Читать книгу Glücklicher als gedacht - Antoine Laurain - Страница 11
ОглавлениеBald würden sich zu Hause in meinem Arbeitszimmer die Kartons stapeln. Der Raum, den ich seit Jahren weder renoviert noch verändert hatte, würde sich mit Akten aus meiner Bürgermeisterzeit füllen. Obwohl ich meinem Nachfolger fünfzehn Jahre Amtsführung in den Gemeindearchiven hinterlassen hatte, stand eines Morgens die Umzugsfirma mit gut zwanzig Kartons vor der Tür. Ich bat sie, die Kartons zu stapeln, und in wenigen Minuten entstanden zwei eindrucksvolle Säulen, die fast bis zur Decke reichten. Ich stellte mich zwischen die beiden Türme und dachte an den armen Samson, der entmachtet und blind seine Bodybuilder-Arme ausgestreckt und gedrückt hatte, bis die Säulen des Tempels nachgaben und das Bauwerk einstürzte. Ich ahmte ihn nach, spreizte die Arme wie der antike Koloss. Meine Hände berührten die Kartons. Das reichte mir nicht, und ich drückte mit den Handflächen dagegen, den Kopf voller Bilder aus Historienfilmen. Beide Stapel fielen mit einem langen, dumpfen Poltern zusammen: ein Wasserfall von Kartons und ihren Inhalten. Ich kauerte mich zusammen und schützte meinen Kopf. Als ich die Augen öffnete, besah ich mir die Katastrophe; die Kartons waren aufgeplatzt, die Akten über den Boden verstreut. Das ohnehin unordentliche Zimmer war endgültig im Chaos versunken.
Ich setzte erst einen, dann den anderen Fuß auf die Mappen, die mit Cofidec oder CGT-Kontakte, Crédit Mudinis, Culture oder Salon des Chasseurs beschriftet waren. Es fühlte sich an, als liefe ich auf schwankendem, feindlichem Packeis oder als wäre ich ein Kind, das auf dem Bürgersteig nicht auf die Fugen treten will, weil es überzeugt ist, ein Abgrund werde es verschlingen. Der Rahmen des Zidane-Fotos war zerbrochen. Ich trat auf eine blaue Mappe und betrachtete die aufgeklappten Ordner. Bei verschiedensten Anlässen in Perisac aufgenommene Fotos bedeckten den Boden: Rosenfest, Tag der Arbeit, Kränze zum Andenken an die für das Vaterland gefallenen Soldaten, Übergabe von Medaillen an verschiedene Händlerzünfte … Unter den Fotos ein einzelner Umschlag. Ich setzte mich hin, ohne meine Insel von Ordnern zu verlassen, und streckte die Hand danach aus. Was erwartete mich, wenn ich ihn öffnete? Ein Bild von mir beim Händeschütteln mit den Siegern eines Sportwettkampfes des FC Perisac oder bei der Einweihung des Parkplatzes von Baussières? Vielleicht sogar ein altes Wahlkampffoto von Derk?
Die erste Reihe sitzt, die zweite steht. Jungen, Mädchen, alle im selben Alter, blicken in dieselbe Richtung. Siebzehn, höchstens achtzehn Jahre alt. Die École Levert 1977 oder 1978.
Béatrice Bricard.
Wie lange habe ich nicht mehr an diesen Namen gedacht, fragte ich mich beim Anblick des blonden jungen Mädchens mit Pferdeschwanz.
Und ich? Wo war ich? Seltsamerweise sah ich nur die Gesichter der anderen, aber nicht mein eigenes. Da! Zweite Reihe, dritter von links. Stehend, mit Jacquard-Pullover, tadellos gekämmten Haaren, abwesendem Blick. Das sollte ich sein? Dieser schlanke Junge, dessen graue Hose und Mokassins man hinter den Stuhlbeinen der ersten Reihe erriet? Hatte ich wirklich mal so ausgesehen? Ich hatte nur dunkle Erinnerungen, nahm mein Äußeres eher wie durch einen Regenvorhang wahr, der die Umrisse verwischt und die Farben verschwinden lässt. In meinem Gedächtnis ergab das einen ganz anderen François Heurtevent. Eine Mischung zwischen dem Jungen von damals und dem Mann von heute. Jemand, der nie woanders als in meiner Phantasie existiert hatte. Aber das Foto war da, als eindeutiger Beweis. Ich sah so jung aus, wir sahen alle so jung aus! Ich hatte nicht mehr gewusst, wie kindlich wir ausgesehen hatten.
