Читать книгу Glücklicher als gedacht - Antoine Laurain - Страница 9

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Ich möchte, dass du zu Dr. Houdard gehst.«

»Er ist ein Idiot.«

»Wie? Houdard ist ein Idiot? Er hat dich gerettet, als du deinen Infarkt hattest.«

»Du übertreibst immer, es war bloß eine Herzrhythmusstörung, die von selbst wieder weggegangen ist. Der Kerl langweilt mich, er erzählt mir von Tennis, und Tennis ist mir schnuppe, ich spiele kein Tennis.«

»Selbst schuld, du solltest es ausprobieren, das würde dir sicher guttun.«

»Um mit Doktor Houdard zu spielen?«, antwortete ich grinsend.

»Warum nicht?«

»Ich geh nicht zu ihm, außerdem bin ich gar nicht krank.«

»Du bist nicht krank? Sieh dich doch an! Amélie, findest du, dass dein Vater in einem normalen Zustand ist?«

Amélie war übers Wochenende nach Hause gekommen, sie machte eine abwehrende Geste, um zu zeigen, dass wir sie beim Nachdenken störten und sie sich zu diesem Thema ohnehin nicht äußern wolle.

»Was soll das?«, rief meine Frau. »Du machst es dir zu einfach, beteilige dich gefälligst an unserem Gespräch! Sag schon! Ist dein Vater in einem normalen Zustand?«

Der kleine Familienaperitif drohte, eine schlechte Wendung zu nehmen. Mir gefiel nicht, wie Sylvie Amélie in unser Leben einbezog, darüber hatten wir uns schon oft gestritten. Sie fand, auch wenn Amélie ihr erstes Studienjahr an der Kunsthochschule in Paris absolviere, müsse sie am Familienleben teilnehmen und ihre Meinung dazu äußern. Selbstverständlich sollte diese Meinung mit Sylvies übereinstimmen. Ich fand, dass jedes Alter seine eigenen Sorgen hat und die häusliche Atmosphäre in Perisac weit weg von der Rive Gauche und ihren neuen Freunden war.

»Er ist auf einem schlechten Trip, das ist normal, er hat die Wahl verloren und kann nichts mit seiner Zeit anfangen.«

»Das ist normal«, wiederholte meine Frau und nickte niedergeschlagen. »Bestätige ihn nur darin. Diese Vater-Tochter-Solidarität ist wirklich super.«

Amélie warf ihrer Mutter einen finsteren Blick zu. Sie schien nicht recht zu verstehen, von welcher Solidarität sie redete. Während der Pubertät war unsere Beziehung immer schlechter geworden. Eine kleine, banale Frage von mir, eine genuschelte Antwort von ihr. Eine Art Nebel hatte sich seit ihrem dreizehnten Geburtstag über unser Verhältnis gelegt. Lange Zeit war ich nicht sicher gewesen, ob die Sonne diese klimatische und hormonelle Trübung eines Tages wieder aufhellen würde. Seit ihrem Abitur und dem Umzug nach Paris war unsere Beziehung wieder herzlicher geworden. Aber das gleich als Vater-Tochter-Solidarität zu deuten …

Meine Frau verließ wortlos das Zimmer, um das Abendessen aufzuwärmen. Bestimmt ein neues Experiment von La Musarde.

»Sie nervt! Wie hältst du das bloß aus?«, fragte mich Amélie.

Das war keine Frage, mehr ein laut geäußerter Gedanke.

»Sprich nicht so über deine Mutter«, antwortete ich wenig überzeugend und fügte hinzu, sie sei nicht immer so gewesen, womit ich Amélie eher recht gab.

»Das muss lange her sein«, maulte sie.

Sie hatte nicht unrecht. Es war fast zwanzig Jahre her. Das war zugleich lange und kurz. Trotzdem kam es mir vor, als wäre ich ihr erst gestern auf dem Marktplatz von Perisac begegnet.

