Читать книгу Glücklicher als gedacht - Antoine Laurain - Страница 13
ОглавлениеAlter, Kinderkrankheiten, Probleme in jüngster Zeit. Seit einigen Minuten folgte eine Frage der nächsten.
»Müdigkeit vielleicht?«, fragte er mich, als würde er sie zum Verkauf anbieten, diese Müdigkeit: Darf’s noch etwas Müdigkeit sein? Ja, bitte packen Sie mir ein schönes Bund dazu.
»Ich bin etwas abgespannt«, gab ich zu.
»Schlafprobleme?«
»Ich stehe spät auf.«
»Sehr spät?«
»Spät.«
»Lustlosigkeit? Beim Essen, beim Sex, überhaupt?«
»War schon mal besser«, antwortete ich trocken.
»Ängste?«
Eine Handvoll Ängste mit der Müdigkeit in einer Brühe aus Schnauzevoll köcheln lassen, nach einer Stunde ein paar Scheiben Schlaf dazugeben.
»Ja, Ängste, obwohl, ich weiß nicht recht. Nostalgie.«
Das Wort machte ihn neugierig.
»Können Sie das genauer beschreiben?«, fragte er mich.
Meine Geschichte vom Klassenfoto und den harten Eiern auf der Terrasse mit der Erinnerung an Clément Jacquier interessierte ihn sehr.
»Ich erinnere mich auch noch! Zehn Jahre nach dem Abi«, sagte er, versank in seinen Sessel und ließ den Blick ins Leere schweifen. »Wir hatten eine Art Schwur abgelegt.«
Er starrte auf die alte Siebziger-Jahre-Lampe aus gebürstetem Stahl. Das Dekor seines Büros hatte sich seit Pompidou nicht verändert, was irgendwie eine beruhigende Atmosphäre schuf; die Moderne hatte keinen Zugang, und draußen auf der Straße würde ich wahrscheinlich diversen Citroën DS, Peugeot 204 und Frauen in A-Linien-Kleidern begegnen.
»Ein Schwur?«
»Ja. Es war mein letzter Schultag in Lyon. Wir schrieben unsere Namen auf ein Blatt Papier, eine kleine Gruppe, vielleicht zehn der fünfundzwanzig Schüler. Wir vereinbarten, dass wir uns zehn Jahre später vor der Tür des Gymnasiums wieder treffen würden, auf den Tag und die Stunde genau, am 11. Juni 1973, ich habe 1963 Abitur gemacht. Während dieser zehn Jahre haben wir uns nicht gesehen. Rein zufällig, ich hatte diese Abmachung völlig vergessen, fand ich den Kalender wieder, in dem ich das Datum eingetragen hatte. Drei Monate später, am 11. Juni um 19 Uhr, ging ich zum Gymnasium. Ich war überzeugt, dass niemand kommen würde, dass die Jugendwette im Leben untergegangen war. Zehn Minuten später kam Pierre Larnaudy um die Ecke, er hatte sich auch daran erinnert und war auf Verdacht gekommen. Dann Marie Lelièvre, Francis Joincourt … Es ist lange her, dass ich diese Namen ausgesprochen habe. Eine halbe Stunde später waren wir zu sechst. Wir hatten uns erinnert.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Wir haben uns in eine Eckkneipe gesetzt. Wir haben geredet, bis sie zugemacht hat, ich erinnere mich genau, es war sehr heiß, es war ein schöner Abend«, schwärmte er, während er auf die Wand starrte, als würde er darauf Dias dieser Augenblicke aus seiner Jugend sehen.
»Haben Sie sich danach wiedergesehen?«
»Ich hab noch zwei, drei Mal von diesem oder jenem gehört, dann nichts mehr. C’est la vie«, schloss er und sah mich an.
Neben diesen Betrachtungen über das Wiederfinden alter Klassenkameraden diagnostizierte Doktor Francœur bei mir eine leichte depressive Phase mit gelegentlichen Angstzuständen. Die Geschichte mit dem Foto hatte das Eis zwischen uns gebrochen. Er wusste natürlich, wer ich war und versicherte mir, er könne gut verstehen, dass meine Niederlage psychische Turbulenzen ausgelöst habe. Er fand meinen Zustand nicht weiter besorgniserregend. Stilnox zum Einschlafen und das Beruhigungsmittel Temesta, das ich nur bei Bedarf nehmen sollte, würden mir bestimmt helfen, die Krise zu überwinden.
