Читать книгу Die Namenlose. Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.2 - Anny von Panhuys - Страница 7

36. Kapitel.

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„Ich freue mich

ganz fürchterlich!“

sang Traute Overmans nach einer selbstkomponierten Weise und zog sich dabei in ihrem reizenden Mädchenstübchen um.

Grosspapa hatte es gern, wenn sie recht hübsch aussah, und so wählte sie aus ihrer reichhaltigen Garderobe ein weisses Tuchkleid, das ihr besonders gut stand, und lächelte sich vergnügt im Spiegel an, während sie sich immer wieder von neuem ihre Komposition mit dem selbstverfassten Text vortrug, der kurz und bündig über ihre Stimmung Aufschluss gab.

Wenn man sechzehn Jahre und gesund ist, und ausserdem von seiner Umgebung geliebt und verwöhnt wird, so ist das wohl allein schon Grund genug, immer wieder zu verkünden:

Ich freue mich

ganz fürchterlich!

Wenn aber noch die Heiligabendfreude dazukommt und die Vorfreude auf einen reich besetzten Gabentisch, dann ist man sogar berechtigt, sich „fürchterlich“ zu freuen.

Ein Stündchen später, nachdem die Dienerschaft der beiden Häuser beschenkt worden war und man gegessen hatte, baute man sich gegenseitig auf und Lamprecht Overmans bedeckte alles, was die Jüngeren von ihm erhielten, mit Tüchern.

Nachdem der grosse Baum angezündet war in Günters Wohnzimmer, setzte sich Karola an das Piano und begann das uralte Marienlied zu spielen:

Es ist ein Ros’ entsprungen aus einer Wurzel zart — —

Ihre helle Stimme sang das Lied mit und Lamprecht Overmans sann, wie heimatlich warm war doch dieses Haus, darin seine Kinder lebten.

Alle drei waren sie seine Kinder: Günter, Karola und Trautchen.

Früher hatte er die weichen Gefühle, wie er sie jetzt oft empfand, gar nicht gekannt, Aber er, dem früher nur das Geschäft und das Geldverdienen Befriedigung gaben, stellte jetzt das Familienleben über alles.

Konnte es denn zum Beispiel etwas Schöneres und Wünschenswerteres auf der Welt geben, als im sorglosen Heim mit geliebten Menschen das Christfest zu feiern?

Wer ihm früher gesagt, er würde einmal so denken, den hätte er ausgelacht.

Sein Blick suchte das junge Mädchen, das neben dem Piano stand und seine Zärtlichkeit legte sich wie ein weicher, schützender Mantel um die schlanke, aber nicht schmale Gestalt.

Sein Blick suchte die grauen Augensterne in dem rosigen Gesicht.

Und da hoben sich die Lider mit den unwahrscheinlich langen schwarzen Wimpern und Trautchen erwiderte den Blick mit Wärme.

Sie tat dem jungen Herzen immer von neuem wohl, die Güte des alten Mannes, die stets bereit war.

Langsam, wie magnetisch von seinem Blick angezogen, ging Trautchen auf ihn zu, flüsterte verhalten dicht an seinem Ohr: „Ich habe dich über alles lieb, Grosspapa!“

Günter Overmans sah, wie sein Vater Trautchen küsste und Karola sah es, flüchtig aufblickend, auch.

Sie waren es beide gewöhnt, dass der alte Mann und das junge Mädchen manchmal wie Verliebte taten, aber heute fiel es ihnen doch wieder besonders auf.

Beide empfanden es überzeugend stark von neuem, was sie ja eigentlich längst wussten: Das Glück, den Frieden ihres Heims, ja ihre ganze Existenz hielt das junge Geschöpf in seinen kleinen kraftvollen Händen, das fremde Reis auf ihrem Stamm, das fremde Schwarzwaldmaidle, das eine echte Overmans schien.

Das Weihnachtslied, das einst vor vielen Jahrhunderten zu Ehren der Mutter des Heilands entstanden, war verklungen, Tücher wurden von den bis jetzt dahinter versteckten Geschenken gezogen und jeder ging an seinen Gabentisch.

Behaglich beschaute sich Günter Overmans, was ihm seine Lieben beschert, behaglich betrachtete auch sein Vater, was man für ihn zusammengekauft, und Freudenschreie, die ein paarmal die Grenze zum Indianergeheul überschreiten wollten, ertönten aus der Richtung, wo sich Trautes Tisch befand. Karola aber stand sehr blass vor ihrem Tische.

Sie war keines Wortes fähig.

Sie starrte regungslos dorthin, wo gewissermassen als Hintergrund vieler anderer Geschenke ein grosses Bild aufgebaut war.

Sie starrte das dralle Mädelchen auf dem Bilde an und ihr Denken verwirrte sich.

