Baron führte oftmals so sonderbare Reden, und wenn sie ihn dann bat, deutlicher zu sprechen, brach er ab und meinte geheimnisvoll, alles würde ihr eines Tages klar werden.
Sie hatte für morgen nachmittag wieder eine Zusammenkunft verabredet, und dachte, es war gar nicht gut, dass ihr Mann in nächster Zeit wieder mehr an dem Bilde malen wollte.
Er malte in einem der Schlosseingänge, dessen Decke das Bild der Grävenitz, der sogenannten „Landverderberin“ trug.
Er malte dort mit offizieller Erlaubnis der Schlossverwaltung und ein kleiner Petroleumofen wärmte sein merkwürdiges Atelier.
Nur musste sie immer fürchten, er machte nach seiner Arbeit einmal einen Spaziergang ins Freie und traf sie dann — mit dem anderen.
Wenn er, wie letzthin, oft in Stuttgart gewesen, fühlte sie sich sicherer.
Sie musste jedenfalls sehr vorsichtig sein, denn wenn es zur Scheidung kam, wollte sie nicht der schuldige Teil sein.
Sie wusste ja zu genau, wie sehr ihr Mann die Scheidung wünschte, und deshalb gedachte sie ihn zu beeinflussen, er sollte der Schuldige sein.
Als Alfred von Bassing einsah, seine Frau würde vorläufig doch keine Notiz mehr von seiner Gegenwart nehmen, verliess er die Wohnung, lief dann kreuz und quer durch die Strassen, um schliesslich in einer einfachen Wirtschaft zu landen, wo er sich ein Nachtessen bestellte.
Und während er ohne besonderen Genuss ass, dachte er müde, wie quälte ihn die Frau, deren Schönheit ihn einmal berauscht, doch Tag für Tag. Wie ein Bleigewicht hängte sie sich an die Flügel seiner Künstlerschaft, riss ihn, wenn er sich aufschwingen wollte, immer wieder herab.
So manchen Sehnsuchtstraum, den er geträumt, hatte er im Bilde festhalten wollen, aber ihre ewige Unzufriedenheit, ihr Nörgeln und Spotten beraubte ihn immer mehr seiner besten Schaffenskraft.
Er starrte in sein Weinglas und sann, wenn zwei reine graue Augen, wie die dieses halben Kindes in Stuttgart, ihm auf seinem Weg geleuchtet, dann besässe er inneren Frieden.
Glücklich der Mann, dem sich Traute Overmans einmal zu eigen geben würde!
Sie war ja noch so jung, so blutjung, und wusste noch nicht, was die Liebe war.
Eines Tages aber würde auch ihre Stunde schlagen.
Glühend zu beneiden war der Mann, dem diese Augen einst in Liebe leuchten würden!
Er zahlte. Er wollte doch lieber wieder heimgehen, sich zur Ruhe begeben, alle törichten und alle traurigen Gedanken verschlafen.
Denn törichter gab es wohl nichts, als dass er schon jetzt den Mann beneidete, den sich Traute Overmans einmal zum Lebensgefährten erwählen würde.
Er wanderte dann wieder langsam heim durch die stillen Strassen und dachte dabei, obwohl er sich innerlich selbst verspottete, nur an das junge Mädchen, das von einem reichen alten Mann, der sich solche Versuche erlauben durfte, an einen Platz gestellt worden war, den eigentlich nur ein erprobter, gewiegter Kaufmann hätte ausfüllen müssen. Den die Sechzehnjährige aber mit solcher Begeisterung und angeborener Geschäftstüchtigkeit ausfüllte, dass es staunenswert war. Und der ihre Vorzugsstellung nichts von der frischen Natürlichkeit zu nehmen vermocht hatte, die sie so entzückend kleidete, dass sie jedermann lieb haben musste.
Er erschrak vor sich selbst.
War der Gedanke nicht wie ein heimliches Geständnis gewesen?
In der nächsten Sekunde ertappte er sich dabei, dass er mit leiser Sehnsucht und einem ganz eigenen Frohgefühl an das nächste Wiedersehn mit Traute Overmans dachte.
Jetzt riss er sich aber gewaltsam zusammen. Was durfte ihn das reiche, verwöhnte Mädchen kümmern, ihn, den fast unbekannten Maler, der verheiratet war und im Joch dieser in toller Verblendung geschlossenen Ehe seines Weges trottete, wie ein armes, müdes Zugtier, das zu schwere Last hinter sich herziehen muss.
