Читать книгу Glücklicher als gedacht - Antoine Laurain - Страница 10

Оглавление

Seit meiner Niederlage hegte ich einen leichten Groll gegen Sylvie. Für sie ging einfach alles weiter. La Musarde war ihr Leben, die Politiker kamen, der Laden lief, alle Anstrengung galt dem Ziel, den dritten Stern zu behalten. Gleich am Tag nach den Wahlen, als für mich mein allmorgendlicher Winterschlaf begann, war Sylvie ins Restaurant zurückgekehrt, als wäre alles beim Alten. Ich habe eine der besten Köchinnen Frankreichs geheiratet, ich, dem selbst pochierte Eier zwei von drei Mal missglücken. Für meine Frau ist das Kochen eine Berufung, ein heiliges Amt. Wenn man die Kochkunst auf dieses Niveau hebt, hat sie etwas Mystisches. Ich erinnere mich an ein Gespräch zwischen Ducasse, Robuchon und Sylvie in Paris. Ich saß mit am Tisch, war aber völlig ausgeschlossen, ich verstand nichts von dem, was sie redeten und zeichneten. Ich fühlte mich wie auf einem Kongress russischer Chemiker mitten im Kalten Krieg. Schließlich verdrückte ich mich und ging aus Rache in den nächsten McDonald’s.

Bei uns ist der Kühlschrank ständig voller Experimente, die auf dem heimischen La-Cornue-Herd durchgeführt werden. Es gibt Gläser mit seltsamen Flüssigkeiten und der Aufschrift »Nicht öffnen«, darunter die detaillierte Zutatenliste. Merkwürdige Experimente von Austern mit Thymian oder Kalbsbries mit Honig. Gerichte, die ich sehr lecker finde, werden als »schlecht, iss das nicht« abgetan und verschwinden aus meinem Blickfeld in Richtung Mülleimer, während ich mit der Gabel in der Luft dastehe. Den Gipfel dieses Hangs zur Perfektion hat sicher Vatel erreicht, der sich am 24. April 1671 in sein Schwert stürzte, weil die Austern nicht rechtzeitig geliefert worden waren. Ein Gericht zu verpatzen ist für einen Koch wie die Abwahl für einen Politiker. Manche entscheiden sich für radikale Lösungen, um dieser Hölle zu entkommen. Jeder hat seinen Märtyrer, die Köche Loiseau, wir Bérégovoy. Angesichts ihrer Selbstmorde gefriert einem das Blut in den Adern, sie sind der letzte Ausdruck einer Ablehnung des Scheiterns, künden von einer so hohen Meinung von sich selbst, dass kein Ausrutscher erlaubt ist. Der kleinste Zwischenfall wird als Katastrophe erlebt. Dann stürzt man sich in den finstersten Abgrund, aus dem man mit den Füßen zuerst, aber mit unbefleckter Ehre herauskommt.

Ab und zu spazierte ich durch die Küchen von La Musarde, verschränkte die Hände auf dem Rücken, grüßte Sylvies Angestellte und ließ den Blick über Kochtöpfe mit undef‌inierbarem Inhalt schweifen. Schon als Kind hatte ich gelernt, als privilegierter Besucher an heiligen Orten der Kunst geduldet zu werden. Damals waren es nicht die Feuer der Küchenherde, sondern das Scheinwerferlicht. Meine Mutter war Schauspielerin, eigentlich ist sie es immer noch. Ich kenne den roten Samt der Theater an den Grands Boulevards, aber auch die Metallvorhänge, die die Feuerwehrleute vor jeder Vorstellung prüfen. Vor allem der Schnürboden mit seinen tausend Kabeln und Seilrollen hatte es mir angetan. Wenn die Bühne, auf der so viele Leute spielten oder herumliefen, menschenleer und ich ganz allein da oben war, wurde mir schwindlig, aber das dauerte nie sehr lange, weil mich meine Mutter suchte oder besser gesagt vom Inspizienten oder einer Hilfsgarderobiere suchen ließ, die mich in ihre Garderobe zurückbrachten.

