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1.1 Wenn sich die Sicht auf mein Leben verengt – dem Problem der Einseitigkeit begegnen

Sind Sie sich bewusst, wie viele unausgesprochene Worte und Sätze sich heute seit dem Aufstehen bis zu diesem Zeitpunkt des Tages in Ihren Gedanken gebildet haben? Meist sind es nur Halbsätze, kleine Fragen, Blitzlichter oder neue Ideen, die uns neben dem, was wir eigentlich sagen oder tun, durch den Kopf schwirren. Während ich hier schreibe, nehme ich um mich her­um verschiedene Geräusche wahr. Nebenan übt mein Mann mit unserer Tochter Englisch, draußen in Nachbars Garten planschen ein paar Mädchen im Swimmingpool. Unser Sohn lief eben mit seinem Freund, der heute Morgen seinen Onkel durch eine schwere Erkrankung verloren hat, am Zaun vorbei. Neben mir liegt ein Block mit Notizen zu einem neuen Buchprojekt.

Die Fülle von Wahrnehmungen und Informationen, die uns den ganzen Tag über erreicht, will erst einmal verarbeitet und bewältigt werden. Vieles filtern wir unreflektiert aus und legen es beiseite. Andere Dinge rutschen tiefer und bleiben hängen. Der erwähnte Tod des Onkels zum Beispiel, der geht mir sehr nahe, auch wenn ich ihn nur flüchtig kannte. Dort, wo Informationen auf Emotionen treffen, werden sie bewusster, lösen neue Emotionen aus und setzen sich fest.

Susanne hat aus der Fülle aller Lebensinformationen hauptsächlich die herausgefiltert, die ihre negative Sicht von ihrem eigenen Leben bestätigen. Erfährt sie von Menschen, die etwas besser können und bewältigen als sie, notiert sie sich das als Minuspunkt für sich. Geht im Alltag etwas schief, bestätigt das wieder einmal mehr die kritische Selbsteinschätzung. Aus Angst, einen Fehler zu machen oder sich dumm zu verhalten, vermeidet sie bestimmte Handlungen. Sie geht zum Beispiel nur selten aus, bewegt sich fast nur in vertrauten Kreisen und auch da hat sie nur mit ganz bestimmten Menschen Kontakt.

Vor einigen Monaten lud eine Freundin sie zu einer Familien­feier ein. Nach einigem Zögern sagte sie zu und lernte einen netten Mann kennen. Allerdings verhielt sie sich im Gespräch so verkrampft, dass ihr Gegenüber das als Ablehnung deutete, und so wurde aus einem oberflächlichen Small Talk nichts Intensiveres.

Lauschen wir für einen Moment Susannes innerem Selbstgespräch:

„Das ist eigentlich ganz nett und locker hier, angenehmer als ich dachte. Allerdings sind die meisten Leute doch viel besser angezogen als ich, hätte doch besser das grüne Kleid aus dem Schrank genommen und nicht das blaue. Und das Essen, das ist ja wirklich lecker. Muss aber aufpassen, dass ich nicht zu viel nehme, sonst halten mich die anderen für maßlos und außerdem bin ich eh viel zu dick. Ist ja toll, dass ich schon mit einigen Leuten ins Gespräch gekommen bin, die waren auch ganz nett. Aber wahrscheinlich habe ich mich so blöd benommen und auch falsch geantwortet. Warum habe ich nur so wenig Allgemeinwissen … Ja, und dieser Markus, der war wirklich offen und freundlich. Ist ein Arbeitskollege von Isabell. Er schien sich wirklich für mich zu interessieren, fragte nach und wollte auch etwas über meine Arbeit wissen. Als ich dann aber erzählte, dass ich kein Studium, sondern nur eine Berufsausbildung habe, da wirkte er auf einmal so anders. Wahrscheinlich sucht er nur gebildete Frauen. Ich war dann doch lieber ganz still und habe nur noch einsilbig geantwortet, aus Angst davor, er könne mich für dumm halten.“

Durch solche und viele andere Selbstgespräche beschneidet sich Susanne nach und nach ihr Leben. Sie hat Markus nicht wirklich gefragt, wie er über Frauen mit Berufsausbildung und ohne Studium denkt, sie hat nur Vermutungen angestellt. In ihrer Wahrnehmung stehen die anderen immer besser da und denken schlecht über sie. Da ist zum Beispiel ihre Nachbarin, die ein wirklich tolles Auto fährt, so einen kleinen, roten Käfer. Den hätte Susanne auch gerne. Wer so erfolgreich ist wie Frau Schneider, der hatte sicher immer nur Glück im Leben. Weil Susanne es sich versagt, die Nachbarin besser kennenzulernen, weiß sie auch nichts von deren kranker Mutter. Diese lebt schon seit Jahren in einem Pflegeheim und Frau Schneider leidet sehr darunter, dass sie ihr so wenig beistehen kann, weil sie beruflich und familiär so stark eingebunden ist.

