Читать книгу Die Namenlose. Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.2 - Anny von Panhuys - Страница 5
34. Kapitel.
ОглавлениеKarola Overmans ging langsam durch ihr hübsches Damenzimmer, zupfte hier ein Kissen zurecht, schob dort ein Bild gerader.
Und sie wusste eigentlich gar nicht, was sie tat, denn ihre Gedanken waren nicht bei dem Herumhantieren, das nur der Ausfluss grosser Nervosität war.
Ihr Mann trat ein und blieb, weil sie sein Eintreten gar nicht bemerkt zu haben schien, zunächst nahe der Tür stehen, beobachtete die zierliche Frau, die er noch immer liebte, wie an jenem Tage, da er sie zum Altar geführt.
Plötzlich klang ein wehes Schluchzen an sein Ohr und da stürzte der Mann sofort vor, zog die geliebte Frau sanft in seine Arme.
„Ich musste nach dir sehen, Karolachen, ich hatte heute vormittag keine Ruhe im Bureau, du warst so blass, als ich diesen Morgen fortging. Ich sagte zum Vater, du hättest dich beim Frühstück nicht wohl befunden und da meinte er, ich solle nur schleunigst machen, dass ich nach Hause käme. Vater ist ja immer gleich so besorgt um dich.“
Ihre dunkelblauen Augen füllten sich mit Tränen.
„Er ist immer sehr besorgt um mich seit unserer grossen Lüge!“ stöhnte sie.
Er liess die Rechte zärtlich über ihr hellblondes Haar gleiten und flüsterte beruhigend: „Brauchst dir doch keine Gewissensbisse machen, mein Liebes, du trägst ja keine Schuld an dem, was wir hinnehmen und als unser tiefstes, heiligstes Geheimnis wahren mussten. Es blieb uns doch nichts anderes übrig, wenn wir nicht unsere Existenz zerbrechen lassen wollten. Und unser Kind hätten wir dadurch doch nicht wiederbekommen, es wäre nicht mehr zum Leben erwacht, wenn wir die Wahrheit noch so laut vor aller Welt bekannt hätten. Und bedenke, wenn Vater die Wahrheit gehört hätte, würde die weite Gotteserde nicht gross genug gewesen sein, vor seinem Zorn zu fliehen.“
Sie schmiegte sich eng an ihn, wie haltsuchend.
„Ich bin ja auch im allgemeinen ruhig, Günter, du weisst es. Ich habe mich unter dem Druck des Müssens viel schneller in alles gefügt, als ich es für möglich gehalten, aber heute nacht hatte ich wieder die seltsame Erscheinung, nach langer Zeit wieder zum ersten Male. Ich wollte dir gar nicht davon sprechen, doch es ist so schwer, schweigend damit fertig zu werden. Du bist auch der einzige Mensch, zu dem ich davon reden darf, der einzige Mensch, dem gegenüber ich mein Herz erleichtern kann.“
Er blickte sie mit inniger Liebe an, schlang seine Arme fester um sie, als fürchtete er, man könne sie ihm entreissen.
Wie jugendlich und schlank die geliebte Frau noch war, wie zart und fein noch das Antlitz.
Nur um die Lippen lag ein leiser weher Zug.
Er führte die Lebensgefährtin zu einem bequemen Sessel, drückte sie behutsam, wie etwas Zerbrechliches hinein, und zog für sich selbst dann einen Stuhl herbei.
Ueber das blasse Gesicht der Frau rannen grosse Tränen.
„Günter, lieber Günter, es ist alles so eigen, wenn ich die Erscheinung sehe. Unirdisch und zugleich lebendig, so, als wäre das, was ich sehe, wahr. Einen Traum kann man vergessen. Oft weiss man schon nach dem Erwachen nichts mehr davon. Und wenn man einen Traum im Gedächtnis behält, so geht ihm doch bald die Frische verloren. Es gleiten Schatten darüber hin, machen ihn stumpf. Nein, die Erscheinung gehört nicht zu den Träumen und sie ist auch keine Ausgeburt meiner Phantasie. Sie hat Bedeutung, muss Bedeutung haben.“
Günter Overmans zog die Hände seiner Frau sanft zwischen die seinen.
„Lange hast du nicht mehr von der Erscheinung gesprochen und ich hoffte zuversichtlich, du wärest endgültig von diesem Besuch freigeworden, der dich immer tagelang traurig stimmt und die Wunde wieder aufreisst, die sonst längst vernarbt scheint.“
Sie wollte ein Lächeln um ihre Lippen zwingen, aber es reichte nur zu einem unendlich müden Verziehen des Mundes.
„Ganz vernarben wird die Wunde nie, Günter, aber dass sie immer wieder zu bluten anfängt, dafür sorgt die Erscheinung.“
In Karolas Augen leuchtete es auf, als bräche ein helles Licht aus Herzenstiefen.
Die Tränen versiegten jäh.
