Читать книгу Wie viel wiegt mein Leben? - Antonia C. Wesseling - Страница 19
Symptomatik unterbinden
ОглавлениеEin knappes Jahr nach meinem ersten Klinikaufenthalt – ich ging zu dieser Zeit in die elfte Stufe und hatte in den vergangenen Monaten kaum Fortschritte gemacht – entschied ich mich schließlich zu einem zweiten Klinikaufenthalt. Diesmal traf ich meine Entscheidung freiwillig. Ich hatte quasi die Güte, dem Personal in der Psychiatrie die großzügige Chance zu geben, mir erneut das Leben zu retten. Ja, tatsächlich ging ich so an die ganze Sache heran: »Macht ihr mal!« Ich legte alle Verantwortung in die Hände anderer Menschen. Meiner Eltern. Der Therapeuten. Der Ärzte. Im Nachhinein klingt das unheimlich überheblich, doch ich war einfach so in meiner Sucht gefangen, dass ich sie nicht loslassen konnte. Ich war noch nicht bereit, Eigenverantwortung zu übernehmen.
Am schlimmsten waren dieses Mal die Reaktionen meiner Mitschüler.
»Ich werde noch mal in eine Klinik gehen«, erzählte ich kurz vor meiner Aufnahme einem Mädchen, mit dem ich mich etwas angefreundet hatte. Sie war die Einzige, die ich oberflächlich in meine Problematik eingeweiht hatte.
»Klinik? Warum?«
»Mir geht es immer noch nicht gut.«
Darauf sagte sie das Schlimmste, was sie hätte sagen können: »Aber du siehst doch gar nicht magersüchtig aus.«
Wie ein Dolch bohrte sich der Satz in mein Herz. In den folgenden Wochen, in denen ich auf meine Aufnahme in die Klinik wartete, versuchte ich krampfhaft, weiter abzunehmen, um mit möglichst wenig Gewicht anzukommen. Später unterhielt ich mich mit vielen anderen Patienten, denen es genauso ging. Niemand wollte die »dickste« Magersüchtige sein, denn wir alle glaubten, durch das Abnehmen beweisen zu können, dass wir tatsächlich krank waren. »Schaut, ich hab einen Grund, hier zu sein. Ich bin wirklich krank.« Gleichzeitig konnte ich mein selbstschädigendes Verhalten rechtfertigen, indem ich mir sagte: »Die Klinik macht mich dann schon gesund. Die wissen, was zu tun ist.«
Mein zweiter stationärer Aufenthalt war nicht zu vergleichen mit meiner Zeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dieses Mal befand ich mich in einer Klinik nur für Essstörungen. Die Zimmer hier waren gemütlich eingerichtet. Die Möbel waren aus hellbraunem Holz, und jeder Patient hatte einen eigenen Schreibtisch, ein Regal über dem Bett und eine Pinnwand, an die er Bilder heften durfte. Eine Telefonsperre gab es auf der Jugendstation nur in der ersten Woche, danach durften wir unsere Handys auf den Zimmern benutzen. Weil alle Patienten freiwillig in der Klinik waren, wurde auch niemandem der Rasierer oder das Deo abgenommen.
Dass eine Klinik sich komplett auf Essstörungen spezialisiert, ist sehr selten. Die meisten Kliniken haben mehrere Stationen, auf denen sie die verschiedenen Erkrankungen getrennt voneinander behandeln. Ich denke, der Hintergedanke bei dieser Klinik war, das Behandlungskonzept möglichst intensiv und spezifisch zu gestalten. Damals fand ich diese Idee toll. Wenn mir jemand helfen kann, dachte ich, dann sind das die Therapeuten hier. Das sind immerhin Fachleute.
Heute denke ich jedoch etwas anders darüber. Klar, die Ärzte, Therapeuten und auch die Betreuer konnten durch ihre Expertise perfekt auf das typisch essgestörte Verhalten der Patienten eingehen und wussten über alle ihre Probleme und Tricks genauestens Bescheid. Andererseits drehte sich dadurch auch den ganzen Tag lang alles nur um die Symptomatik der Krankheit. Wir lernten ausführlich einen neuen Umgang mit dem Essen und bekamen unsere Teller zu jeder Mahlzeit fertig portioniert vor die Nase gestellt, sodass wir uns keinerlei Gedanken um die Essensmenge machen mussten. Nach dem Essen gab es dann eine Nachbetreuung, durch die verhindert werden sollte, dass sich jemand erbrach oder übermäßig viel bewegte. Stattdessen tranken wir magenberuhigenden Fencheltee.
