Читать книгу Glücklicher als gedacht - Antoine Laurain - Страница 14
ОглавлениеIch vertraue auf die Zukunft, ich vertraue auf unseren Kampf und ich vertraue auf euch für alle Kämpfe, die uns bevorstehen! Es ist Zeit für uns …«
Tosender Applaus.
»Es ist Zeit für uns, die Reihen zu schließen und diesen Weg mit Zuversicht zu gehen …«
Seit gut zwanzig Minuten dröhnte die Rede des Generalsekretärs in meinem Kopf. Ich war zu spät gekommen, hatte einige Hände gedrückt und dann in der Messehalle sieben an der Porte de Versailles eine ganze Sitzreihe zum Aufstehen gezwungen, um meinen Platz zu erreichen. Der Sekretär redete sich im Licht der Scheinwerfer in Ekstase:
»… die Hoffnungen und Wünsche all derer aufzunehmen, die uns vertraut haben und uns weiter vertrauen werden!«
Tosender Applaus.
»Noch regieren wir in der Hälfte aller Städte Frankreichs«, sagte er mit gespieltem Entsetzen, als hätte er das soeben entdeckt. »Das ist Fakt«, setzte er in demselben Ton fort, »und das ist nicht wenig! Wir sind da!«, schrie er plötzlich, »und wir werden immer da sein! Daran müssen wir glauben! Gemeinsam, liebe Freunde, gemeinsam gewinnen wir die Kämpfe der Zukunft, eine Etappe nach der anderen. Auch ihr, die ihr euer Rathaus knapp verloren habt, auch ihr müsst nach vorne sehen! Wir sind an eurer Seite, die Partei unterstützt euch, wie sie euch immer unterstützt hat.«
Mäßiger Applaus.
»Ich denke an Catherine Veyrant, die die Wahl um drei Prozent verfehlte, aber einen starken Wahlkampf geführt hat. Ich denke an François Heurtevent, der seine Hochburg mit nur zweihundertzwei Stimmen Abstand verlor!«
Der ganze Saal drehte sich zu mir um. Galten die erzürnten Blicke den zweihundertzwei Stimmen oder mir? Was fiel dem Sekretär ein, so vor allen Leuten auf mich zu weisen? Er, der im ersten Wahlgang mit zweiundfünfzig Prozent wiedergewählt worden war.
»François, du bist einer unserer Besten, komm zu mir auf die Bühne, sag uns, wie du dir die kommenden Kämpfe vorstellst.«
Hatte ich richtig gehört? Ein Mann rief: »Bravo, Heurtevent!« Ja, ich hatte richtig gehört. Ich sollte vor Hunderten Parteimitgliedern aufstehen. Sollte zu ihnen sprechen. Das überstieg meine Kräfte! Meine Beine waren schwer wie Blei, meine Schuhe verwandelten sich in Taucherflossen. Ich versuchte, den Sekretär durch einen ablehnenden Gesichtsausdruck davon abzubringen, vielleicht würde er mich verstehen, obwohl wir uns nicht sehr nahe standen. Nein, er wartete auf mich. Er streckte mir die Arme entgegen.
»François Heurtevent! Komm auf die Bühne, François, du wirst uns allen sagen, was Kampf bedeutet, was ein Politiker ist. Ruft ihn, Freunde!«
Alle riefen im Chor meinen Namen.
»Frischer Wind mit Heurtevent!«, kreischte eine Frau in Anlehnung an ein Buch, in dem keine Zeile von mir war, erst recht nicht der Titel.
Der Abgeordnete Bastieri zwang mich aufzustehen, Évelyne Delmas, gewählte Bürgermeisterin von Norimont, ergriff meinen Arm und schwenkte ihn in der Luft. Die Teilnehmer fingen an zu applaudieren. Der Schmerz drang wie ein Gift in mich ein, sein Name war Panik. Ich wollte nach Hause, mich ins Bett legen und nie wieder aufstehen. Sogar meine Frau und meine Tochter wollte ich nicht mehr sehen und mich erst recht nicht vor ihnen rechtfertigen. Nur der Kater sollte mein Schlafzimmer betreten. Man würde mir mittags und abends mein Essen auf einem Tablett vor die Tür stellen, und ich würde nie mehr aufstehen. Stattdessen ging ich in Richtung Tribüne, Gesichter und Hände streckten sich mir entgegen, wie einem Schlips-und-Kragen-Typen in den Slums. Von der Menge getragen, kam ich bis zu dem Sekretär, den ich so verstört anstarrte, dass er zurückwich. Mit übermenschlicher Anstrengung klammerte ich mich an seine Schulter und flüsterte ihm ins Ohr:
»Ich kann nicht sprechen, ich habe eine Angina.«
Meine Stimme war tonlos, ich hatte alle Symptome der Krankheit, meine verzerrten Züge waren ein Beleg für das Fieber.
»Ach, verdammte Scheiße, hätte ich dich bloß nicht hochgerufen!«, antwortete er und wandte sich dem Mikrophon zu: »Unser Freund ist ohne Stimme, er kann nicht zu uns sprechen. Das ist Wahlkampf! Er hat seine Überzeugungen als ehrlicher Mensch so laut verkündet, dass er die Stimme verloren hat!«
Applaus beendete den Zwischenfall. Ich weiß nicht, wie ich hinter die Bühne gelangte, wo mir ein junges Mädchen ein Glas Wasser reichte. Mein Herzschlag beruhigte sich etwas, und ich schluckte eine Temesta.
