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Lasst mir meine Zeit!

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Um einen zentralen Wunsch von Kindern zu beleuchten, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Vergleicht man einmal ein achtjähriges Kind von heute mit einem vor sechzig oder siebzig Jahren geborenen Achtjährigen, so fallen große Unterschiede auf. Die heutigen Kinder scheinen im Vergleich zu den Generationen davor körperlich stabiler, wirken größer, »erwachsener«, was sich nicht selten im Sprachgebrauch niederschlägt: Man spricht von »großen Kindern«, setzt die Eigenschaft »groß« gleich mit »vernünftig« und kommuniziert manchmal auch so mit ihnen.

Manche Kinder werden wie kleine Erwachsene behandelt und manch Erwachsener wundert sich dann, wenn die Kleinen irgendwann ganz anders – eben entwicklungsgemäß – reagieren. Die Kinder von heute wissen auch mehr, sie wissen und erfahren durch die allgegenwärtige mediale Berieselung Dinge, die sie emotional oft überfordern. Nicht selten zerreißt es sie regelrecht, wenn sie mit Unglücken, Katastrophen und Kriegen konfrontiert werden. Mögen diese noch so weit entfernt sein, gefühlsmäßig gehen sie ihnen nahe. TEMPO und Beschleunigung scheinen ein Gebot der Stunde, Verschnaufpausen sind immer weniger gestattet. Wenn das Kind in den Kindergarten kommt, wird nach einiger Zeit das Augenmerk auf die Schule gelegt. Und besucht es dann die Grundschule, fällt der Blick auf den Übergang zur weiterführenden Schule. Schnell! Schneller! Am schnellsten!

Doch bevor man jetzt in sentimentale Weinerlichkeit ausbricht und in den Trauergesang vom armen Kind einstimmt, vom Kind, das in ökonomische Verwertungszusammenhänge gepresst wird und darin aufgehen soll, da sei ganz schnell Einhalt geboten. Kinder sind eben auch geborene Anarchisten und wunderbare Widerständler.

Weil ich ein Kind bin

Kinder schaffen sich Räume, die nur ihnen gehören und die eng getakteten Zeitplänen ihr persönliches Zeitempfinden entgegensetzen.

 Wenn alle Erwachsenen in der Familie am Morgen vor der Arbeit durchdrehen, dann wird ein Kind vielleicht umso ruhiger, als wollte es ausdrücken: Wenn hier alle verrückt werden, bitte schön! Ich spiele jetzt in Ruhe noch mit meinen Socken und schau mal, ob ich meinen Fuß reinkriege!

 Wenn Mama und Papa mir ein tolles Buch über die Natur geschenkt haben, dann gehe ich lieber in den Garten, buddle im Boden oder sitze im Gras und schaue den Ameisen zu.

 Wenn Papa und Mama meinen, ich könne schon allein durchschlafen, weil ich vier und damit groß bin, dann zeige ich ihnen, wie es wirklich ist. Ich liege nachts allein im Bett. Papa und Mama liegen zu zweit im Bett und vergnügen sich. Die merken nicht mal, wenn das böse Krokodil kommt und mich frisst. Da nehme ich doch lieber meinen Kuschelhasen und mein Kopfkissen und lade mich bei ihnen ein.

 Wenn meine Eltern denken, ich bin jetzt acht und könne schon ganz allein im Haus bleiben, dann sage ich Nein! Ich bin zwar schon groß. Aber so groß auch schon wieder nicht. Und wer soll mir dann das Essen kochen oder mich in die Schule fahren? Keiner! Ich will, dass die bei mir bleiben!

Und je mehr eine gesamtgesellschaftliche und individuell erzeugte Beschleunigung sich breitmacht, umso mehr praktizieren Kinder das Moment der Entschleunigung. Ein Kind redet nicht, es handelt, es zeigt den Erwachsenen: Macht langsam! Ich bin acht und noch nicht zwölf! Zudem kommt ein weiterer Gesichtspunkt ins Spiel: Entwicklungsphasen wie Trotz und Pubertät treten früher ein. Schon ein einjähriges Kind kann seine Autonomieanfälle haben und ein Schulkind mit neun Jahren pubertätsbedingte Aufwallungen zeigen.

So große Gefühle!

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