Susanne nimmt nur die Fassade, das Äußere wahr und erlebt damit eine typisch menschliche Situation. Sie verknüpft eine Information mit Werten, Einsichten und Gefühlen und zieht ihre eigenen Schlüsse daraus. Hinzu kommt ihr Selbstbild, das so organisiert ist, dass sie andere überhöht und sich selbst abwertet. Bisher ist es auch nur wenigen Menschen gelungen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Zu tief sitzen solche Sätze wie: „Das schaffst du sowieso nicht! Habe ich dir doch gleich gesagt, dass das nichts wird. Du bist viel zu dumm dafür. Bei deiner Veranlagung kannst du ja gar nicht anders …“ Auf Dauer hat das fatale Folgen und kann sie gewaltig ins Schleudern bringen.

Das Problem der einseitigen Wahrnehmung

Die Einseitigkeit ist eine Stolperfalle, mit der viele Menschen zu kämpfen haben. Unsere einseitige Einordnung von Worten, Taten und Situationen lässt nur einen bestimmten Blickwinkel auf andere Menschen zu. Würden wir uns gestatten nachzufragen, die Perspektive zu wechseln, in die Schuhe des anderen zu schlüpfen und wirklich hinzuhören, dann könnte sich unsere Einschätzung auf einmal sehr verändern.

Das Problem der Einseitigkeit entsteht dabei durch die Art und Weise, wie wir Situationen bewerten und beurteilen. Und es hat viel mit den Gefühlen zu tun, die wir in der jeweiligen Situation empfinden. So kann es passieren, dass das gemeinsam erlebte Ereignis in einer Gruppe von Menschen völlig unterschiedlich bewertet wird. Wir sitzen zum Beispiel in einem Theater und schauen uns ein Schauspiel an. Es wird Theaterbesucher geben, die begeistert sind von dem, was sie sehen, weil es genau ihren Geschmack trifft. Andere stören sich an der schlechten Luft im Raum. Wieder anderen ist die Aussprache zu schlecht und sie bekommen nicht alles mit. Ein weiterer Teil der Zuschauer fühlt sich vielleicht einfach nur gelangweilt, weil das Stück nicht dem entspricht, was sie sich erhofft hatten. Lesen wir dann später eine Theaterkritik in der Zeitung, gibt sie auch jeweils nur eine Meinung wieder.

Leider ist es in unserer Gesellschaft so, dass die Meinungen einzelner sehr oft zu den Wahrheiten aller werden. Wir neigen einfach dazu, vorgefertigte Aussagen zu übernehmen und sie zu verinnerlichen. Es kann sein, dass uns das von Kindesbeinen so anerzogen wurde. Wer selbst denkt, hat es nicht immer leicht. Kinder, die zu viele Fragen stellen, werden oft als altklug bezeichnet und Leute, die ihren eigenen Weg gehen, macht man schnell zu Außenseitern.

Auch im Rahmen einer christlichen Gemeinde kann das sehr schnell passieren. Vielen ist nicht bewusst, wie vielfältig und bunt „Gottes Schäfchenherde“ eigentlich ist. Sie kennen von Kindheit an vielleicht nur eine Gemeindeform mit einer ganz speziellen Frömmigkeit, Sichtweise auf das Leben und Art der Bibelauslegung. Begegnen sie dann Menschen, die anders glauben, andere Lieder singen, eine andere Bibelübersetzung verwenden, Gebete anders formulieren, dann kann das nicht richtig sein. Richtig ist es so, wie sie es von ihren Eltern und den für sie wichtigen Menschen gelernt haben. So wird ganz schnell ein Urteil gefällt, noch lange bevor man sich mit anderen auf ein wirkliches Gespräch und einen Gedankenaustausch eingelassen hat.

Christen beurteilen andere Christen dann manchmal auch nach ihrer Gemeindezugehörigkeit: „Ach, der gehört zur XY-Kirche? Alles klar.“ oder „Das sind die von der Gemeinde YZ, ach, die Frommen wieder …“ Schublade auf, anderer Christ rein, Kasten zu und fertig. Selten wird sich die Mühe gemacht, das Wertvolle und Wichtige an der anderen christlichen Glaubensgemeinschaft zu suchen und vielleicht auch zu finden. Natürlich liegt es nahe, bei dem zu bleiben, was mir gewohnt und vertraut erscheint. Dem anderen geht es aber ganz genauso, ihm ist seine Tradition auch wertvoll und wichtig. Wie viele persönliche Verletzungen sind entstanden, weil Christen genau in die oben genannte Stolperfalle tappen: Einseitigkeit. Sie sehen nur die eine, ihre persönliche Seite.

Genauso kann es uns in unserer Fixierung auf die negativen Eigenschaften in unserem Leben gehen, wie wir bei Susanne oben schon nachvollziehen konnten. Dabei stecken wir nicht andere in die Negativschublade, sondern uns selbst.

