Читать книгу Die Namenlose. Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.2 - Anny von Panhuys - Страница 6
35. Kapitel.
ОглавлениеEin paar Tage danach sass die junge Traute neben Lamprecht Overmans im Auto und sie fuhren zusammen ins Bureau der Overmansschen Brauerei, wo das junge Mädchen seine erste praktische Lehrzeit durchmachen sollte.
Traute ging sofort mit so grossem Feuereifer und so grosser Begeisterung an die Aufgabe heran, dass der noch immer kraftvolle alte Herr zu seinem Sohne meinte: „Es ist doch zuweilen etwas Prachtvolles um die Vererbung. In dem Mädel rumort all das, was in mir in jungen Jahren herumrumorte. Ich habe aber schon öfter gehört, dass einem die Enkel in Veranlagung und Begabung oft ähnlicher sind wie die Söhne. Ich meine damit nicht, dass du ein schlechter Kaufmann bist, Günter, bitte, fasse es nicht so auf, aber soviel weiss ich heute schon, deine Tochter wird dich geschäftlich überflügeln. Ich tauschte das Mädel für keinen Jungen ein, denn Traute ersetzt später einmal vollkommen einen männlichen Overmans.“
Günter wiederholte die Worte seiner Frau und setzte nachdenklich hinzu: „Mir ist es tatsächlich, als wäre Trautchen unser eigenes Kind. Sie ist ein so blutwarmes liebes Geschöpf, so ohne alle bösen Fehler, dass man ihr einfach gut sein muss. So, wie wir uns unser Mädel nur wünschen konnten, ist es geworden und darüber müssen wir uns freuen. Das gewagte Experiment, das eine Nelly Brown machte, hätte auch schlimm ausfallen und sich an der Heranwachsenden irgendwelche schlechten Eigenschaften zeigen können, die uns Sorge bereitet hätten.“
Karola blickte nachdenklich.
„Du hast recht, Günter, und meine Natur, die wohl überhaupt keiner ganz grossen Leidenschaft fähig ist, die sich ducken und kneten lässt und sich fügt, ist ja auch mucksstill gewesen, plätscherte im gemütlichen Wohlleben hin, bis ich kürzlich nachts unser Trautchen sah, unser wirkliches Trautchen so sah, wie es wahrscheinlich jetzt aussehen würde, wenn es am Leben und bei uns geblieben wäre. Das hat mich wieder so sehr verstört, nur das.“
Ihre Augenlider zuckten.
„Es ist ja nun alles schon so lange her, und zuweilen meine ich, das, was wir damals in Freiburg erlebt, wäre gar nicht wahr gewesen, ich hätte es nur einmal gelesen und tief mitempfunden. Und es sei in mir hängen geblieben, so wie der Inhalt guter Bücher in uns hängen bleibt, die uns grossen Eindruck hinterlassen.“
Und nach und nach ward auch die Erinnerung an die Erscheinung wieder matter, Karola Overmans lebte ruhig und glücklich in dem schönen Haus am Herdweg in Stuttgart, dessen nächster Nachbar ihr Schwiegervater war, der es an Aufmerksamkeiten gegen sie niemals fehlen liess, seit aus seiner Enkelin, dem matten Menschenpflänzchen, ein kräftiges, gesundes Geschöpf geworden.
Und es ward winterlich.
Der Kranz von Bergen, der Stuttgart umgibt wie ein erhabener Rahmen, überzog sich weiss. Seit Tagen fiel Schnee und blieb liegen, schuf ein verzaubertes Märchenreich.
Trautchen arbeitete sich jetzt, nachdem sie ein Vierteljahr in der grossväterlichen Brauerei Bureauarbeiten getan, in der Pianofabrik ein, deren klangvolle Fabrikate während der Kriegsjahre automatischen Drehbänken hatten Platz machen müssen.
