Читать книгу Glücklicher als gedacht - Antoine Laurain - Страница 15
ОглавлениеIch hob den Kopf und sah einen Mann mit weißen Jeans, schmalem Gesicht und halblangen Haaren, der entfernt an Bonaparte erinnerte.
»Erkennst du mich?«, fragte er und erklärte, ehe ich antworten konnte: »Ich bin Clément Jacquier, wir waren in einer Klasse.«
»Ja, natürlich«, brachte ich hervor.
Ich wollte ihm sagen, dass ich erst vor kurzem an ihn gedacht hatte, aber ich tat es nicht. Ich stand auf und drückte ihm die Hand.
Dabei konnte ich mir nicht verkneifen, ihn anzustarren, wie man ein irgendwie seltsames Bild betrachtet, dessen Sinn man nicht sofort erfasst. Finde die sieben Unterschiede? Nein, das war es nicht, ich sah nur die Auswirkung der Zeit.
Das Gesicht des jungen Gymnasiasten lag über dem des lächelnden Mannes. Sie waren zugleich dieselbe Person und unterschiedliche Individuen, wie bei Filmschauspielern, die man nach längerer Zeit wiedersieht. Verglichen mit dem letzten Film, in dem sie gespielt haben, sind sie verändert, gealtert, haben sich gewandelt.
»Du guckst mich so komisch an, vielleicht kennst du mich doch nicht mehr«, sagte er lächelnd und etwas verlegen.
Ich erinnerte ihn an seinen apfelgrünen Rucksack, die rausgestreckte Zunge der Rolling Stones und das Foto von François Truffaut auf seinem Schreibheft.
»Was für ein Gedächtnis«, sagte er, »den Rucksack hatte ich total vergessen.«
»Das Foto von Truffaut nicht?«
»Nein, Truffaut nicht.«
»Du machst keine Filme«, sagte ich und bedauerte sogleich die Bemerkung, die ihn sicher verletzte. Es ist nicht gut, Männer an ihre Jugendträume zu erinnern.
»Doch«, sagte er mit strahlendem Lächeln, »nur nicht genau das, was man sich vorstellt. Ich bin gerade ganz in der Nähe«, fügte er hinzu und zeigte zu einer benachbarten Halle.
Erotic world, Welterotikmesse stand dort in rosa Buchstaben. In seinem amüsierten Blick mischten sich Ironie und leises Bedauern.
»Ja, genau, du hast es erfasst, ich mache Pornofilme.«
»Du bist Pornoschauspieler?«, fragte ich verblüfft.
»Nein, Regisseur, sogar ziemlich bekannt.«
Nach kurzem Schweigen war sein Lächeln wieder da.
»Ich freue mich, dich zu sehen, ich weiß nicht warum, aber ich freue mich wirklich.«
»Ich auch.«
»Und du hast dir die Politik ausgesucht. Ich habe dich ein paarmal im Fernsehen gesehen.«
Ja, ich hatte mir die Politik ausgesucht, eher hatte sie mich ausgesucht und kürzlich verstoßen, wie eine Mätresse, von der man genug hat. Clément Jacquier erinnerte mich daran, dass ich während der Schulzeit nichts mit Politik am Hut gehabt hatte. Damals interessierte ich mich weder für Politiker noch für ihre Karriere. Was interessierte mich dann? Nicht viel, ehrlich gesagt, um Mode kümmerte ich mich kaum, die Dresscodes der Gleichaltrigen ließen mich kalt. Auch die Musik verfolgte ich nur oberflächlich, egal, ob Pop, Rock oder Disco. Natürlich kannte ich die Hits, die wir im Radio hörten und die manchmal in Fernsehshows gespielt wurden, aber mehr nicht. Wenn ich heute eins dieser Lieder höre, versetzt es mich in die Vergangenheit, ohne bestimmte Erinnerungen wachzurufen, meistens weiß ich weder Titel noch Namen der Interpreten. Auch Film war für mich keine Leidenschaft wie bei Jacquier, der seine Hefte mit Fotos von Schauspielern und Regisseuren beklebte. Plötzlich fiel mir das Bild auf dem Einband seines Kalenders ein: das Schwarz-Weiß-Foto eines Mannes mit hartem Gesicht und rasiertem Schädel. Er trug eine Halskrause und Uniform. Jacquier hatte mir damals bestimmt gesagt, wer das war, aber ich hatte es vergessen, und traf den Mann mit der Halskrause erst Jahre später wieder, als ich im Fernsehen Die große Illusion von Jean Renoir sah: Erich von Stroheim.
Jacquard wusste, was er werden wollte, er sagte es jedem: »Ich werde Filmregisseur.« Er schien alles zu haben, was man dafür braucht. Aber so ist das Leben, manchmal gibt es bei allem Talent, aller Kompetenz und allem guten Willen eine Zugbrücke, die nicht herunterkommt, und so bleibt man vor der Mauer stehen. Erst ruft man, damit einen jemand hört, dann ruft man nicht mehr, man wird müde, verzichtet auf die Mauer und das Schloss, in dem sowieso niemand auf einen wartet, und geht zurück in den Wald.
So war es wohl diesem seltsamen Jungen ergangen, der Ende der siebziger Jahre vor dem Gesicht eines Schauspielers träumte, den nur seine Großeltern gekannt haben konnten. Vielleicht waren die Kultur und die Träume aus einer anderen Zeit eines Tages zu schwer zu tragen gewesen. Er hatte das Gepäck abgeworfen und Tabula rasa gemacht mit allem, was sein geheimer Garten gewesen war und kein öffentlicher Park werden konnte, der dem Zuschauerstrom offenstand. Bestimmt hatte er sich im »traditionellen« Film versucht, viele Seiten mit Drehbüchern vollgeschrieben und vergesslichen Produzenten oder desinteressierten Redakteuren Geschichten angeboten. Ja, sicher hatte er ohne Kompass, bei Nacht und Nebel, abseits der markierten Straßen und Wanderpfade seinen Weg gesucht und allmählich eingesehen, dass die Filme, die er in sich trug, nie woanders laufen würden als in seinem Kopf. Auf diesem Territorium der Irrwege und der verschlungenen Spuren hatte ihn wohl eines Tages ein etwas leichter passierbarer Pfad auf die Lichtung der Filme geführt, die für Minderjährige verboten sind.
Ich hatte mich nie im Wald verloren, hatte nie vor einer Mauer gerufen. Ich hatte zufällig dagestanden, die Zugbrücke hatte sich gesenkt, und ich hatte den großen Derk als ergebener Vasall in das Schloss begleitet. Dann war die Zugbrücke wieder hochgegangen, und ich war nie mehr herausgekommen. In Clément hatte ein Feuer gebrannt. In mir nicht. Ich ging mit den Händen in den Taschen der Zukunft entgegen, während er in Bergen von Büchern über die siebte Kunst, den Kopf voller Zitate und mit dem Gesicht Erich von Stroheims auf seinem Kalender das Abenteuer suchte. Im Gegensatz zu ihm hatte ich meine Zukunft nicht voller Energie und mit tausend Plänen erwartet, nein, ich wartete geduldig, wie die stillen Reisenden im Transit in den Abflughallen, mit denen man niemals spricht, von denen man nichts weiß und deren Gesichter man nach der Landung und dem Gepäckabholen sofort vergisst. Wer von uns hatte es besser getroffen? Ich hatte Mühe, das zu entscheiden.
»Kommst du auf einen Kaffee an meinen Stand?«