Читать книгу Die Namenlose. Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.2 - Anny von Panhuys - Страница 13
42. Kapitel.
ОглавлениеLilli von Bassing fand, ihr Mann malte heute lange im Schlosse. Aber es war ihr sehr angenehm.
Bis er kam, würde sie wenigstens leidlich ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden haben, die sie jetzt ganz verloren hatte.
Sie hörte unten ihr ältliche Wirtin ein altes Volkslied singen.
Mehr laut als melodisch schallte es durch das Haus:
Morgenrot, Morgenrot,
Leuchtest mir zum frühen Tod —
Lilli dachte, das Geplärr war scheusslich. Sonst lachte sie über den Singsang, heute ärgerte und störte er sie.
Sie warf Mantel und Hut achtlos auf das Bett, nahm sich vor, ihrem Mann nachher zu sagen, sie wolle vorerst nach Berlin zu ihrer Freundin reisen und sie willige in die Scheidung.
Sie wollte froh sein, wenn sie diesen Ort hier erst weit hinter sich hatte, denn sie musste fortan jeden Augenblick fürchten, dem grässlichen Menschen wieder zu begegnen, dem sie allen Ernstes zutraute, dass er ihr etwas Böses antat.
Wie verblendet war sie denn nur gewesen, dass sie auf einen Wahnsinnigen hatte hineinfallen können.
Ein Schauer lief ihr über den Körper und sie meinte die ein wenig heisere Männerstimme wieder sagen zu hören: Ich verurteile dich, wie Heinrich der Achte seine Frau Anna Boleyn verurteilte: Zum Tode!
Sie wollte, nun sie sich vor der Gefahr gerettet und in Sicherheit wähnte, mit einem Lachen die Erinnerung an die unheimliche Situation vorhin verscheuchen, aber es gelang ihr nicht. Sie fühlte nur ein krampfiges Verzerren des Mundes und sah es auch im Spiegel, vor den sie gewohnheitsmässig hingetreten.
Unten sang jetzt die laute kreischende Stimme der Wirtin, die ein anderes Lied angestimmt hatte, mit lebhaftem Tremolieren und viel überflüssigem Gefühl:
Auf meinem Grabe soll’n rote Rosen, Rosen stehn,
Die roten Rosen und die sind schön!
Lilli von Bassing hielt sich einen Augenblick die Ohren zu.
Unerträglich war das ja heute! Das widerwärtige, überlaute Organ schien heute gar nicht mehr schweigen zu wollen.
Ihre Nerven schwangen immer noch in toller Unruhe. Die beängstigende, phantastische Szene, die sie vorhin weit draussen vor dem Städtchen durchlebt, liess sich nicht auf Kommando aus dem Gedächtnis fortschieben.
Mechanisch blickte sie noch immer in den Spiegel.
Sie fand sich entsetzlich bleich.
Sie wollte ein wenig Rot auflegen, was sie sehr selten tat.
Ihr Herz schlug noch immer wie ein Schmiedehammer.
Fast sehnte sie die Gegenwart ihres Mannes herbei.
Sie hatte beim Eintreten in das Schlafzimmer das elektrische Licht angeknipst, und wie sie so in den Spiegel schaute und wieder dachte, morgen früh musste sie abreisen, keine Minute länger als unbedingt nötig blieb sie in diesem Ort, hörte sie plötzlich hinter sich ein paar sprunghafte Schritte und sah in der nächsten Sekunde ein bräunliches, von Wut verzerrtes Männergesicht hinter sich, ganz nahe von ihrer Schulter.
Sie wollte um Hilfe schreien, wollte fliehen.
Doch Todesangst band ihr die Zunge, lähmte ihre Beine.
Als wäre sie stumm, so starrte sie in das Glas, starrte darin den Mann an, vor dem sie hierher geflohen war.
Im Spiegel tauchte Blick in Blick.
Die Augen des Mannes hatten einen wilden Ausdruck.
Er sieht aus wie ein Raubtier, das einem an die Kehle springen will! dachte Lilli von Bassing trotz aller Angst ganz klar.
Ihr fiel ein, gehört zu haben, man müsse stets auf die fixen Ideen Verrückter eingehen. Und so schwer es ihr wurde, versuchte sie zunächst den Mann im Spiegel anzulächeln.
Da sprach es dumpf über ihre Schulter her: „Ich habe dich zum Tode verurteilt, und deinem schönsten Sirenenlächeln wird es nicht gelingen, mein gerechtes Urteil zu beeinflussen. Ich nehme das Todesurteil nicht zurück!“
Ehe die Frau auch nur einer einzigen Bewegung fähig gewesen, hatte er die Rechte ausgestreckt und riss nun von einem nahen Tischchen einen länglichen, mit bunten Steinen besetzten orientalischen Dolch, stiess ihn, sie mit der linken Hand festhaltend, mit voller Wucht seitlich in ihren Hals.
Ihre Arme fuhren jäh hoch und mit dumpfem Röcheln sank der Körper zur Seite. Langsam liess er ihn zu Boden gleiten.
„Ich habe Gericht gehalten,“ murmelte der seltsame Mörder und dann verliess er, ohne die Verblutende auch nur noch mit einem Blick zu streifen, das Haus auf demselben Wege, wie er es betreten.