So hatte doch die kleine Babette Kempen ausgesehen, als man sie ihr an Stelle ihres eigenen Kindes in das Freiburger Hotelbett gelegt! Genau so hatte die derbe Niedlichkeit damals ausgesehen, als sie erwachte, an jenem unglückseligen Tage, da sie selbst leichtsinnig genug war, ihr eigenes Kind für kurze Zeit unter der Obhut der alten Tänzerin Nelly Brown zurückzulassen. Um mit Günter das alte Freiburg zu durchwandern.

Sie versuchte zu überlegen, wie es nur möglich war, dass es jetzt, viele Jahre später, ein Menschenkindchen gab, das ganz genau so aussah wie Babette damals. Und war es nicht ein sonderbarer Zufall, dass es einem Maler einfiel, dieses kleine Mädel in ein so grosses Bett hineinzumalen, und ging es nicht über jeden Zufall hinaus, dass auf der Bettdecke, achtlos hingeworfen oder von müden Kinderhändchen beiseite geschoben, eine kleine Puppe lag und ein Wollbär?

Diese beiden Spielsachen, eine Puppe und ein Wollbär, die beide ihrem Kinde gehörten, lagen damals, als Nelly Browns rücksichtslose Energie sich schicksalswendend in ihr Leben einmischte, auf der Decke des Hotelbetts, darin man an Stelle Trautchens das fremde Kind fand.

Ihr Blick hob sich wie mühsam von dem Bild, das ihr ein gefährliches, unlösbares Rätsel schien, das grausam alte Erinnerungen mit unheimlicher Deutlichkeit heraufbeschwor.

Sie dachte, das eine der beiden Kinder, die man vertauschte wie Gegenstände oder wie arme hilflose Tiere, war lange, lange tot, das andere aber war inzwischen ein grosses Mädchen geworden und ihr ans Herz gewachsen.

So sehr, dass sie es liebte wie ein eigenes Kind.

Nein, vielleicht doch nicht ganz so!

Es war da immer noch ein Etwas in ihr, das sich nicht ausgab, das aber in einer unnennbar starken, in einer unbeschreiblich beseligenden Liebe hingeströmt wäre über das Kind, das sie einst unter dem Herzen getragen.

Wie einen geheimen Schatz trug sie das Gefühl ständig mit sich herum, wenn sie auch wusste, sie würde den geheimen Schatz ihrer Mutterliebe niemals verschwenden können.

Drüben in England lag irgendwo ein kleines Grab, das sie nie gesehen und nie sehen würde, von dem man wahrscheinlich überhaupt nichts mehr sah, und darin ruhte das Kind ihrer Schmerzen und wehen Erinnerungen.

Das Kind, das den Platz der Toten einnahm, war gesund und lebenskräftig wie ein derber Junge.

Ihr Auge suchte das junge Mädchen, das eben Kusshände zu Lamprecht Overmans hinüberwarf und ihm zurief: „Grosspapa, wie reich hast du mich beschenkt! Du bist der liebste und beste Mann auf der ganzen Welt, glaube es mir. Dumm eingerichtet ist es nur, dass wir so nahe miteinander verwandt sind!“

Lamprecht Overmans schüttelte verständnislos den Kopf.

„Ich meine, das wäre doch gerade das Gescheiteste.“

Der rote Mund lachte sein berückendes Lachen, zeigte ein wenig die wundervollen Zähne.

„Grosspapa, überlege nur, wenn wir nicht so nahe miteinander verwandt wären, könnten wir uns doch heiraten!“

So komisch es klang und obwohl alle lachten, taten die drolligen Worte Karola weh. Ihr fiel eine kleine Szene ein von damals, ehe sie vor zwölf Jahren mit ihrem kränkelnden Kinde nach St. Blasien abgereist. Da hatte es auf dem Schosse Lamprecht Overmans’ gesessen und gepiepst: „Opapa, ich habe dich lieb, und wenn ich wiederkomme, huste ich gar nicht mehr, und wenn du willst, heirate ich dich!“

Die Nurse, Hedwig Ritter, musste das damals dem Kind einstudiert haben.

Die Szene war ihr ganz entfallen, nun, durch die Worte des jungen Mädchens, erinnerte sie sich plötzlich daran.

Karola unterdrückte einen Seufzer, es kam in der letzten Zeit auch alles zusammen, um die Vergangenheit wieder grausam lebendig zu machen.

Ihr Mann trat jetzt zu ihr.

„Ich wollte vorhin deine Andacht vor dem Bild nicht stören, jetzt muss ich mich aber doch überzeugen, was dich bisher so fesselte, dass du deine ganze Umgebung darüber vergassest.“

Er erblickte das Bild zum ersten Male, da es bis vor wenigen Minuten noch völlig verhängt dagestanden, und auch er schrak zusammen, denn auch er sah sofort, das war Trautchen an jenem Tage, da sie zum letztenmal Babette Kempen hiess.

Sie musste es sein, eine solche Aehnlichkeit schien ihm unglaublich, unmöglich.

In seinem Kopf entstand ein wirres Durcheinander und Furcht drängte sich an ihn heran, unheimliche, seltsame Furcht.