Dieser Behandlungsansatz war meiner Meinung nach viel zu kurzfristig gedacht. Später sagte ich mal zu meinem Therapeuten: »Ich wünschte, jemand würde die Magersucht an der Wurzel packen und meine dahinterliegenden Sorgen behandeln. Stattdessen versuchen alle, die Krankheit von oben abzusägen.« So war das auch in dieser Klinik. Klar ist es toll, wenn sich die Patienten acht Wochen lang nicht nach dem Essen übergeben. Aber was ist mit der Zeit danach? Bei so gut wie jedem, mit dem ich heute noch aus dieser Zeit Kontakt habe, begann der Kreislauf mit der Essstörung nach unserem Aufenthalt von vorn, denn die Krankheit wuchs genau wie Unkraut, das man nicht vollständig entfernt hatte, einfach wieder nach.
Während der Zeit in der Klinik hielten viele auch an krankhaften Verhaltensweisen fest, die nicht direkt mit dem Thema Nahrungsaufnahme zu tun hatten. Um mal ein paar absurde Beispiele zu nennen: Nora versuchte jeden Abend, im Stehen einzuschlafen, um ihren Leistungsumsatz zu erhöhen. Milena lüftete den ganzen Tag lang ihr Zimmer, weil sie glaubte, durch die Kälte mehr Kalorien zu verbrennen. Und Elisa machte vor jeder Mahlzeit übermäßig viele Sit-ups.
Beim Essen selbst gab es klare Regeln, aber selbst die führten zu Wettkämpfen unter den Patienten und feuerten damit die Krankheit an. Es durfte zum Beispiel nicht über Kalorien gesprochen werden, man durfte nicht auf die Teller der anderen starren, und pro Mahlzeit hatte man nur dreißig Minuten Zeit, seine Portion aufzuessen. Normalerweise kein Problem für mich, aber in der Klinik stachelte uns dieses Zeitlimit dazu an, so langsam wie möglich zu essen. So war es mit allem hier: Wir führten einen Wettbewerb im Kranksein, über den niemand öffentlich sprach. Und die Betreuer? Die durchschauten diese Spiele nicht.
Dieses ständige Wettkampfdenken war für mich als besonders ehrgeiziger Mensch nur schwer auszuhalten. Immerhin war es bei mir schon immer darum gegangen, möglichst krank zu sein. In einem Umfeld wie hier, in dem ich von lauter anderen Essgestörten umgeben war, schien die Krankheit außerdem so normal, dass ich gar keine Notwendigkeit mehr sah, sie loszulassen.
Weil ich meine Portionen absichtlich nicht aufaß, kam ich in die Essbetreuung, wo die Teller gezielt kontrolliert wurden. An einem Abend trieb ich es so weit, dass ich als Strafe eine Flasche hochkalorische Trinknahrung zu mir nehmen musste. Einerseits genoss ich diese Strafe, weil ich mir damit selbst bewiesen hatte, wie krank ich doch war. Andererseits musste ich unausweichlich daran denken, wie viel von meinem Lieblingsgericht ich statt der Tasse Flüssignahrung hätte essen können. Ich weiß noch genau, welche Gedanken mir durch den Kopf gingen, während ich langsam die Astronautenkost trank. Ich dachte an meinen Stoffwechsel, der hierdurch hoffentlich in Schwung kommen würde, ans Wiegen am nächsten Tag, an die Kalorienzahl des widerlichen Getränkes – aber keinen einzigen Augenblick dachte ich daran, dass diese Flüssigkeit dazu da war, mir zu helfen und mich gesünder zu machen. Und genau das war das Problem.