Er erreichte den Marktplatz, der äusserlich fast derselbe geblieben ist, wie zur Zeit der Landverderberin, der stolzen Grävenitz, vor ungefähr zweihundert Jahren. Die niedrigen Häuschen mit den Arkaden, der plätschernde Brunnen, die alte Kirche, von der es eben wie ein halbverwehter Gruss aus verschollenen Tagen zehn Uhr schlug.
Es war Mondschein und das fahlbläuliche Licht des himmlischen Nachtwächters fiel schräg über den Platz, umspielte die steinerne Gestalt des einstigen Herrschers von Württemberg, der seinem Land das Geld entzogen, um seine ehrgeizige Geliebte zu schmücken und zu feiern.
Alfred von Bassings Augen suchten das Haus, in dem er wohnte.
Romantisch wirkte der altertümlich erhaltene Platz am lichten Tage, doch noch romantischer wirkte er, wenn ihn, wie jetzt, der Mondschein aus nächtlichem Schatten in bleiches spukhaftes Leben riss, fand der Maler.
Seine Künstlerseele genoss.
Kein Mensch war zu sehen.
Die Bewohner der kleinen Städte gehen im Winter früh zur Ruhe, und die wenigen Wirtshausbesucher pflegen so still und unauffällig heimzuschleichen, dass man sie gar nicht bemerkt.
Und wieder blickte Alfred von Bassing nach dem Haus hinüber, in dem er wohnte. Dort drüben herrschte Dunkelheit vor, aber ihm war es, als klinge eben leise das Schliessen eines Fensterflügels von dort herüber, als sähe er vor dem Hause, da, wo der Mondscheinstreif zu enden schien, eine dunkle Gestalt stehen.
Er schritt weiter, kam dem Hause näher und erkannte deutlich oben am dunklen Fenster des Wohnzimmers die Umrisse einer Frau. Aus dem Nebenzimmer der nach hinten gelegenen Schlafstube drang matter Lichtschein, sonst hätte er die Umrisse der Frau nicht erkennen können.
Also stand Lilli am Fenster des Wohnzimmers. Und die Gestalt, die er vorhin bemerkt, befand sich jetzt direkt unter dem Fenster und hielt etwas Weisses in der Hand.
Dicht vor seiner Haustür stiess er mit einem Herrn zusammen und stellte fest, das Weisse war Papier. Vielleicht ein Brief?
Es durchzuckte ihn, dieser Mann hing irgendwie mit Lilli und ihm zusammen, und es gab da irgendein Geheimnis, das ihn sehr anging und um das er sich kümmern musste.
Seine Vernunft warnte ihn, eine Uebereilung zu begehen.
Er durfte doch einen Herrn, den er zufällig vor der Tür des Hauses traf, darin er selbst wohnte, nicht festhalten und befragen, was er hier zu suchen habe.
Der Marktplatz war ja nicht sein persönliches Eigentum.
Der Fremde ging vorbei, aber Alfred von Bassing fiel ein starker Juchtengeruch auf, der den Kleidern des anderen entströmte.
Während er den Schlüssel ins Schloss steckte, dachte er, parfümierte Männer mochte er nicht leiden.
Juchten war spezielles Herrenparfüm, Sportsleute liebten es. Aber er fand es komisch, dass da jemand zu später Abendstunde auf dem Marktplatz herumstand und nach Juchten roch, als hätte er eine ganze Flasche davon über sich ausgeleert.
Nachdem er die Haustür aufgeschlossen, verharrte er noch minutenlang davor und gab sich seinen beunruhigten Gedanken hin.
Ueber den Mann dachte er nach, der vorhin gerade unter dem Fenster seines Wohnzimmers gestanden hatte.
Er meinte wieder das dünne Klingen eines Fensterflügels zu hören, der geschlossen wurde, und dann ein weisses Papier in der Hand des Fremden zu sehen, dessen Gesicht er, auch bei dem nahen Vorbeistreifen, nicht hatte erkennen können.
Eben wurde irgendwo in der Nähe ein Motor angekurbelt, und gleich darauf drängte sich aus einer nahen schmalen Strasse ein Auto heraus, das dort mit abgeblendeten Scheinwerfern gestanden haben musste.
Wahrscheinlich auf den Mann, der nach Juchten roch wie ein grosser Reisekoffer aus solchem Leder.