Welche Absicht barg sich hinter diesem Geschenk? Was bezweckte sein Vater damit?

Es war doch keine harmlose Weihnachtsgabe, es musste sich irgendein grausamer Sinn dahinter verstecken! Ein Sinn, der allerdings unverständlich ward, wenn man beobachtete, wie innig der alte Mann eben wieder das Mädelchen ans Herz drückte, das vor Weihnachtsfreude ganz aus dem Häuschen war.

Die Augen des Ehepaares fanden sich in banger Frage und sie kamen sich vor, wie zwei Menschen, die ein geheimes Verbrechen einte, die sich seit langem in Sicherheit gewiegt und nun plötzlich merkten, die Sicherheit war trügerisch.

Arm in Arm tauchten der Aelteste und die Jüngste der Familie hinter ihnen auf und Lamprecht Overmans lachte: „Nun, Karolachen, ist die Ueberraschung gelungen? Aber was braucht man dich erst noch zu fragen, ich habe ja beobachtet, du hast dich förmlich in das Bild hineingekniet. Komisch und verblüffend ist die Aehnlichkeit mit unserm Herzenskind von einst, nicht wahr? Ich habe es unserem Trautchen, die das Bild übrigens zuerst bei Meifinger entdeckte, gleich erklärt, so hätte sie einmal ausgesehen, genau so. Und es ist schnurrig zu denken, irgendwo existiert jetzt ein wildfremder, molliger Balg und sieht so aus, wie unser dickes Strampelchen damals aussah, als ich es mit dir aus Davos abholte. Weisst du noch, Karolachen, wie ich mich damals freute über unseren gesund gewordenen Liebling? Und hauptsächlich wegen der Aehnlichkeit kaufte ich das Bild und dachte mir gleich, es müsste dir gefallen und dir Eindruck machen.“

Karola war es, als gleite eine grosse Bürde, die man ihr aufgepackt, von ihren Schultern, eine Bürde, viel zu schwer für sie.

Wie harmlos und einfach die Erklärung war, an deren Stelle sie ein schweres, unlösbares Rätsel gewittert.

Sie bemerkte, auch ihr Lebensgefährte atmete erleichtert auf, aber als sie sich später beide allein befanden, begannen sie darüber nachzugrübeln, welch ein Zufall es doch war, dass der Maler nicht allein ein Modell gefunden, das der einstigen kleinen Babette Kempen auf ein Haar glich, sondern dass auch das gesamte Drumherum dem Milieu ähnelte, in dem der Umtausch der Kinder geschah.

„Die Puppe und den Wollbären von damals habe ich sogar aufgehoben,“ sagte Karola leise, ganz leise zu ihrem Manne, als fürchte sie, jemand könne sie hören, obwohl schon alle im Hause schliefen.

Ihr Mann zuckte die Achseln.

„Es ist alles sehr eigentümlich und sonderbar, mein Lieb, aber wir müssen uns schliesslich wohl doch an die Erklärung vom Zufall halten. Man hört gelegentlich immer wieder von Zufällen, die unglaubhaft klingen, die in Romanen und Theaterstücken gesucht erscheinen würden. Ich meine, wenn man es genau überlegt, so ist das Merkwürdigste bei allem nur die Aehnlichkeit des Kindes auf dem Bilde mit —“ Er zögerte flüchtig und vollendete dann: „Mit dem unseren! Weshalb soll ein Maler zum Beispiel so ein Püppchen, statt in ein kleines, nicht einmal in ein grosses Bett stopfen, in dem es malerisch vielleicht viel mehr zur Geltung kommt? Und die Spielsachen? Puppe und Wollbär sind ein paar so landläufige, beliebte Spielsachen, dass sie das am wenigsten Auffallende sind. Zum kleinen Mädel gehört die Puppe und sowohl Mädel wie Jungen schwärmen für Wollbären.“

Karola liess sich beruhigen. Sie sah alles ein, was ihr Mann erklärte.

Als dann das Bild in ihrem sogenannten Damenzimmer hing, wo sie sich gern aufhielt, stand sie oft davor und ihre Gedanken flogen, wie gescheucht von gebietender Hand, in die Vergangenheit zurück.

Lamprecht Overmans meinte, das Kind auf dem Bilde sähe dem gesundeten Trautchen ähnlich, das er in Davos wiedergefunden. Aber er hatte ja vorher nur ein kränkliches Blassgesicht gekannt. Sie wusste dagegen genau, das Kind auf dem Bilde sah der kleinen Babette Kempen ähnlich, zum Verwechseln ähnlich, aber ein volles Jahr früher.

Heisse Tränen tropften oft aus ihren Augen vor dem Bilde nieder, und durch das Bild ward so vieles in ihr wieder aufgewühlt, was am besten in dem Grabe bei ihrem Kinde mitaufgehoben wäre.

Bei ihrem Kind, das erst hatte sterben müssen, damit sie von Lamprecht Overmans als Frau und Mutter geachtet wurde.

Die Namenlose. Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.2

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