Читать книгу Glücklicher als gedacht - Antoine Laurain - Страница 12

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Schließlich hatte ich nachgegeben. Ich würde zum Arzt gehen, aber nicht zu Doktor Houdard. Ich entschied mich für den erstbesten, den ich im Internet fand. Am Tag des Termins stand ich früher auf als in letzter Zeit üblich. Unterwegs frühstückte ich auf der Terrasse des Rendez-vous de Jean Bart in der Sonne. Ein hartes Ei und einen Milchkaffee. Im Licht dieses Morgens geschah etwas Unerwartetes: Ich hätte traurig sein müssen, aber ich war glücklich, es kam mir vor, als hätte ich dieses Gefühl nicht mehr verspürt seit … seit wann? Es war unmöglich, den Moment festzulegen, auf jeden Fall lag er ziemlich weit zurück. Wie ein Geschmack, ein Duft, den man vergessen hat und der einen plötzlich in andere Jahre versetzt. Entfaltete die Entdeckung des Klassenfotos bereits ihre Wirkung in der Chemie meines Unterbewusstseins? Mir ging die verschwommene Gestalt des jungen Mannes, der ich gewesen war, durch den Sinn, ohne dass ich seine Züge deutlich erkennen konnte, wie ein Name, der einem auf der Zunge liegt. Ich fand den beruhigenden Gedanken wieder, dass das Leben ziemlich einfach ist, wenn es voller Begegnungen und Zufälle vor einem liegt. Dass es lang ist, wie die Tage der Kindheit. Erst später zieht sich die Zeit zusammen. In meinem Alter sind die Tage schon kürzer; je weiter es geht, desto schneller werden sie vergehen. Als Kind dauerte ein Tag ein Jahrhundert. Zwischen dem Frühstück vor der Schule und dem Abendessen mit den Eltern floss ein Ozean von Zeit. Die Stunden zählten doppelt, ja dreifach.

Der Geschmack des hart gekochten Eis mischte sich mit dem des Milchkaffees und führte mich irgendwie zurück in die Zeit vager Erinnerungen, voll sonnendurchfluteter Nachmittage. In Wirklichkeit war der Himmel vielleicht grau gewesen. Das Barometer des Gedächtnisses ist anders, gute Erinnerungen richten die Nadel immer auf »warm und trocken«. Der Begriff »große Ferien« kam mir in den Sinn, dabei gab es keine Verbindung zwischen hartem Ei und Milchkaffee und den großen Ferien meiner Kindheit. Ich dachte an die Analytiker, die genüsslich die hunderttausend Rädchen des menschlichen Geistes zerlegen. Die verrücktesten Assoziationen enthüllen tiefe Geheimnisse, die in den Schichten der Persönlichkeit vergraben sind. Ja, die großen Ferien dauerten ewig, wenn die schönen Tage anfingen, war das Ende des Sommers so weit weg. Inzwischen habe ich kaum Zeit, ein paar schöne Julitage zu genießen, da beginnt schon der September.

Nur alte Menschen erleben, wie sich die Zeit erneut dehnt. Sie stehen mit den ersten Sonnenstrahlen auf, schlafen nur noch vier, fünf Stunden pro Nacht. Ein Ministerschlaf für leere Tage. Der verfliegenden Zeit ein paar Stunden zu stehlen ist vielleicht die Vollendung jedes Lebens, dachte ich beim Anblick einer Frau, die mit ihrem Stock vorbeiging und die ich gegen die Sonne kaum erkennen konnte. Ihr Schatten zog sich auf dem Rathausvorplatz ins Unendliche.

Ich bat den Kellner, mir noch ein Ei zu bringen.

»Dieser Anblick ist doch ein Jammer«, sagte er, als er mir ein paar Minuten später mein Ei servierte.

Ich dachte, er spreche von den Eierschalen, die ich auf der Marmortischplatte verstreut hatte.