»Ich habe letzten Dienstag mit meinen Kindern im La Musarde Mittag gegessen«, sagte er mir vertraulich. »Ein Genuss, bitte sagen Sie es Ihrer Gattin!«
»Das mache ich bestimmt«, versicherte ich.
Die Arztpraxis war nicht weit vom La Musarde entfernt. Ich nutzte die Gelegenheit, um Sylvie vor der Essenszeit zu besuchen und sie über meinen Geisteszustand zu beruhigen. Ja, ich war depressiv, aber leicht, und es war nichts Schwerwiegendes. Mein Schlafrhythmus würde sich mit Hilfe des Medikaments von dem unserer Katze entfernen. Das Beruhigungsmittel konnte ich unmöglich in der Apotheke von Perisac kaufen, dann hätte die ganze Stadt Bescheid gewusst. Ich würde mit dem Auto nach Beaulieu fahren und es dort holen. Aber die Fahrt hatte auch ein paar Tage Zeit.
Éric, der Oberkellner, öffnete die Tür und drückte mir die Hand.
»Ich freue mich, Sie zu sehen. Essen Sie mit uns?«
»Nein, ich will nur bei Sylvie vorbeischauen.«
»Sie ist in der Küche und probiert etwas aus, ich lasse sie rufen.«
»Nein, wenn sie etwas ausprobiert, stören Sie sie bitte nicht.«
Ich wusste besser als Éric, dass man meine Frau beim Kochen nicht stören durfte.
»Einen kleinen Aperitif vielleicht? Den Kir Royal des Hauses?«
»Einverstanden.«
»Den Tisch zum Garten für Monsieur Heurtevent«, wies er einen Kellner an, der mich dorthin führte.
Ich trank langsam meinen Kir Royal und genoss dabei den Blick auf den Innengarten, die Nachahmung französischer Rabatten mit kugelförmig gestutzten Sträuchern an allen vier Ecken, den Brunnen aus rosa Marmor und das an einer Wand hängende schmiedeeiserne Schild, das Sylvies Vater einem Antiquitätenhändler abgekauft hatte. Darauf stand in schwarzen Eisenlettern »La Musarde«, verziert mit Köpfen von Windhunden und Weinranken aus Blattgold. Das Schild blieb ein Rätsel. Bastien Desbruyères wusste ebenso wenig, wo es herkam, wie der Händler, bei dem er es erstanden hatte. Es lebte sein zweites Leben, indem es dem Restaurant seinen Namen gab und dabei sein Geheimnis bewahrte. Sylvies Vater hatte das Restaurant Anfang der sechziger Jahre mitten in Perisac in einer ehemaligen Poststation aus dem 16. Jahrhundert eröffnet. Es gab die Legende, Robespierre habe dort während der Revolution einen Ring vergessen. Das mythenumwobene Schmuckstück wurde unter einer Glaskugel in einer Nische der dicken Mauern aus hellem Stein aufbewahrt. Nach fünfzehn Jahren hatte sich La Musarde drei Sterne im Guide Michelin erobert. Marie Desbruyères, die früh gestorben war, hatte nur die Zuerkennung des zweiten erlebt. Ich habe oft gedacht, dass der frühe Tod ihrer Mutter einen Anteil am düsteren und eigensinnigen Wesen meiner Frau hat. Ihr Vater, ein großzügiger, aber wortkarger Mann, hatte sie allein aufgezogen und alles der Religion der Kochkunst und der Obsession des Erfolgs unterworfen. Im Jahr nach seinem Tod verlor das Restaurant einen Stern. Mit Hartnäckigkeit und Genie war es Sylvie gelungen, ihn zwei Jahre später wieder ihrem Namen hinzuzufügen, und es kam nicht mehr infrage, ihn zu verlieren. Das Privileg der drei Sterne teilte sie mit nur zwei anderen Frauen, Anne-Sophie Pic und Hélène Darroze. Während ich an sie dachte, kam sie von Kopf bis Fuß weiß gekleidet und mit einem riesigen Metalllöffel in der Hand auf mich zu.
»Man hat mir eben erst gesagt, dass du da bist«, sagte sie lächelnd. »Ich freue mich, dass du vorbeikommst.«
Ich erzählte ihr von meinem Arztbesuch und dass ich mir gleich ein Schlafmittel aus der Apotheke holen würde, ich erwähnte das Beruhigungsmittel, das ich außerhalb kaufen wollte. Sie hörte mir mit der gleichen Aufmerksamkeit zu, die ich von ihr kannte, wenn sie mit Bocuse oder Pic sprach und sich die Namen aller erwähnten Zutaten merkte. Hier waren es Stilnox und Temesta statt Gorria und Vanille.