»Und für das hübsche blonde Fräulein? Was darf es sein?«

»Zwei Lammkoteletts bitte.«

1989. Der Wahlkampf in Perisac hatte gerade begonnen, Derk stellte sich als Parteiloser mit einem sehr persönlichen Programm zur Wahl, das ihm von Links bis Rechts viel Spielraum ließ. Ein großer Teil der älteren Wähler, die inzwischen tot sind, erkannte in ihm den erfahrenen Mann, der den Krieg erlebt hatte und wusste, wovon er sprach. Und er sprach gut. Derk war kein Jungspund mehr, aber ihm kam Mitterrands Dynamik zugute; der Präsident war zwar auch schon alt, aber das hatte seine triumphale Wiederwahl nicht verhindert.

Mit geistvollen Sprüchen von Sacha Guitry, Zitaten von General de Gaulle und Anleihen bei Mendès France oder Léon Blum fand Derk bei den meisten Leuten Anklang. Der amtierende Sozialist hatte sich durch diverse Skandale ins Abseits manövriert, und der Kandidat des RPR war zu jung. André Dercours wickelte alle um den Finger, die jungen Leute gewann er dank des Zweiten auf seiner Liste, eines charmanten jungen Mannes, der den Mädchen und den alten Damen gefiel. Er hieß François Heurtevent.

Man hatte mich mit dem Wahlkampfteam und Bergen von Flugblättern zum Wochenmarkt geschickt, um Händlern und Kunden die Hände zu schütteln, Hündchen zu streicheln, mit den Kindern zu scherzen, die runden Tomaten, das Aroma der Wurst, die Form der Eier, die Knusprigkeit der Backhähnchen, den Duft der Blumen und die Ausgewogenheit des Weins zu loben. Am Anfang war ich etwas zurückhaltend, dann kam ich auf den Geschmack, ermutigt von Derk, der wusste, welchen Nutzen er aus mir ziehen konnte. Am Stand eines Fleischers lernte ich meine spätere Frau kennen. Der Händler, ein dicker Mann mit blondem Schnurbart, warnte mich: »Für mich gibt es keine anständigen Politiker, nur das Fleisch ist anständig, Kleiner.«

Der Kleine von einem Meter fünfundachtzig versuchte trotzdem, den Mann für sich zu gewinnen.

»Das ist Pierre Cardian, der beste Fleischer auf dem Platz, die Leute lieben ihn«, flüsterte mir ein Wahlkampfberater zu, der sich auskannte und mir diskret ins Ohr sagte, wer wer war und was er wählte.

»Front national«, fügte er hinzu, um mich von dem Stand wegzubringen.

Das machte es noch komplizierter. Ich versuchte, Cardian mit einem heiklen Kompliment für seine blutbefleckte Fleischerschürze zu gewinnen, die ich als wunderbare Arbeitskleidung seines schönen Berufes bezeichnete. Ich klang wie der letzte Idiot, war aber überzeugt, dass er mit einer Bemerkung über meinen grauen Anzug und meinen Schlips antworten würde. Das tat er prompt.

»Ja, Monsieur von der Dercours-Liste, das ist meine Arbeitskleidung, Ihre kommt natürlich direkt aus der Reinigung«, entgegnete er, und die Umstehenden lachten.

»Tauschen wir?«, schlug ich ihm vor. »Sie borgen mir Ihre Schürze, ich borge Ihnen mein Jackett und bediene fünf Minuten lang die Kunden.«

»Oh oh! Die kleine Made wird mir mein ganzes Fleisch verderben, aber gut, da haben Sie das Messer, in Gottes Namen, da gibt es was zum Lachen!«, antwortete er, hielt mir sein Fleischermesser hin und knotete seine Schürze auf.

Ich zog unter den entsetzten Blicken meiner Begleiter das Jackett aus.

Der dicke Fleischer zog es vor, mein Jackett in der Hand zu halten, er meinte, wenn er da reinkäme, würde er nicht so bald wieder rauskommen. Ich zog seine Schürze an und band sie nach allen Regeln der Kunst über der rechten Schulter fest zu. Schon da änderte sich sein Gesichtsausdruck. Ich zog den Schnittschutzhandschuh an, dann nahm ich das Messer in die rechte Hand und begann meine Show.

»Und für das hübsche blonde Fräulein? Was darf es sein?«

»Zwei Lammkoteletts bitte«, sagte die junge Frau, die sich über den Scherz zu amüsieren schien.

Ich nahm das große Stück Lammrücken, schnitt zwei Koteletts vor, hackte die Knochen durch und entfernte das Fett. Verpackt, gewogen, Kassenbon und auf Wiedersehen, Mademoiselle.