Aber die Zeit der Granaten war lange vorbei, man durfte diese Weihnachten die himmlische Botschaft: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden! schon mit ruhigerem Atem anhören wie in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren.
Lamprecht Overmans sass an seinem Schreibtisch und ihm gegenüber Traute, den dunklen Lockenkopf tief über einen Brief geneigt, den sie aufsetzen sollte.
Der alte Herr warf ab und zu einen heimlichen Blick über den Tisch, und jedesmal nach so einem Blick glitt über sein kühles, ausdrucksvolles Gesicht ein weicher Zug.
Nach einem Weilchen reichte ihm Traute den fertigen Brief.
„Guck einmal, Grosspapa, bitte, ob ich die Geschichte richtig gemacht habe?“
Es handelte sich um einen ziemlich schwierigen Geschäftsbrief und Lamprecht Overmans nickte nach aufmerksamem Durchlesen zufrieden vor sich hin. Ganz famos war der Stil, kein Mensch, dem der Inhalt des Schreibens vor die Augen kam, würde es für möglich halten, dass ihn ein so blutjunges Mädchen abgefasst.
Er schmunzelte: „Der Brief kann so bleiben, schreibe ihn nur gleich mit der Maschine ab, und dann, Trautchen, zur Belohnung für den Brief, hören wir heute nachmittag früher auf, schwänzen die Arbeit und gehen Weihnachtseinkäufe für die Eltern machen. Das liegt dir ja doch besonders am Herzen.“
Trautchen strahlte ihn an.
„Grosspapa, ich muss mich immer wieder wundern, wie klug du bist!“
Er lachte vergnügt.
„Beinahe so klug wie du, mein Liebling, nicht wahr?“
Nachdem der Brief dann abgeschrieben war, fuhren die beiden zusammen in der Stadt herum, kauften hier etwas ein und dort etwas, und schliesslich hielt das Auto vor einer Kunsthandlung, die sich dadurch hervortat, dass sie nur ganz ungewöhnlich gute Arbeiten moderner Maler ausstellte und verkaufte.
Lamprecht Overmans fand, ein künstlerisches Bild war immer ein willkommenes Geschenk, namentlich für jemand, der es, wie seine Schwiegertochter, liebte, die Wände überreich mit Bilderschmuck zu dekorieren.
Der Inhaber der Kunsthandlung, der noch eben im eifrigen Gespräch mit einem Herrn gestanden, stelzte auf hageren Beinen heran, klappte zu tiefer Verbeugung wie ein Taschenmesser zusammen.
Der stadtbekannte reiche Lamprecht Overmans war ein Kunde, der nur das Beste und Teuerste kaufte.
Auch die junge Dame, die ihn begleitete, ward mit tiefer Verbeugung begrüsst.
Lamprecht Overmans sagte: „Wir wollen uns einmal bei Ihnen umschauen, verehrter Herr Meifinger, ich suche nämlich ein hübsches Bild für meine Schwiegertochter.“
Alois Meifinger nickte eifrig.
„Es sind allerdings schon ein paar sehr schöne Stücke als Weihnachtsgeschenke verkauft worden, aber es ist auch noch viel Schönes vorhanden! Vielleicht darf ich die Herrschaften in den Nebensaal bitten, da gibt es ein paar ganz besondere Prachtstücke.“
Er hob eine schwere Tuchportiere und liess die beiden Besucher vorangehen, folgte ihnen und meinte dann: „Ich möchte auf keinen Fall durch meine Gegenwart auch nur im geringsten stören. Allein, in aller Ruhe, sagen Ihnen die Bilder vielleicht mehr, als wenn ich nebenher gehe und schwatze.“
Mehr offen und ehrlich als höflich, liess Traute ein lautes: „Ja, Sie haben vollkommen recht!“ hören.
Alois Meifinger blickte ein bisschen verblüfft, aber dann zog er sich mit einem kleinen Lächeln zurück.