»Sie sind ganz bleich, soll ich einen Arzt rufen?«
»Nein, rufen Sie niemanden«, sagte ich schwach. »Es ist nur eine Angstattacke«, versuchte ich sie zu beruhigen, bewirkte aber eher das Gegenteil.
Sie entfernte sich, ließ mich aber nicht aus den Augen. Ich ging zu einem halb offenen Notausgang, der nach draußen und zu den anderen Messehallen führte. Gründe für das Scheitern und Strategien für die Zukunft. Das Flugblatt unserer Versammlung mit dem Parteiemblem lag auf dem Boden.
Henri Veillers, Senator und Bürgermeister, kam auf mich zu. Der hochgewachsene Mann mit dem ziegelroten Teint eines Scotch-Trinkers und weißen pomadisierten Haaren, die bis in den Nacken hingen, holte einen Flachmann mit Whisky aus seinem Glencheck.
»Sie sind doch nicht stimmloser als ich«, sagte er mit der blitzartigen Klarheit der Alkoholiker.
Ich sah ihn wortlos an.
»Ich verstehe Sie«, setzte er fort. »So eine Komödie, das alles! Ich bewundere Sie, Verweigerung ist gut. Ich habe ihnen nichts verweigert: meiner Frau, meinen Kindern, meinen Geliebten … Meinen Wählern schon, denen habe ich viel verweigert.«
Er nahm einen großen Schluck Whisky und streckte mir seinen Flachmann hin, den ich mit einem Kopfschütteln ablehnte. Er war nicht beleidigt.
»Letztendlich sind alle Politiker von irgendwas enttäuscht«, fuhr er fort. »Oder von irgendwem. Von sich selbst, wahrscheinlich. Sie sind alle Enttäuschte, um nicht das Wort Versager in den Mund zu nehmen. Man stürzt sich in die politische Karriere, weil man nichts anderes zustande gebracht hat, weder eine mächtige Finanzgruppe aufgezogen noch eine Zeitung gegründet hat. Was ist ein Politiker neben Hugh Hefner? Ein Nichts, eine Null. Die ganze Welt wird noch vor den Seiten des Playboy phantasieren, wenn wir schon längst vergessen sind. Sehen Sie sie an«, sagte er und zeigte in den Saal, »Insekten, die ihren Ehrgeiz vor sich herschieben, wie ein fetter Käfer seine Kotkugel, die immer dicker wird, bis sie ihn zerquetscht.«
»Pillendreher.«
»Wie bitte?«
»Das Insekt, das Sie meinen, heißt Pillendreher.«
»Von mir aus. Die Myriaden von Eiern, die wir legen, sind unsere Wähler, über die wir verfügen wie über Diener, nach denen wir läuten und die uns manchmal in die dampfende Suppe spucken.«
Wieder ein großer Schluck Whisky.
Veillers’ Verzweiflung war ansteckend. Manchmal sieht man die Welt mit den Augen der anderen, und ihr Blickpunkt erscheint so wahr, dass man erschrickt. Ich schaute zum Saal. Was gab es dort? Einen Männerclan, der über Versammlungen und Strategien schwafelte. Eine Art Super-Kongress der Notare. Eine Welt, die über teure Karren und steile Karrieren, über Tricks und Business redete. Eine Welt, die nichts Erotisches hatte. Keiner von uns war der Traum eines Mädchens. Der beste Beweis: Manchmal sind wir so berühmt wie Schauspieler oder Sänger, trotzdem bittet uns nie jemand um ein Autogramm. Blass, grau, selbstzufrieden, nichts Markantes, kein Gesprächsthema. Kein Charisma in dieser Versammlung, die nach sauberer Wäsche, Ledertaschen und neuen Autos roch.
Unsere Verführungsfähigkeit bemisst sich an unserer Macht. Politiker sind wie spaltbare Elemente, denen man sich nur mit dem Geigerzähler nähert. Bei manchen rauscht er wie eine überhitzte Frittierpfanne, bei anderen gibt er kaum ein leises Knacken von sich. Unsere Strahlungsintensität ist nicht konstant, sie hat Tiefen und erfährt unerwartete Aufladungen. Bei der Menge in Halle sieben knisterte rein gar nichts. Sie war traurig, trübe; die einzige Abwechslung war das Blau oder Rot in den Krawatten. Erschütternd.
Als hätte er mich laut denken gehört, zog Veillers seine eigenen Schlussfolgerungen:
»Eine Welt von Inkompetenten, Losern und Durchgeknallten«, seufzte er. »Ich verabschiede mich. Auf mich warten zwei sehr schöne Nutten in einer netten kleinen Wohnung auf der Rive Gauche. Ich mache nichts mehr, ich bin beschäftigt«, sagte er und wies auf seinen silbernen Flachmann. »Ich sehe zu, das unterhält mich. Das ist alles, was mir bleibt. Es ist wie ein Gemälde. Gelegentlich flirtet die Erotik mit der Kunst. Dann wird es rein optisch.«
Ich sah ihn eleganten, leicht unsicheren Schrittes davongehen. Er wollte Schriftsteller sein. In den sechziger Jahren hatte er einen Band mit Erzählungen veröffentlicht: Die Würfel, wunderbarer Stil. Dann nichts mehr. Der politische Alltag hatte sein literarisches Ende eingeläutet.
Ich setzte mich einfach auf den Boden, und kurz darauf blieben zwei weiße Schnürschuhe vor mir stehen.
»François?«