Der Fleischer sah mir kopfschüttelnd zu. Immer mehr Leute drängten sich um den Stand. Dann schnitt ich von einer Kalbsoberschale zwei schöne Schnitzel, gewogen, verpackt, Kassenbon und auf Wiedersehen, Madame.

»Ich weiß nicht, wer dir das beigebracht hat, mein Junge, aber du bist kein Grünschnabel«, sagte der Fleischer. »Deinen Dercours wähle ich trotzdem nicht«, rief er in die Menge.

»Das wissen wir doch, Riton, du wählst Jean-Marie!«, rief ein anderer Händler von seinem Fischstand.

»Sicher stimme ich für ihn, auch wenn alle es wissen, das ist schließlich meine Sache!«

Wir tauschten wieder Jackett und Schürze.

»Und jetzt mal im Ernst«, sagte er leise, »das hast du doch nicht in deinen Kaderschmieden gelernt?«

»Nein«, verriet ich ihm in vertraulichem Ton. »Der beste Freund meines Vaters war Fleischer. Als Kind war ich oft bei ihm, und er hat mir viel gezeigt.«

Die Erklärung befriedigte ihn. Zum Beweis schlug er mir so kräftig auf den Rücken, dass er mir fast einen Wirbel verschoben hätte, und schenkte uns zwei Scheiben Kalbsleber.

»Die Vorstellung ist zu Ende!«, rief er als Schlusswort. »Die Zungenfertigen gehen, aber wir haben noch leckere Rinderzunge im Angebot, greifen Sie zu!«

Zwanzig Jahre später war die Vorstellung wirklich zu Ende. Inzwischen war ich mit dem blonden Fräulein verheiratet, das mir zwei Lammkoteletts abgekauft hatte. Sie hatte mich mit einem Lächeln am Nachbarstand erwartet.

»Sie sind witzig, kann man Ihnen im Wahlkampf helfen?«

»Ja natürlich, indem Sie mit mir Mittag essen«, hatte ich frech geantwortet.

Sie war so dreist zuzusagen. Unsere Tour auf dem Markt endete ein paar Stände weiter, und wir gingen zurück ins Büro. Die Wahlkämpfer, die mich begleiteten, waren mit Lebensmitteln beladen. Derks Wahlzentrale befand sich in einer ehemaligen Weingenossenschaft, zu der ein kleiner Pavillon mit Küche in einer Ecke des Gartens gehörte. Dort verspeisten wir den wie immer zu reichlichen Einkauf vom Markt. Meine Unbekannte bereitete die Kalbsleber, die uns der Fleischer geschenkt hatte, mit Himbeeressig und Bratkartoffeln zu. Ein Teller für sie, einer für mich, ein Mittagessen auf einem Wachstuch, das noch aus Pompidous Zeiten stammen mochte.

»Wer sind Sie?«, fragte ich sie.

»Sylvie Desbruyères, die Tochter von Bastien Desbruyères.«

»La Musarde?«

»La Musarde«, bestätigte sie lächelnd.

Mich überkam eine Welle von Nostalgie, fast schon Traurigkeit, als ich mich all dieser Dinge erinnerte. Anfänge sind wunderbar, in der Liebe wie in der Politik, und ich hätte viel gegeben, um diesen Sonntagvormittag noch einmal zu erleben, den dicken Front-National-Fleischer und das Wachstuch der Genossenschaft, die zehn Jahre später auf meine Anweisung hin in einen Kindergarten verwandelt worden war.

Vielleicht hatte Sylvie recht, vielleicht sollte ich zum Arzt gehen. Sie ärgerte sich nicht nur über mein Herumgammeln, sondern auch über die unvorhergesehenen Auswirkungen der Wahlniederlage auf unser Liebesleben.

»Du hast keine Lust mehr auf mich«, sagte sie eines Abends in der Stille der Nacht.

»Nicht doch«, flüsterte ich. »Daran liegt es nicht.«

»Woran dann?«

Diese Frage wurde nur vom Reiben des Lakens, dem leisen Quietschen der Federung und der Stille unseres Zimmers beantwortet. Was sollte ich sagen? Dass ich auf nichts mehr Lust hatte, weder auf sie, noch auf irgendetwas anderes?

Glücklicher als gedacht

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