Wie ein dunkles, nächtliches Untier mit riesigen, feurigen Glotzaugen brummte das Auto fort und Alfred von Bassing betrat kopfschüttelnd das kleine Haus.
Seltsam war die Geschichte doch, sehr seltsam!
Irgend etwas stimmte nicht dabei!
Er fand seine Frau in tiefem Schlaf versunken, gar nicht zu erwecken war sie.
„Und als es ihm endlich gelang, schalt sie fast weinend: „Weshalb hast du mich denn mit Gewalt munter gemacht? Ich habe so tief und wundervoll geschlafen, seit du fortgegangen bist.“
Es klang überzeugend, aber er glaubte ihr doch nicht und sagte erregt: „Das ist ja nicht wahr, Lilli, du lügst! Du hast noch vor knapp zehn Minuten am Fenster des Wohnzimmers gestanden. Im Schlafzimmer hier brannte Licht, davon drang ein wenig Helle nach vorn und so vermochte ich dich zu erkennen.“
Sie setzte sich mit energischem Ruck im Bett auf, aber ihre Augenlider schienen vor Müdigkeit mit Gewalt zuklappen zu wollen.
„Rede doch, bitte, nicht so unheimliches Zeug zusammen,“ schalt sie, „dabei graut mir vor mir selbst. Ich kann doch unmöglich am Fenster stehen, wenn ich gleichzeitig im Bett liege und schlafe!“ Ihre Stimme ward schärfer. „Oder bist du etwa gar betrunken? Natürlich! Pfui Teufel, schäme dich! Und deshalb reisst du mich aus dem besten Schlaf, deshalb?“ Sie steckte den Kopf unter die Decke und erstickt klang es darunter hervor: „Roh bist du, grenzenlos roh! Wie durftest du dich nur soweit vergessen, eine arme müde Frau zu wecken, weil du im Suff Dinge gesehen hast, die unmöglich sind!“
Er ging hinüber in das Wohnzimmer und sann nach, ob ihm seine Phantasie nicht vielleicht wirklich durchgegangen war.
Dann brauchte es ihn natürlich nicht zu kümmern, wer der fremde Herr gewesen und wo ein Fenster geklirrt hatte.
Es mochte sich um eine heimliche Liebschaft in einem der Nachbarhäuser handeln.
Direkt nebenan waren zurzeit ein paar hübsche Berlinerinnen auf Besuch.
Vielleicht spielte eine davon in einer kleinen Liebeskomödie mit.
Er begab sich auch zur Ruhe, aber bis in seinen Traum hinein verfolgte ihn, was er kurz zuvor gesehen zu haben meinte.
Aber klarer sah er es, schärfer umrissen.
Als zöge es wie ein Filmband an ihm vorüber.
Er erblickte Lillis Gestalt am Fenster, vernahm deutlich, wie sie es öffnete, sah, wie sie etwas Weisses hinunterwarf, das der Mann aufnahm, der unter dem Fenster gestanden und auf den ein Auto so geheimnisvoll gewartet.
Am nächsten Morgen befand sich Lilli in allerbösester Laune.
Sie schalt, er benehme sich wie ein Rohling so unverantlich gemein, und er floh förmlich vor dem Gezeter, das sie anstimmte und das niemand dem schönen, gepflegten Geschöpf zugetraut hätte.
Er floh an seine Arbeit ins Schloss.
Lilli aber ward nicht ruhiger, nachdem ihr Mann gegangen, im Gegenteil, ihre Unruhe stieg noch.
Ihre Nerven revoltierten stark.
Sie überlegte: Dieses eine Mal hatte sie die Entdeckung noch abgewandt, wenn der Baron aber nochmals auf die Kateridee verfiel, ihr zu so später Stunde Botschaft zu geben, konnte das zu einem bösen Skandal führen.
Nicht nur ihr Mann bedeutete eine Gefahr, sondern die gesamte Nachbarschaft.
Mit ein paar flüchtig hingeworfenen Zeilen hatte sie den Stürmischen bewegen können, das Feld zu räumen, aber wiederholen sollte sich Aehnliches nicht.
Wie durfte er sich überhaupt in die Nähe des Hauses wagen.
Schon das war zuviel. Aber ihm hatte das nicht einmal genügt.
Sie liebte dergleichen nicht. Für Romantik in diesem Sinne fehlte ihr jedes Verständnis. Und das würde sie dem Baron auch klarmachen!
