Читать книгу Wie viel wiegt mein Leben? - Antonia C. Wesseling - Страница 14

Vom Mut, sich anzuvertrauen

Оглавление

Meinem Biologielehrer fiel mein niedriges Gewicht damals als Erstem auf. Er nahm mich nach einer Stunde zur Seite und fragte, ob bei mir alles gut sei. »Ja«, erwiderte ich perplex.

Genau wie viele andere Essgestörte habe ich anderen lange vormachen wollen, dass alles in Ordnung sei. Die Angst vor dem, was kommen würde, war viel zu groß. Tief in mir drin wusste ich allerdings, dass ich so nicht weitermachen konnte. Meine Gedanken drehten sich permanent nur noch ums Thema Essen. Ich guckte stundenlang food diaries auf YouTube, durchstöberte Kochseiten im Internet, schrieb Kalorientabellen ab und versuchte, meinen Körper möglichst lange und effektiv in Bewegung zu halten. Allein die Vorstellung, mit anderen Leuten essen gehen zu müssen, bereitete mir Panik, und die Lügen, die ich meinen Freunden und meiner Familie auftischte, nahmen weiter zu.

»Nein, ich mag das nicht.«

»Ich habe zu Hause schon genug gegessen.«

»Ich habe verschlafen, ich frühstücke in der Schule.«

Es ging so weit, dass ich Streitereien provozierte, nur um eine Ausrede zu haben, um nicht am gemeinsamen Familienfrühstück teilnehmen zu müssen: »Ihr könnt mich mal! Ich esse allein in meinem Zimmer.«

Mein Leben kam mir nicht mehr lebenswert vor. Es war anstrengend und kompliziert. Ich fühlte mich wie der einzige Mensch auf diesem Planeten, der meine Sprache sprechen konnte. Im Internet durchsuchte ich Foren und bat um Tipps, um »mich nach dem Essen nicht mehr so schuldig zu fühlen«, aber die einzige Antwort, die ich regelmäßig bekam, war: »Such dir professionelle Hilfe!« Damals fand ich diese Reaktion ziemlich enttäuschend, denn ich wusste, dass eine Therapie bedeuten würde, dass ich jemandem von meinen Problemen erzählen musste.

Ein paar Monate nach der Übernachtungsparty, nach der alles seinen Lauf genommen hatte, wagte ich den ersten Versuch, mir Hilfe zu holen. In einem ruhigen Moment vertraute ich meiner Mutter meine Angst darüber an, in eine Essstörung zu rutschen. Gemeinsam gingen wir zu einer Kinder- und Jugendärztin. Dort wurde beschlossen, dass ich regelmäßig dorthin zurückkommen sollte, damit die Ärztin mein Gewicht überprüfen konnte. Das löste in mir jedoch nur das Verlangen aus, noch weiter abzunehmen. Ich merkte damals, wie viel Angst mir das Wiegen bereitete, und behauptete bald darauf, keinerlei Probleme mehr zu haben. So hielt die Ärztin mein Verhalten nur für eine Phase. Und auch ich selbst wurde wieder mal darin bestätigt, dass ich mich selbst nicht so ernst nehmen sollte.

Doch in den folgenden Monaten wurde meine Mutter immer mehr auf meinen geschwächten Zustand aufmerksam. Im Frühjahr stand sie eines Abends an meinem Bett und griff nach meiner Hand. Ein Dreivierteljahr hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon gegen meine inneren Dämonen gekämpft.

»Wenn du mit mir sprichst, kann ich dir helfen, Toni«, sagte sie.

Als sie mich so ansah, brach es aus mir heraus: »Versprochen?« Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Hoffnung, dass man mir umgehend helfen könnte, wenn ich nur endlich ehrlich war. »Ich schäme mich so, Mama«, sagte ich und versteckte mein Gesicht in meinem Kissen. »Du musst es Papa sagen. Es ist mir so unangenehm. Aber ich muss eine Therapie machen. Ich packe das alleine nicht.«

Noch heute sehe ich uns gemeinsam auf meiner Bettkante sitzen. Mit meinen immer kalten Fingern suchte ich die warme Hand meiner Mutter. Dann erzählte ich ihr alles. Die ganzen Lügen, die ich ihr aufgetischt hatte, das Erbrechen, meine Lehrer, die sich bereits Sorgen machten. Und Mama? Sie weinte leise.

»Wir schaffen das, hörst du?«, sagte sie und drückte meine Hand.

An diesem Abend blieben wir bis spät in die Nacht auf, und am nächsten Tag musste ich nicht in die Schule. Stattdessen suchte ich im Internet die Telefonnummern von Kinder- und Jugendtherapeuten heraus und legte meiner Mutter einen Zettel auf den Küchentisch mit der Bitte, mir möglichst schnell einen Termin zu vereinbaren. Sprechen wollte ich über das Ganze so wenig wie möglich, weil ich mich wie die Schande der Familie fühlte.

Mama sagt:

»Natürlich war das Gespräch für mich aufwühlend. Ich hatte Angst um mein Kind. Doch gleichzeitig war ich überzeugt, dass wir einen Weg finden würden. Vielleicht habe ich im ersten Augenblick auch nicht das ganze Ausmaß der Krankheit verstanden. Der wirkliche Schock kam erst im Laufe der Zeit, als ich sah, wie meine Tochter sich mit der Magersucht veränderte.«

Wie viel wiegt mein Leben?

Подняться наверх