Der Junge mit krausem Haar, der ins Objektiv lächelt und irgendwie ungeschickt dasitzt, mit halb gespreizten Beinen – plötzlich fiel mir sein Name ein: Éric Larmier. Und die kleine Dunkelhaarige mit Locken, die die Augen zusammenkneift, war Audrey Desnois, sie trug eine Brille, die sie wohl vor der Aufnahme abgenommen hatte, daher die Grimasse, die das Objektiv für immer festgehalten hatte. Ich betrachtete das Bild, als hätte ich es nie gesehen. Aber natürlich hatte ich es gesehen, natürlich kannte ich es. Damals hatten wir es sicher alle bekommen und beim Anblick unserer Gesichter herumgealbert. Die Zeit hatte ihr Werk getan, wie Wellen, die den Felsen angreifen, ihn abschleifen und bröckeln lassen, um ihn schließlich Zentimeter um Zentimeter abzutragen. Jahr um Jahr war das alles langsam aus meinem Gedächtnis verschwunden. Ich hatte keine Erinnerung an dieses Foto. Es war soeben zu mir zurückgekehrt, wie ein archäologischer Fund aus einer verschwundenen Zivilisation, von der man fast nichts mehr weiß. Dieses Bild war wie ein Beweisstück, ein Beleg, der meine verwaschenen Erinnerungen erhärtete. Ich hatte die tausenden Unterrichtsstunden nicht geträumt, von denen ich heutzutage keine einzige Minute wiedergeben könnte, ebenso wenig die Orte: Klassenräume, Flure, Schulfoyers, Pausenhöfe, die wie unscharfe Dias auftauchten. Nach all den Jahren waren sie nicht realer als die Erinnerung an einen lange zurückliegenden Traum.
Ich erkannte das Gesicht unserer Philosophielehrerin, und ihr Name fiel mir so schnell ein, als würde ihn mir jemand ins Ohr flüstern: Mademoiselle Marsille. Damals kam sie uns alt vor, dabei dürfte sie höchstens fünfunddreißig gewesen sein. Mademoiselle Marsille ist heute über sechzig, dachte ich, und es war wie eine Offenbarung. Das schien mir unmöglich, und irgendwie war es das auch: Mademoiselle Marsille war für ewig fünfunddreißig, ihre braunen Locken konnten nicht grau geworden sein. Sie hatte immer eine goldene Kette über ihrem Rollkragen um den Hals getragen. Daran erinnerte ich mich, und ich hielt das Foto vor die Augen, um es zu überprüfen. Ein Herz aus Gold, in der Mitte zerschnitten, wie von einem Blitz gespalten. Hatte sie mit dem Mann, der die andere Hälfte besaß, ihr Leben verbracht? Trug sie die Kette noch? Oder lag sie seit langer Zeit in der Tiefe einer Schublade, und sie selbst hatte sie vergessen?
Dominique Pierson, ein großer Junge, viel größer als wir anderen, mit langen Haaren und dem Blick einer wütenden Möwe. Was war aus ihm geworden? Delphine Poisson mit ihrer Goldrandbrille, dem blonden Pony und dem Lächeln eines amerikanischen college girl. Wir hatten uns immer gefragt, ob sie etwas mit Sébastien Beauchy hatte, dem Blonden in der zweiten Reihe mit den lachenden Augen und der ins Hemd geklemmten Sonnenbrille. Dann gab es noch Clément Jacquier mit halblangen Haaren und einer vagen Ähnlichkeit mit Bonaparte, er wollte damals zum Film. Marjorie Levart, Daniel Célac, Cédric Pichon, und der da, dessen Gesicht mir etwas sagte, dessen Name mir aber nicht einfiel. Auch das Mädchen, ich erinnerte mich gut an ihre Gestalt, aber ihr Vorname? Sabine? Valérie? Nathalie?… Irgendwas mit i.
Ich drehte das Foto um. Hinter dem weißen Passepartout standen mit Maschine geschrieben alle Namen und Vornamen. Dazu Jahr und Klasse.
1977–78. Abiturklasse A. Mademoiselle F. Marsille. Philosophielehrerin.
Erste Reihe (sitzend, von links nach rechts): Marjorie Levart, Franck Alèsse, Éric Larmier, Béatrice Bricard, Delphine Poisson, Jérôme Auberpie, Daniel Célac, Marie Farnoux, Jean-Marc Lacaze.
Zweite Reihe (stehend, von links nach rechts): Cédric Pichon, Aude Gerfon, François Heurtevent, Dominique Pierson, Gilles Dervet, Nathalie Dirand, Audrey Desnois, Pascale Genvrier, Clément Jacquier, Stéphane Crestin, Pierre Lecoq, Jérémie Pedrini, Sébastien Beauchy.
Foto: Ets. Tourte et Petitin. 53, rue Paul Vaillant-Couturier. 92300 Levallois-Perret.