Und leise raunte die Frauenstimme: „Es war um Mitternacht, als ich erwachte von einem wunderbaren, blendenden Schein. Aber ich erschrak gar nicht, weil ich sofort wusste, ehe ich die Augen noch völlig geöffnet hatte, nach langer Zeit würde ich wieder die Erscheinung sehen, wie zum ersten Male vor zwölf Jahren, am Wegekreuz bei St. Blasien im Schwarzwald und zum zweiten Male im Münster zu Freiburg, wie dann später in längeren Zeitabständen hier in unserem Hause. Es war bisher immer dieselbe Erscheinung, wenn ich auch meine, sie sei die letzten Male grösser gewesen, aber es fiel mir gar nicht besonders auf, eigentlich war sie immer unserem toten Kinde ähnlich, so wie ich es im Gedächtnis trage. Vier Jahre ungefähr ist’s her, seit sie sich mir nicht mehr zeigte, und seitdem hat sie sich sehr verändert. In dieser Nacht, Günter, stand kein Kind mehr in dem hellen Schein, der um das seltsame Wesen wie zugehörend herum ist, sondern ein Mädchen, gross und schlank wie unser Trautchen, so gross wie unser eigenes Fleisch und Blut jetzt sein müsste, wenn wir es hätten behalten dürfen, wenn es am Leben geblieben wäre.“
Ihr Blick war geradeaus gerichtet, als sähe er, was der Mund schilderte.
„Viel zarter und schmaler war die Erscheinung wie das Trautchen, das für unser Kind gilt, genau so wie die Erscheinung, meine ich, müsste das Kind unseres Herzens jetzt aussehen, wenn es bei uns geblieben wäre. Und sie spielte wieder auf einer Geige. Aber auch die Geige sah anders aus als die von früher. Sie war grösser und wenn mein Ohr auch keinen Ton vernahm, so war es mir doch, als ob ich ein ganz wunderbares Spiel mit dem Herzen hören konnte. Wilde Sehnsucht ergriff mich nach unserem Liebling, eine so gewaltige Sehnsucht, wie ich sie selbst damals nicht empfunden, als das Schreckliche geschah, damals vor zwölf Jahren. Ganz plötzlich war dann alles verschwunden, der Glanz und die Helle erloschen, ich lag im Dunkeln. Aber ich blieb noch lange wach und die Erinnerung sass bei mir am Lager und ihr: Weisst du noch? tat weh, jammervoll weh.“
Sie hob ein wenig den Kopf, wandte ihm voll das Gesicht zu.
„Ich begreife nur nicht, weshalb ich die Tote so ganz anders sah diesmal? Ich meine, sie hätte auch in ihrer Verklärtheit das Mädchen von einst bleiben müssen, das vierjährige Kind. Ich finde aber, so viel ich darüber schon nachsann, keine Erklärung dafür.“ Ihre Stimme schwankte. „Nur das eine ist mir längst klar und wird mir immer klarer, das arme Geschöpf findet keine Ruhe im Grabe, weil es im fremden Lande liegen muss, es möchte gerne in der Heimat ruhen.“
Günter Overmans dachte, nun war die geliebte Frau seit langem im allgemeinen so ergeben gewesen, sie liebte das Kind, das seit zwölf Jahren den Platz des eigenen einnahm, weshalb musste diese Ruhe wieder gestört werden durch einen Traum.
Denn nur um einen Traum handelte es sich, um einen Traum, der seine arme Frau geschreckt, der jäh ihr altes Mutterleid wieder aufgejagt hatte.
Er widersprach ihr.
„Weshalb soll Klein-Trautchen keine Ruhe in ihrem Grabe finden? Es ist doch nur der entseelte Körper, der in dem Grabe fern in England liegt! Die Seele, die unsterbliche Seele unseres Kindes ist hinaufgeflogen wie ein freier starkbeschwingter Vogel, in die Heimat, die sich hoch und fern über alle Länder hinzieht.“
Karola wollte eben etwas erwidern, doch in diesem Augenblick klopfte es so energisch an, dass sie nervös zusammenfuhr.
In der nächsten Sekunde, ehe noch ein „Herein“ laut geworden, sprang die Tür auf und eine reizende Sechzehnjährige stürzte ins Zimmer, als müsse sie eine Festung erstürmen.
Es war Trautchen Overmans, die einmal Babette Kempen geheissen und ein dralles bäuerisches Schwarzwaldmaidli gewesen.
Aber von der romantischen Geschichte, deren eine kleine Hauptheldin sie gewesen vor zwölf Jahren, davon ahnte das junge Mädchen nichts.
Es wusste nicht anders, als dass die beiden, bei denen sie lebte, ihre richtigen Eltern waren. Keine Erinnerung war in dem hübschen Dinge haften geblieben.
Günter Overmans schalt: „Du sollst doch nicht so wild und rücksichtslos eintreten, Mädel! Immer wieder muss man dir dasselbe sagen.“
Der rote Mund in dem weichen, aber dennoch energischen Gesichtchen lachte, und das Köpfchen, um das sich dunkles Strudelhaar bauschte, als hätte es ein geschickter Friseur zurechtgelegt, wiegte sich bedauernd hin und her.