»Das ist gut. Das ist sehr gut«, sagte sie und legte ihre Hand auf meine.
Wir sahen uns schweigend an.
»Warte, du sollst etwas probieren. Éric! Lassen Sie unseren Versuch auf den Tisch bringen, François macht den Verkoster.«
Éric verschwand und kam sogleich mit zwei Hilfsköchen zurück, von denen einer einen Porzellanteller trug, auf dem eine Portion Dorade in Sauce lag.
»Probier mal!«
Ich nahm einen Bissen, kaute langsam, versuchte, alle Feinheiten zu erfassen. Meine Frau, die beiden Hilfsköche und Éric beobachteten mich besorgt, mit erhobenem Kinn, in Erwartung meines Urteils.
»Es schmeckt sehr gut.«
»Das ist nicht die Frage«, erwiderte meine Frau und verdrehte die Augen. »Was ist das für ein Geschmack?«
»Ein anderer Geschmack, kein Fischgeschmack … Ein Geschmack nach … Wald?«
»Bravo!«, jubelte sie. »Aber was noch?«
»Ich weiß nicht. Das ist schon mal gut, oder?«
»Geht zurück in die Küche«, sagte sie ihren Angestellten.
Sogleich entfernten sich die beiden Hilfsköche und Éric.
»Hast du die Haselnüsse herausgeschmeckt?«, fragte sie und rückte näher an mich heran.
»Ja, vielleicht.«
»Vielleicht gibt es nicht! Ja oder nein?«
»Ja.«
»Du lügst. Das sehe ich, ich kenne dich«, sagte sie gekränkt.
»Ich bin kein Gastrokritiker, Sylvie.«
»Nein, aber du kennst meine Küche, deine Meinung zählt.«
»Danke.«
»François, François«, sagte sie seufzend, »das ist kein Kompliment. Das Entscheidende ist die Haselnuss, diese Haselnussgeschichte ist sehr kompliziert. Wir haben sie zerkleinert und destilliert, um ein ziemlich flüchtiges Aroma daraus zu gewinnen, das aber im Mund zurückkommen soll. Es ist da«, sagte sie und zeigte auf das weiße Fleisch, »es ist nicht in der Soße, es ist im Fisch.«
»Ja, mein Schatz, im Fisch«, sagte ich und wusste nicht weiter.
»Fast hätte ich es vergessen. Vorhin wurde etwas für dich abgegeben.«
Sie stand auf, suchte hinter dem Tresen und brachte mir ein großes Kuvert aus festem Papier.
Es kam von dem Fotografen. Er wusste wohl meine Privatadresse nicht, und ins Rathaus konnte er mir die Post nicht mehr schicken. La Musarde war also der einfachste Weg, mich zu erreichen. Drei Schwarz-Weiß-Fotos, zwei bis zur Taille und ein Porträt.
»Ich sehe traurig aus.«
»Nein, du bist sehr schön«, sagte sie gerührt. »Wer hat die gemacht?«
»Guillaume Lux, ich habe ihn nach der Wahl vor den Plakaten getroffen.«
Sylvie schaute still auf mein Porträt mit wehendem Haar.
»Kann ich es hierbehalten?«, fragte sie leise.
Die Tür des Restaurants ging auf.
»Guten Tag, Herr Bürgermeister«, sagte der Oberkellner.
»Was sucht der denn hier?«, flüsterte ich atemlos, als ich Alphandon mit drei anderen Männern hereinkommen sah.
»Er hat reserviert.«
»Hast du kein Zyankali in deinem Kräuterschrank?«
»Ich bediene lieber einen Gangster, der Feinschmecker ist, als einen Priester ohne Gaumen, hat mein Vater immer gesagt. Ich kann nichts dafür, François. Er reserviert, ich bediene ihn.«
Sylvie schob das Foto in ihre Schürze, grüßte den Bürgermeister und verschwand in Richtung Küche. Alphandon nickte mir kurz zu und setzte sich. Ich ging grußlos hinaus.
Ich würde wohl früher als geplant nach Beaulieu fahren, um mir das Beruhigungsmittel zu holen.