Sie verspürte gar kein Verlangen, sich in der kleinen Stadt bis auf die Knochen zu blamieren und ihrem Manne einen guten Scheidungsgrund zu geben.
Da hatte sie gegen ein Viertel vor zehn Uhr im Schlafzimmer vor dem Spiegel gestanden und ihr Haar gebürstet, als sie hörte, es fiel nebenan im Wohnzimmer etwas mit scharfem Aufschlagen zu Boden.
Sie erschrak natürlich, weil sie doch wusste, nebenan befand sich niemand, glaubte aber im ersten Moment, ihr Mann wäre zurückgekommen und hätte irgend etwas hingeworfen oder umgestossen. Als sie dann die Tür nach der Vorderstube öffnete, sah sie auf den ersten Blick, es lag da etwas Weisses am Boden.
Sie hatte kurz zuvor das eine Fenster im Wohnzimmer aufgemacht, damit die Stube etwas durchlüften sollte, und was da mitten auf dem dünnen Teppich lag, war ein ziemlich grosser Stein, um den ein weisser Briefbogen gewickelt war.
Sie las die durch das Fenster erhaltene Botschaft im Schlafzimmer.
Auf dem Briefbogen stand:
„Dein Wächter sitzt im Wirtshause, schönste Frau, er stört also nicht. Ich muss Dich sehen, weil ich toll vor Sehnsucht nach Dir bin! Komm wenigstens herunter zu einem einzigen Kuss. Ich kann nicht bis morgen nachmittag darauf warten. Oder noch besser, komm gleich mit mir, in meinem Heim ist viel Platz für die schönste Frau. Mein Auto wartet!“
Mit rasender Geschwindigkeit hatte sie auf denselben Bogen Papier gekritzelt: Fühle mich nicht wohl, morgen alles Weitere!
Und um den Stein gewickelt, hatte sie ihre Antwort hinuntergeworfen und das Fenster geschlossen, sich um nichts mehr gekümmert, wenn sie auch vor Angst bebte, der Stein könne noch einmal zurückgeflogen kommen. Diesmal müsste er durch die Scheiben.
Rasch schlüpfte sie ins Bett und atmete auf, als sie ein Auto fortfahren hörte.
Sie überdachte so das Erlebnis des gestrigen Abends noch einmal, und kam zu dem Ergebnis, das Stelldichein heute nachmittag musste sie auf jeden Fall einhalten, um dem Verliebten Vernunft zu predigen.
Sie wollte keine Torheit begehen, das musste der Baron einsehen, sie wollte nicht als schuldiger Teil aus der Scheidung hervorgehen.
Auch musste sie endlich genaue Erkundigungen nach den Verhältnissen des Barons einziehen.
Ihr war es zuweilen, als sei die heimliche Liebschaft viel zu rasch vorangegangen, als habe sie sich in ein Netz verstrickt.
Aber wenn sie dann wieder mit dem Baron zusammentraf, schienen ihr alle Bedenken lächerlich.
Man brauchte ihn ja nur anzusehen, um zu wissen, er gehörte zu den Vornehmen und Reichen.
Sie würde am besten tun, wenn sie so bald als möglich ihren Mann verliess und nach Berlin reiste. Bei ihrer Freundin Steffi konnte sie die Scheidung abwarten. Und dann war sie auch wohl bald so weit, dass der Weg zu Titel und Reichtum für sie frei ward.
Sie lachte schon wieder bei dem Gedanken, der ihr gefiel, und sann, dass sie so einem verliebten Menschen, wie dem Baron Westernhagen, noch niemals begegnet war im Leben.
Originell war er!
Hoffentlich hatte niemand aus der Nachbarschaft gestern abend die doch immerhin auffallende Szene beobachtet!
Ihre Wirtin schlief im Erdgeschoss nach hinten hinaus und kroch früh ins Bett, auch sonst mochte wohl niemand aus dem Fenster geguckt haben, weil es sehr kalt war.
Ihr Mann war ein bisschen zu früh nach Hause gekommen.
Aber ihn hatte sie dumm gemacht.
Darüber lohnte es sich gar nicht weiter nachzudenken.
Sie dachte, alles würde schon gut gehen, und fuhr zunächst nach Stuttgart, um Einkäufe zu machen.
Das Geld, das ihr Mann gestern heimgebracht, juckte sie zu sehr