»Wo Sie sich solche Mühe gegeben haben! Das ist nun der Dank der Stadt. Und dieser Alphandon liegt in Ihrem Büro auf der faulen Haut. Die Leute sind undankbar, das sage ich Ihnen, Herr Bürgermeister.«

Ich wollte ihm eine beruhigende Antwort geben, einen jener sybillinischen Sätze, von denen die Politiker Hunderte in Reserve haben, aber er ließ mir keine Zeit, sondern fuhr entschieden fort: »Ganz genau, sie sind undankbar und erkennen die Anstrengung der anderen nicht an, das sage ich Ihnen. Ihr Schicksal erinnert mich an meine erste Stelle in der Brasserie du Renard. Ich habe mir solche Mühe gegeben, um die Gäste zufriedenzustellen, und keine sechs Monate später hat mich Guichaud entlassen, ohne Grund, ohne Anlass, einfach so und nicht anders. Genau wie bei Ihnen, Herr Bürgermeister. Perisac ist eine Brasserie du Renard in groß! Das hab ich am Abend der Wahl zu meiner Frau gesagt. Aber wir setzen auf Sie, Sie müssen die Festung wieder einnehmen«, verlangte er mit inzwischen hochrotem Gesicht. »Obwohl ich Sie gern auf meiner Terrasse bediene, dort will ich Sie sehen, für mich sind Sie unser Bürgermeister! Ich möchte wirklich wissen, wer die zweihundert Weicheier sind, die Alphandon gewählt haben!«

Ich tätschelte ihm freundschaftlich den Arm.

»Wie heißen Sie mit Vornamen?«, fragte ich.

»Claude.«

»Danke für Ihre Unterstützung, Claude«, sagte ich und drückte ihm die Hand.

Da kamen meine alten politischen Reflexe zum Vorschein. Nennt man den Wähler beim Vornamen, schafft das Vertrautheit, Vertrautheit ist die Schwester des Vertrauens, und das Vertrauen ist die Mutter aller Stimmzettel.

Er entfernte sich, mit dem Tablett an der Schulter, Wampe voran. Sein kleiner Exkurs über die Wahlen hatte mich aus meinen melancholischen Träumereien gerissen. Das friedliche Gefühl vom Anfang dieser einfachen Mahlzeit hatte sich abgeschwächt. Doch als die Sonne eine Wolkenlücke nutzte, um alle Terrassen zu erhellen, kam es noch stärker zurück. Ich schloss die Augen und trank einen Schluck lauwarmen Kaffee. Das Bild, das mir in den Sinn kam, war das eines Juninachmittags während der Abiturprüfungen. In allen Einzelheiten hatte ich das Café vor Augen, in dem ich nach dem Philosophieexamen saß. Ein kleines Bistro mit rot-weißer Markise. Auch damals hatte ich einen Kaffee und hart gekochte Eier bestellt. Dann wurde die Erinnerung deutlicher, wie ein Foto, das im Entwicklerbad der Dunkelkammer sichtbar wird. Mein Klassenkamerad Clément Jacquier mit den halblangen Haaren, denen er seine Ähnlichkeit mit Bonaparte verdankt, kommt vorbei, seinen apfelgrünen Rucksack über der Schulter, an dessen Seite die ausgestreckte Zunge der Rolling Stones aufgenäht ist.

»Was hast du genommen?«, fragt er.

Und ich höre mich antworten: »›Erklärt die Vergangenheit die Gegenwart?‹ Und du?«

»Den Satz von Descartes, aber am Ende war ich nicht besonders gut. Ich hab irgendwie Kierkegaard und Kant verwechselt.«

Clément Jacquier interessierte sich nur für Film und wollte Regisseur werden. Sein Idol war François Truffaut, dessen Foto er auf sein Schreibheft geklebt hatte. Lange habe ich im Kino den Vermerk »ein Film von« mit seinem Namen gesucht. Doch kein Clément Jacquier hatte sich in der siebten Kunst hervorgetan. Was war aus ihm geworden? Ein Geheimnis liegt über dem Schicksal der Jungen und Mädchen, mit denen wir jahrelang unsere Zeit verbracht haben und die wir nach einer Prüfung verlassen und nie wiedersehen. Es ist, als lebten sie in einer anderen Dimension, einem Zeit-Raum, der uns nicht zugänglich ist.

Glücklicher als gedacht

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