Die junge Dame musste die Enkelin Lamprecht Overmans sein, er hatte gelegentlich einmal gehört, sie wäre ziemlich geradezu und schlüge darin dem Grossvater nach, der aus seinem Herzen auch keine Mördergrube zu machen pflegte.
Langsam schritten Lamprecht Overmans und das junge Mädchen durch den schmalen Saal, dessen an den Wänden hängende und auf Staffeleien stehende Bilder vermittels geschickter Beleuchtung zu bester Wirkung gebracht wurden.
Es war hier wohl für jeden Geschmack etwas zu finden.
Landschaften gab es, die Frieden und Ruhe aushauchten, kleine Häuschen in dörflicher Stille, in die man sich hineinsehnte, und tanzende Paare, betende Madonnen, kämpfende Soldaten, sowie spielende Kinder. Tiere aller Arten und bunte Blumen und noch vieles andere.
Tolle, übermoderne Bilder drängten sich manchmal vor, aber sie gefielen Lamprecht Overmans nicht, er wollte solide, klare, reine Malerei, brummte er Traute zu, bunte Kleckserei wünsche er nicht zu kaufen.
Plötzlich blieb Traute, die jetzt ein paar Schritte vorangegangen war, mit einem lauten Entzückungsrufe stehen.
„Grosspapa, hier ist etwas ganz Köstliches! Ich kann mir gar nichts Lieberes und Süsseres denken.“
Trautes von der frischen Winterluft draussen noch rosig gefärbtes Gesicht drückte helle Begeisterung aus und der alte Herr war fast neugierig, das Bild zu sehen, das seinen Liebling auf den ersten Blick gefesselt hatte, wie ihr Enthusiasmus verriet.
Und dann stand auch er davor. Aber er war unfähig, sofort eine Meinung darüber zu äussern, so sehr schlug ihn das Bild in Bande.
Ihm war es, als dürfe er gar nicht laut atmen, denn auf dem Bilde sah er Trautchen als kleines Mädchen in einem grossen sauberen Bett hocken, rund und mollig, mit den wundervollen Grauaugen den Betrachter anschauend.
Genau so hatte Trautchen ausgesehen nach ihrer Genesung, als er sie und ihre Mutter aus Davos abgeholt.
Er verharrte ganz benommen vor dem Bilde und sann, wie seltsam es doch war, welche Aehnlichkeit das Kind auf dem Gemälde mit Traute hatte, als sie ein ungefähr fünfjähriges Mädelchen gewesen.
Die neben ihm Stehende zupfte ihn am Aermel.
„Ist das kleine Ding nicht wirklich entzückend, Grosspapa? Wenn es nicht zu teuer ist, solltest du es Mutti schenken! Ich glaube, sie würde sich sehr darüber freuen.“
„Das glaube ich auch, das glaube ich sogar bestimmt,“ gab er zurück, „denn denke nur, Trautchen, genau wie das Kind auf diesem Bild, hast du einmal ausgesehen. Man könnte meinen, du hättest dem Maler damals als Modell gedient.“
Er ging an die Portiere, rief den Kunsthändler und führte ihn dorthin, wo Trautchen inzwischen wieder in neues Schauen versunken war.
Lamprecht Overmans fragte den Kunsthändler: „Wer hat das Bild mit dem Titel: Erwachendes Kind! gemalt? Es trägt keinen Namen, ist nur mit drei Buchstaben signiert und die Jahreszahl ist undeutlich.“
Die Jahreszahl interessierte ihn besonders.
Alois Meifingers Pergamentgesicht verzog sich zu beifälligem Lächeln.
„Die Herrschaften haben das hübscheste Bild von allen sehr schnell herausgefunden! Es ist von einem jungen Berliner Maler, der zurzeit nicht weit von hier wohnt, nämlich in Ludwigsburg. Seine Bilder tragen die drei Buchstaben A. v. B., das heisst Alfred von Bassing, und ist das Bild „Erwachendes Kind“ erst in diesem Jahre gemalt worden.“
Lamprecht Overmans sann, das Bild konnte also in gar keinem Zusammenhange mit Traute stehen, wenn es erst in diesem Jahre gemalt worden war.