„Ich bin leider unverbesserlich, Vati, das müsstest du doch eigentlich längst wissen. Und von heute ab wird das noch schlimmer mit mir. Denn von heute ab wird mein Selbstgefühl mit rasender Geschwindigkeit wachsen. Grosspapa hat mir doch versprochen, wenn ich heute ein gutes Zeugnis aus der Handelsschule heimbringe, ernennt er mich zum dritten Chef all seiner Unternehmen. Er selbst ist der erste, du, Vati, bist der zweite und ich werde der dritte sein. Und darauf kann ich mir doch etwas einbilden, nicht wahr? Sechzehn Jahre und schon den Cheftitel!“
Günter Overmans musste lachen und Traute versicherte vergnügt: „Jawohl, jetzt werde ich bald eine Respektsperson, mein Zeugnis ist erstklassig, alle in der Schule beneiden mich darum.“
Sie unterbrach sich und starrte die zierliche Frau, die sich tief in den Sessel hineindrückte, erschrocken an.
„Hast ja geweint, Mutti! Weshalb denn? Wer hat dir denn etwas getan?“ Sie kniete vor der Frau nieder, die sie für ihre Mutter hielt und wie eine Mutter verehrte und liebte. „Bitte sage es mir doch, warum du hast weinen müssen?“
Günter Overmans half seiner Frau.
„Mutter hat vorhin mit mir von ihrer Jugend gesprochen. Du weisst, ihre Eltern starben früh und die Tante, die sie erzog, hatte wenig Verständnis für sie. Die Erinnerung stimmte sie traurig.“
Das junge Mädchen bezweifelte die Erklärung natürlich nicht.
„Armes Mutti,“ kam es zärtlich über die jungen Lippen, „es muss schrecklich wehe tun, wenn einem die lieben Eltern so früh sterben. Ich bin ja auch froh, dass ich euch habe, denn Vater und Mutter sind doch das allerbeste auf der Welt.“
Die beiden wechselten einen schnellen Blick.
Sie verstanden sich und dachten wohl beide genau dasselbe, gelobten sich wohl gleichzeitig: Das Mädelchen sollte niemals erfahren, dass auch seine Eltern schon frühzeitig starben.
Traute lächelte: „Ja, Vater und Mutter sind das beste auf der Welt und ein Grosspapa ist auch etwas Wundervolles. Aber ich habe sicher den liebsten und liebenswertesten Grosspapa erwischt bei der Grosspapaverteilung.“ Sie nahm die Rechte der Frau im Sessel, drückte ihr rosiges Gesicht darauf. „Weine nicht, Mutti, denke an nichts Trauriges. Freue dich, dass wir uns alle so lieb haben und beisammen sein dürfen.“ Sie sprang auf. „Ich kann es gar nicht abwarten, bis Grosspapa heute mittag nach Hause kommt, um ihm mein gutes Zeugnis zu zeigen.“
Günter Overmans neckte: „Dürfen wir vielleicht ergebenst bitten, es auch sehen zu dürfen?“
Traute holte ein sauber zusammengefaltetes Papier aus der Tasche, die sie aus praktischen Gründen entgegen der Mode in fast allen Kleidern anbringen liess, und hielt es ihm entgegen.
Er warf einen langen Blick darauf, dann schmunzelte er: „Alle Wetter, du hast ja lauter gute Noten! Ja, sage mal, Mädel, von wem hast du nur das Kaufmannsblut?“
Traute machte ein sehr ernstes Gesicht.
„Nun vom Grosspapa, das ist doch klar.“ Gönnerhaft setzte sie hinzu: „Ganz unbegabt bist du ja schliesslich auch nicht.“
Er verneigte sich ein wenig im Sitzen.
„Meinen besten Dank für die gute Meinung, ich bin tiefgerührt!“
Und während er dabei lächelte, war ihm doch bitterernst zumute, als er sann, wie eigen es doch war, dass dieses Mädelchen aus fremdem Bauernstamm tatsächlich das Kaufmannsblut seines Vaters in den Adern zu haben schien.
Traute rannte ungeduldig durch das Zimmer.
„Biel zu lange dauert es noch, bis Grosspapa heimkommt, ich halte es nicht mehr aus, ich muss ihm wenigstens telephonieren.“
Sie stürmte genau so wild und plötzlich aus dem Zimmer, wie sie es betreten.
Günter Overmans blickte ihr nach, sagte, nachdem die Tür etwas zu laut ins Schloss geflogen: „Sei nicht mehr traurig, mein Lieb, freue dich über das ein wenig derbe, wohltuend gesunde Geschöpf, das dir meines Vaters Liebe und Achtung verschaffte und uns bisher nur Freude bereitete.“
Sie nickte ihm stumm zu und dachte dabei doch an ein kleines Grab fern von der Heimat.