Schon wieder kam ich nicht an die Gefühle hinter meiner Essstörung heran, sondern beschäftigte mich den ganzen Tag mit dem »Symptom« Magersucht. Auch in den Therapiestunden schaffte ich es nicht, tiefer zu graben. In der Körpertherapie ging es zum Beispiel um unsere Selbstwahrnehmung. In einer Stunde sollten alle Patienten mithilfe von Seilen den Umriss ihres Körpers so auf dem Boden nachformen, wie sie ihn selbst sahen. Damit wollte die Therapeutin uns zeigen, dass unsere Selbstwahrnehmung in Bezug auf unser Äußeres gestört war. Um ehrlich zu sein, war mir aber eh schon die ganze Zeit klar gewesen, dass ich als Untergewichtige nicht dick sein konnte. Dennoch gab es etwas in mir, das die Krankheit »brauchte«. Obwohl ich wusste, dass ich nicht dick war, konnte ich sie nicht loslassen.
In der Klinik merkte ich von Tag zu Tag mehr, dass ich ohne die Magersucht nicht leben konnte, weil ich keine Ahnung hatte, was mein Leben ohne sie überhaupt ausmachen würde. Ich fing heimlich an, Zwischenmahlzeiten ausfallen zu lassen und im Ausgang kurze Strecken zu joggen, und richtete meinen Tag wieder danach aus, möglichst viel abzunehmen. Tagsüber schlief ich wie ein Murmeltier und wachte nur zu den Mahlzeiten auf. Ich ging mehrfach zum Arzt, weil ich mich nicht gut fühlte, doch nie fand er etwas. Außerdem hatte ich ja auch zugenommen. Wenn ich mich unter meinen Mitpatienten umsah, schämte ich mich für mein Gewicht. Sie alle mussten glauben, dass ich mich nur anstellte. Schließlich gab es viel dünnere Patienten, die nicht über körperliche Probleme klagten.
Ich überredete die Ernährungstherapeutin dazu, dass ich die Essbetreuung verlassen durfte. Ich sagte ihr, ich wüsste jetzt, was ich tun müsste. In Wirklichkeit fing alles wieder von vorn an.
Beim Essen wollte niemand neben mir am Tisch sitzen. »Es ist nichts gegen dich«, erklärte eine Mitpatientin. »Aber deine Symptomatik zieht uns alle runter.« Ich tat so, als wüsste ich nicht, wovon sie sprach. Es war ein zweischneidiges Schwert. Die kranke Seite in mir fühlte sich durch diese Aussage bestärkt, mein wahres Ich war verletzt und einsam.
Auch die Therapeuten merkten, dass ich Rückschritte machte.
»Vielleicht ist es an der Zeit für dich zu gehen«, sagte der Chefarzt der Klinik eines Tages zu mir.
»Gehen?«
»Vielleicht bist du noch nicht so weit. Manche Patienten müssen erst noch ein letztes Mal fallen, bevor sie aufstehen können.«
Für einen Moment herrschte in mir komplette Leere. Keine Gedanken oder Gefühle. Dann durchströmte mich Angst.
»Sie können mich doch nicht einfach so rausschmeißen. Ich … ich schaffe das zu Hause nicht.«
Er nickte. »Du darfst jederzeit wiederkommen, wenn du bereit bist, die Krankheit loszulassen. Aber sieh mal, da draußen warten viele Patienten darauf, hier behandelt werden zu dürfen und gesund zu werden.«
Papa sagt:
»Wenn ich an Toni in der Klinik dachte, war ich oft sehr traurig. Als es dann hieß, sie komme nach Hause, wusste ich nicht, ob ich Freude oder Angst empfinden sollte. Ich war hin- und hergerissen. Letztlich war es eine Mischung aus beiden Gefühlen. Ich wollte meine Tochter in den Arm nehmen, wusste aber auch, dass die nächste Eskalation nicht weit entfernt war.«
Wahrscheinlich denkst du jetzt, dass ich an diesem Zeitpunkt doch hätte anfangen müssen, zu kämpfen und alles dafür zu geben, gesund zu werden. Aber da muss ich dich enttäuschen. Vielmehr überkam mich eine gigantische Angst, wieder allein in meinem Leben zu stehen. Ohne Perspektiven.
Ja, ich wollte gesund sein, aber ich wollte nicht gesund werden. Ich wünschte mir den Zustand, doch vor dem Prozess fürchtete ich mich. Denn ich hatte panische Angst, auf halbem Weg zu scheitern. Ich stellte mir die Genesung wie einen langen, dunklen Tunnel vor und hatte Panik, nie im Hellen anzukommen und für immer in der Dunkelheit zu verschwinden.