Der Einseitigkeit entgegenwirken

Eine gute Orientierung im Gedankendschungel kann ich finden, wenn ich mir gelegentlich die Zeit nehme, bestimmte Worte und Sätze aufzuschreiben. Besonders solche, die mich niedermachen, deprimieren, traurig stimmen, ärgerlich sein lassen. Es lohnt sich, der eigenen Trauer und dem Ärger ins Gesicht zu schauen und genauer hinzuhören. Was sagt meine Traurigkeit? Was spricht aus meinem Ärger? Die Szenerie der inneren Worte und Sätze zu Papier zu bringen, schafft Klarheit im Kopf.

Neulich bat ich eine Klientin, einmal einige vertraute Freunde und Menschen zu bitten, zwei einfache Fragen zu beantworten:

 Welche Eigenschaften finden Sie gut an Beate?

 Was kann sie besonders gut und was schätzen Sie an ihr?

Beate bekam überraschende Antworten. Alle von ihr befragten Freunde und Familienangehörige nahmen sich Zeit für einen ausführlichen Brief, das überraschte Beate als Erstes sehr. Was in den Briefen stand, übertraf alle ihre Erwartungen und überraschte auch mich. Sie wurde als warmherzige, positive, lustige, gastfreundliche Frau mit vielen weiteren positiven Eigenschaften beschrieben. Alle beteuerten, dass sie gerne mit ihr zusammen seien, sie bewunderten und sehr schätzten. Im krassen Gegensatz dazu – und deshalb war auch ich überrascht – stand die Selbsteinschätzung von Beate. Sie traute sich nur noch wenig zu, weil einige wenige Menschen ihr ein negatives Feedback gegeben hatten. Das überlagerte alles andere.

Lassen Sie nicht zu, dass eine einseitige Sicht vom Leben und von sich selbst Ihr Leben ins Wanken bringt. Nutzen Sie die Gelegenheit, andere Meinungen und Stimmen zu einer bestimmten Sichtweise zu hören. Lassen Sie sich überraschen und bilden Sie sich erst danach eine Meinung.

Hilfreich kann es auch sein, Bibelverse und Psalmen zu meditieren und Gottes Wort direkt in unser Leben hineinsprechen zu lassen. Lesen Sie in Ruhe die folgenden Auszüge aus Psalm 139, Satz für Satz. Nach jedem Vers nehmen Sie sich einen Moment Zeit und wiederholen in Gedanken den gelesenen Text. Ruhiges Ein- und Ausatmen führt uns noch tiefer in die Stille hinein:

„Herr, du durchschaust mich, du kennst mich durch und durch. Ob ich sitze oder stehe – du weißt es, aus der Ferne erkennst du, was ich denke. Ob ich gehe oder liege – du siehst mich, mein ganzes Leben ist dir vertraut. Schon bevor ich rede, weißt du, was ich sagen will. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine schützende Hand über mir. Dass du mich so genau kennst – unbegreiflich ist das, zu hoch, ein unergründliches Geheimnis! Wie könnte ich mich dir entziehen; wohin könnte ich fliehen, ohne dass du mich siehst? Stiege ich in den Himmel hinauf – du bist da! Wollte ich mich im Totenreich verbergen – auch dort bist du! Eilte ich dorthin, wo die Sonne aufgeht, oder versteckte ich mich im äußersten Westen, wo sie untergeht, dann würdest du auch dort mich führen und nicht mehr loslassen. Wünschte ich mir: ‚Völlige Dunkelheit soll mich umhüllen, das Licht um mich her soll zur Nacht werden!‘ – für dich ist auch das Dunkel nicht finster; die Nacht scheint so hell wie der Tag und die Finsternis so strahlend wie das Licht. Du hast mich geschaffen – meinen Körper und meine Seele, im Leib meiner Mutter hast du mich gebildet. Herr, ich danke dir dafür, dass du mich so wunderbar und einzigartig gemacht hast! Großartig ist alles, was du geschaffen hast – das erkenne ich! Schon als ich im Verborgenen Gestalt annahm, unsichtbar noch, kunstvoll gebildet im Leib meiner Mutter, da war ich dir dennoch nicht verborgen. Als ich gerade erst entstand, hast du mich schon gesehen. Alle Tage meines Lebens hast du in dein Buch geschrieben – noch bevor einer von ihnen begann! Deine Gedanken sind zu schwer für mich, o Gott, es sind so unfassbar viele! Sie sind zahlreicher als der Sand am Meer; wollte ich sie alle zählen, so käme ich doch nie an ein Ende! (…) Durchforsche mich, o Gott, und sieh mir ins Herz, prüfe meine Gedanken und Gefühle! Sieh, ob ich in Gefahr bin, dir untreu zu werden, dann hol mich zurück auf den Weg, der zum ewigen Leben führt!“ (Psalm 139,1–24)

Frau sein in jeder Beziehung

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