Die Haustür war vorhin offen gewesen, und die Wohnzimmertür im ersten Stock ebenfalls.
So war er in das Schlafzimmer gelangt, ohne von der Wirtin bemerkt zu werden.
Unbemerkt schlich er wieder fort, tauchte draussen in das abendliche Dunkel, das im Winter schon so früh niedersinkt.
Eine Viertelstunde später kam Alfred von Bassing heim.
Er hatte ziemlich lange gemalt und war dann, wie er es liebte, noch ein Stündchen durch die frische Winterluft gelaufen.
Es trieb ihn ja keine Sehnsucht heim, es trieb ihn längst keine Sehnsucht mehr schneller als nötig zu der Frau zurück, die ihn so bitter enttäuscht.
Er hörte, als er die Treppe hinaufschritt, die Wirtin in ihrer Küche singen.
Er achtete kaum darauf, um diese Zeit liess sie immer kräftig die Stimme erschallen.
Er wunderte sich aber, dass oben die Wohnzimmertür weit offen stand. Bei der Kälte war das doch leichtsinnig von Lilli, die Tür so weit aufzulassen.
Er sah, im Schlafzimmer brannte das Licht und ging dorthin.
Aber auf der Schwelle blieb er wie angewurzelt stehen, denn dicht vor dem Spiegel lag Lilli in schräger, fast ein wenig zusammengekauerter Haltung, und über die helle, wollene Russenbluse, die am Hals leicht ausgeschnitten war, breitete es sich wie ein kleiner roter Blutsee aus.
Er dachte erschreckt: War seine Frau gefallen, hatte sie sich dabei verletzt?
Schon war er dicht bei ihr.
Ihre Augen waren geschlossen und ihre Hände eiskalt.
Und das Gesicht schien wie aus Wachs geformt, so starr.
Gütiger Himmel, was war nur geschehen? Sein Atem ging schwer vor Entsetzen.
Als er den leblosen Körper aufrichten wollte, klirrte etwas auf den Fussboden nieder.
Aber er achtete nicht darauf.
Starker Juchtengeruch irritierte ihn. Aber er war über das Schreckliche, das er nicht begriff, so verwirrt, dass ihm nicht einfiel, wie ihm dieser starke Geruch gestern abend aufgefallen war an dem Fremden, den er vor seiner Haustür getroffen, dessen Gesicht er aber nicht hatte erkennen können.
Er war grenzenlos bestürzt und ratlos.
Was war geschehen? War Lilli tot?
Ihr starres Gesicht war das einer Leiche, aber es schien ihm unmöglich, dass die Frau, die ihn heute früh noch mit bitterbösen, höhnischen Reden aufs äusserste gereizt, tot sein sollte.
Hatte sie etwa gar Selbstmord begangen?
Aber das passte doch nicht zu ihr und ihrer oberflächlichen Lebensauffassung. Sie hing am Leben. Nein, ein Selbstmord war völlig ausgeschlossen.
Er liess den Körper sanft zurückfallen und lief zur Treppe, rief laut nach der Wirtin.
Frau Stäble kam langsam angeschlurft auf den Flursteinen. In ihren grossen Filzschuhen konnte sie sich nicht so schnell fortbewegen.
„Was gibt es denn, Herr von Bassing? Soll ich Abendessen richten oder essen Sie heute mit der Frau in der Wirtschaft?“
Er schrie sie an: „Heraufkommen sollen Sie, rasch, sehr rasch. Es ist etwas mit meiner Frau geschehen!“
Frau Stäble machte ein neugierig wichtiges Gesicht.
Nichtsdestoweniger schlurfte sie aber sehr gemütlich die Treppe hinauf.
„So schlimm wird es ja wohl nicht sein, dass man sich so zu hetzen braucht,“ brummte sie kopfschüttelnd, als sie oben vor ihm stand und rückte gemächlich ihren angesteckten fuchsigen Haarknoten gerade, den sie schon in ferner Jugendzeit getragen, denn ihr angewachsenes Haar war eisgrau.
„Sie zittern ja wie Espenlaub!“ stellte sie mit hochgezogenen Brauen fest.
Er antwortete nicht und schob sie bis zur Schlafzimmertür.
Als sie den starren Körper und das Blut sah, schrie sie laut auf und stürzte, ehe sie Alfred von Bassing noch daran verhindern konnte, die Treppe hinunter und aus dem Hause. Die Riesenfilzschuhe störten sie nicht mehr, so mächtig war die Aufregung, die sie so fix machte, wie sie in ihren jungen Jahren gewesen.
„Mord! Mord!“ gellte ihre Stimme über den kleinen altertümlichen Platz und immer wieder schrie sie das schreckliche Wort hinaus in den frühen Winterabend.
Schon eilten die ersten Neugierigen herbei, auch ein Polizist war plötzlich da.
Sie führte den Trupp ins Haus, erzählte dabei alarmierend laut: „Die Malersfrau liegt in ihrem Blut, schaurig sieht sie aus. Aber kein anderer hat sie ermordet, wie der eigene Mann. Die zwei zankten sich ja auch so oft sie zusammen waren. Sie schien keine besonders Gute gewesen zu sein, aber das, nein, das hätte er doch nicht tun dürfen, er muss sich in der Wut soweit vergessen haben!“