Aber um eine wundersame Aehnlichkeit handelte es sich, um die denkbar wundersamste. Lamprecht Overmans begriff nicht, dass es solche Aehnlichkeiten geben konnte.
Aber das Bild bewies es.
Am nächsten Tage hing es schon in seinem Schlafzimmer. Hier sollte es bleiben bis zum Weihnachtsabend, wo es hinübergeschafft werden würde in das Nachbarhaus, um sich den anderen Geschenken für die Schwiegertochter beizugesellen.
Trautchen durfte den Eltern nichts von dem Bild verraten, damit die Ueberraschung vollkommen würde.
Er aber erfreute sich morgens und abends an dem Anblick des grossen Gemäldes, erfreute sich an dem im weissbezogenen Bettzeug hockenden molligen Mädelchen mit dem verwirrten dunklen Haar und dem halb offenen Mäulchen. Das Hemdchen war über die runden Schultern gerutscht und die niedlichen, grübchenbestickten Hände lagen gleich rosigen Blüten auf der schneeigen Decke.
Der alte Lamprecht Overmans hielt wahre Andachtsstunden vor dem Bilde ab und noch oft sann er darüber nach. Wie war es nur möglich, dass dieses Kind, das der Maler so lebenswarm auf die Leinwand gebannt, dem Trautchen von einst so fabelhaft glich?
Er schmunzelte auch oft in sich hinein in der Vorfreude, wie Karola die Augen aufreissen würde vor Staunen, was er für sie gefunden.
Er schenkte ihr gern, war stets dazu bereit, sie war ihm lieb und wert geworden, seit er sich nicht mehr darüber aufregen und grämen brauchte, dass seine einzige Enkelin ein so jämmerliches Angstpflänzchen war.
Und das von so vielen, vielen Menschen heissersehnte Christfest kam heran.
Weiches, winterliches Dämmern setzte früh ein, breitete dunkle Teppiche aus, über die der Abend heranschritt.
Der schönste Abend des Jahres!
Der Abend, an dem die Ruhelosesten im Heim bleiben, wo die Bösen gütig werden und die Harten milde.
Und die Sterne zogen herauf, standen wie herrlich geformte Silberlichter droben am Abendhimmel und Glockengrüsse flogen über die in tiefem Schnee gebettete Stadt.
Von hier und dort klang Gesang.
Alte Weihnachtslieder wurden wach, in den Häuschen der Armen und in den bequemen Wohnstätten der Reichen.
Der Geburtstag des überragendsten Sohnes, den je eine Mutter geboren, ward gefeiert von Alt und Jung, von Gross und Klein, und die ihn nicht mitfeierten, das waren die Aermsten der Armen.
Die Sterne schimmerten und gleissten geheimnisvoll, wie sie dereinst schimmerten und gleissten vor mehr als zweitausend Jahren über der Hütte, in der mit dem Jesuskind die wundervollste, selbstloseste Menschenliebe geboren wurde.
Die Liebe, die alles duldet, leidet und trägt, die niemals unwillig und müde wird.
Eine Liebe unirdischer Art.
Wie Sphärenmusik schien es durch das All hinzuströmen, in himmlischen Chören schien es zusammenzufliessen, beseligend und herzerschütternd:
Stille Nacht, heilige Nacht!
Ohne die Worte zu hören, fühlte und empfand man es inbrünstig, die stillste und heiligste Nacht lag über dem dunklen sternendurchflimmerten Land und die Liebe lächelte ihr heiliges, versöhnendes Lächeln, die grosse schöne Menschenliebe, die so oft, so traurig oft, achtlos überrannt wird von Selbstsucht und Kaltherzigkeit.