Marie Dava hatte mehr als zwanzig Jahre lang Erfolg. Nicht mit Pinter oder Corneille, nein, ihr Register war der Boulevard, der so französisch daherkam und in Wirklichkeit aus dem Englischen übersetzt war. Appartement pour quatre, Viens dormir à l’Assemblée, L’Arnaqueuse, Lily est partie, Le vison voyageur. Ich verstand nicht richtig, warum meine Mutter im Zuschauerraum für so viel Gelächter sorgte, wo sie doch zu Hause verbittert und launisch war. Wie alle Schauspielerinnen berauschte sie sich am Beifall. Eine einzige Geste, ein bloßes Schulterzucken sorgten im Saal für größte Heiterkeit. Ich bin wahrscheinlich allem begegnet, was diese oft in ganz kurzer Zeit inszenierten Stücke an berühmten Schauspielern zu bieten hatten, aber auch zwielichtigen Agenten, Debütantinnen mit nackten Schenkeln und jungen Sternchen, die man weder alt noch als Stars wiedersah.

Der Trumpf meiner Mutter war, dass sie Komödien spielte und obendrein sehr schön war. Diese seltene Kombination machte ihren Erfolg aus. Wenn meine Eltern an den Wochenenden oder mittwochs nicht wussten, was sie mit mir anfangen sollten, nahm meine Mutter mich mit ins Theater, ohne nach meiner Meinung zu fragen. Den langen Stunden, in denen ich ihr, ihren Partnern und Regisseuren beim Proben zuhörte, folgten lange Monate, wo sie auf Tournee ging und weder mein Vater noch ich sie sahen. Manchmal schickte sie Ansichtskarten.

Mein Vater hatte Marie Dava bei Freunden kennengelernt, sie lud ihn sofort zu ihrem neuen Stück ein, das L’Arracheur de dents (Der Zähneausreißer) hieß. Mein Vater hatte wenig Sinn für Humor, ging dennoch hin und verbrachte, wie er später erzählte, den besten Abend seines Lebens. Dass die beiden geheiratet haben, ist kurios. Ich glaube, meine Mutter brauchte an einem Punkt ihres Lebens Stabilität, weil der Rest aus Scheinwerfern, Pailletten und komischen Repliken bestand. Kulissen und Spiel sollten in hartem und schwerem Beton verankert sein: einem Ehemann mit seriösem Beruf, einer schönen Wohnung im 7. Arrondissement, einem Kind mit guten Schulnoten. Niemals hätte sie mit einem anderen Schauspieler oder einem Regisseur zusammenleben können, sie brauchte den absoluten Gegensatz, der ihr Halt gab und es ihr dadurch erlaubte, der Phantasie freien Lauf zu lassen.

Meine ersten Erinnerungen an Derk sind mit Generalproben und Schneiderinnen verbunden. Er war sehr beeindruckt, als mein Vater ihm offenbarte, dass Marie Dava seine Frau sei. In der Tat kam man nicht ohne weiteres darauf, dass mein Vater, immer in Schlips und Kragen, mit graumeliertem Bart und Stahlbrille, sein Leben mit der exzentrischen Boulevard-Schauspielerin teilte. Derk schwärmte für den Boulevard, alles gefiel ihm, von L’Hôtel du libre échange bis zum dümmsten Quatsch. Sein Zahnarzt öffnete ihm die Türen zu den Stars und ihren Aufführungen, manchmal sogar zu den Proben. Als Mann von Welt vergaß er nie, meiner Mutter prächtige Blumensträuße liefern zu lassen. Ich sehe ihn noch, wie er zwischen ihren Kostümen und Schminkutensilien in der Garderobe saß. Damals wusste ich nicht genau, wer dieser Mann war. Ich erinnere mich, wie er sich vor mich kniete und mich durch seine Hornbrille ansah.

»Ich habe dich schon gesehen, als du ganz klein warst, aber das weißt du sicher nicht mehr.«

Ich antwortete nicht, sondern starrte auf seinen Schädel, so kahl wie ein menschenleerer Planet.

»Antworte gefälligst, François«, sagte meine Mutter, die sich vor dem Spiegel abschminkte.

»Nein, das weiß ich nicht mehr«, antwortete ich schüchtern.

Derk nickte wortlos.

Das Stück hieß Mademoiselle est fiancée. Ein aus dem Englischen übersetztes Boulevardstück um Verwechslungen, knallende Türen und Rendezvous, die einmal mehr in einer verrückten Farce mündeten.

Wenn mich mein Vater unterbringen musste, setzte er mich bei seinem Regimentskameraden René, dem Fleischer, ab. Nach so vielen Jahren muss ich gestehen, dass ich den Nachmittag lieber bei ihm und seiner Frau Denise verbrachte, Rechnungen in die schwere Registrierkasse eintippte und später unter Renés aufmerksamem Blick einen Braten vorbereitete, manchmal sogar verschnürte, als in andächtiger Stille meine Mutter zum x-ten Mal wiederholen zu hören: »Und Sie, Caroline, Sie haben keine Ahnung, wo sich mein Gatte aufhält? Man möchte meinen, der Mann sei im Bordell!«

Außerdem brachte mir René das Louchébem bei, den Jargon der Fleischer in den Pariser Markthallen, eine Art poetische Geheimsprache, deren Wörter alle mit »em« endeten, und die mir großen Spaß machte.

Mit den Jahren wurden meiner Mutter seltener Rollen als verführerische, ein bisschen verrückte Frau angeboten, weshalb sie immer öfter synchronisierte. Nun konnte ich mir berühmte amerikanische Fernsehserien ansehen und ihre Stimme aus dem Mund einer Westküstenheldin hören. Das war ein merkwürdiges Gefühl. Gelegentlich war sie auch noch im Theater zu sehen, wo sie die Mutter der Person spielte, die sie fünfzehn Jahre früher in demselben Stück dargestellt hatte. Das drückte ihre Stimmung. Sie flog nach Brasilien, wo ihr Agent ihr ein Engagement für eine Telenovela besorgt hatte. Sie lernte Portugiesisch, das die Heldin mit einem leichten französischen Akzent sprechen sollte. Völlig unerwartet hatte die Serie, die in Frankreich nie gesendet worden ist, in der ganzen südlichen Hemisphäre einen Riesenerfolg. Als die erste Staffel abgedreht war, wurde ihr Vertrag sofort verlängert. Ihre Rolle wurde immer bedeutender, und man schlug ihr vor, sich ganz in Brasilien niederzulassen. Im selben Monat starb mein Vater am Durchbruch eines Aneurysmas. Ohne ihn hatte meine Mutter keinen Grund, nicht in Lateinamerika zu bleiben. Derk hatte mich gerade als Sekretär eingestellt, sie bat ihn, auf mich aufzupassen und reiste ab.

Sie ist immer noch dort, die Serie wurde erst vor sechs oder sieben Jahren eingestellt. In Brasilien ist sie berühmt, sie tritt beim Teleshopping auf und gibt ihren Namen für Bücher über sanfte Medizin her. Außerdem hat sie wieder einen Zahnchirurgen geheiratet. Diesmal einen Brasilianer. Unser Kontakt beschränkt sich auf ein oder zwei Postkarten im Jahr, wir haben uns nichts mehr zu sagen. Zu Derks Begräbnis war sie zum letzten Mal in Frankreich. Sie warf eine vertrocknete Rose auf sein Grab, aus einem Strauß, den er ihr bei einer Premiere geschenkt und von dem sie sich nie getrennt hatte. Dazu sagte sie einen merkwürdigen Satz: »Lebt wohl, Geheimnisse.«

Sylvie und ich sind Erben. Sie hat das Wissen ihres Vaters, des Schöpfers des legendären La Musarde, ich das von Derk geerbt. Wir haben nichts Neues geschaffen, sondern das Werk anderer fortgesetzt. Sie haben in gewisser Weise durch uns überlebt.

Glücklicher als gedacht

Подняться наверх