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In der Psychiatrie

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Meinen ersten stationären Aufenthalt absolvierte ich schließlich mit 15 Jahren. Ich hatte gerade die Schule gewechselt, um meinem alten Leben ein Stück weit zu entkommen, doch auch auf dem Mädchengymnasium, das ich von da an besuchte, beherrschte die Magersucht meinen Alltag. Im Sommer 2014 belauschte ich dann ein Gespräch meiner Mutter mit einer Mitarbeiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie in unserer Stadt. Damals war ich mir sicher, dass sie das niemals durchziehen würde.

Doch schon bald darauf wurde ich eines Sonntagmorgens früher wach als sonst. Das Schöne war, dass sonntags immer alte Kindersendungen im Fernsehen liefen, die ich unglaublich gern schaute. Ich schaltete das Fernsehgerät in meinem Zimmer an, lief emsig hin und her, um in Bewegung zu bleiben, und genoss die Ruhe im ganzen Haus.

Meine Mutter wurde erst zwei Stunden später wach. Als ich mich gerade zu ihr unter die Bettdecke kuscheln wollte, sagte sie: »Ich habe jetzt ein Attentat auf dich vor.« Sofort schlug mein Herz schneller. »Ich möchte dich wiegen.«

Ohne nachzudenken, sprang ich auf, stolperte aus dem Bett und jagte zurück in mein Zimmer. Ich wusste, dass das für mich nicht gut ausgehen würde. Noch während ich den Inhalt einer Wasserflasche hinunterstürzte, spürte ich die Hand meiner Mutter an meinem Arm. In ihrer anderen Hand hielt sie die Waage. Die hatten meine Eltern normalerweise irgendwo versteckt, damit ich nicht heimlich kontrollieren konnte, wie viel ich wog. Langsam zog ich meine Hose aus und stand schließlich in Unterhöschen und Top vor meiner Mutter. Ein Teil von mir fühlte sich unfassbar erniedrigt. Ich durfte mein eigenes Gewicht nicht mal sehen und musste mich rückwärts auf die Waage stellen. Dann ging alles ganz schnell. Meine Mutter rastete aus und schrie nach meinem Vater. Sie stürzte nach unten ins Wohnzimmer. Ich blieb bewegungslos stehen.

»Es gibt kein Zurück mehr«, hörte ich sie in der unteren Etage sagen. »Wir können nicht weiter wegsehen.«

Für mich hieß das in diesem Augenblick, dass ich schon sehr bald durch die Hölle gehen würde. Ich rannte nach unten.

»Das könnt ihr nicht machen! Bitte. Ihr müsst mir noch eine Chance geben«, flehte ich meine Eltern an.

»Wir haben dir zig Chancen gegeben zu beweisen, dass du es auch ohne Klinik schaffst«, sagte mein Vater. »Jetzt müssen wir eingreifen, weil wir dich lieben, Toni!«

»Sieh es als Neuanfang«, versuchte meine Mutter mich zu beruhigen.

In der Station aufgenommen wurde ich schließlich an einem Mittwoch, dem 23. September 2014 – das Datum werde ich nie vergessen. »Warte es nur ab! So schlimm ist es hier gar nicht«, begrüßte Dr. Kiesberg mich freundlich. Doch ich glaubte ihm kein Wort. »Wir müssen dich erst einmal wieder aufpäppeln«, sagte er weiter. Schließlich setzte er mich auf einen strikten Ernährungsplan und bestimmte ein endgültiges Zielgewicht. Erst wenn ich das erreicht hätte, dürfte ich wieder nach Hause gehen.

Ich war der felsenfesten Überzeugung, nicht hierher zu gehören. Im letzten Jahr hatte die Magersucht mich Tag für Tag begleitet und mich in einen Rausch versetzt. Nun fühlte es sich für mich so an, als würde man mir eine gute alte Freundin wegnehmen wollen. Dabei hatte diese mir doch immer treue Dienste geleistet und mir so viel gegeben. So viel Kraft und Stärke. »Es wird nichts ändern, wenn Sie mich wegsperren«, sagte ich Dr. Kiesberg. Und Wegsperren war genau das richtige Wort. Meine Station war die Geschlossene. Man kam nur durch eine Schleuse hinein oder heraus: zwei Türen, von denen sich die zweite erst öffnete, wenn die erste geschlossen war. Die Fenster waren allesamt verriegelt, und Ausgang gab es frühestens nach zwei Wochen, in Absprache mit dem behandelnden Therapeuten und abhängig vom Gewicht.

Mama sagt:

»Dieser Tag war einer der Tiefpunkte meines ganzen bisherigen Lebens. Den Schritt, sein eigenes Kind in die geschlossene Psychiatrie einzuweisen, sollte keine Mutter gehen müssen. Ich fühlte mich einerseits wie eine Verräterin, anderseits wusste ich, dass es hier längst nicht mehr nur darum ging, was ich als Mutter tun wollte, sondern darum, was ich tun musste, um mein Kind zu retten.«

Als meine Mutter mich damals allein ließ, war ich mir sicher, an diesem Ort zu sterben. Nicht an meiner Magersucht, sondern an dem Gefühl der Leere, das mich übermannte. Mein Zimmer war kein Zimmer. Es war ein steriler Raum. Weiße Wände. Linoleum, das fürchterlich quietschte, wenn man mit den Hausschuhen darüberlief, und langweilige Rollbetten, die nach Sperrmüll aussahen. Das bis zur Decke gekachelte Badezimmer war nicht groß, bot aber Platz für eine Dusche, Toilette und Waschecke. Außerdem gab es eine Notklingel direkt neben dem Duschvorhang.

Dass ich Rasierer, Sprühdeo und Kaugummis abgeben musste, verkraftete ich noch einigermaßen. Einen Föhn konnten wir uns bei Bedarf aus dem Betreuerzimmer ausleihen. Am meisten machte mir jedoch das Handyverbot zu schaffen. »Hier drin ist eine Schutzzone«, erklärte mir ein Betreuer. Ein Telefonat mit meinen Eltern war einmal wöchentlich für eine Viertelstunde angesetzt, die ich vorher ausgiebig mit Stichpunkten auf dem Collegeblock durchplante, um bloß keine Information zu vergessen. Meine Mutter sagt heute, dass sie sich vor unseren Telefonaten jedes Mal richtig gefürchtet hat, weil es ihr so wehtat, meine verweinte Stimme zu hören.

Die Eingewöhnung in die Psychiatrie dauerte sicher drei Wochen. Ich musste mich verschiedenen gesundheitlichen Tests unterziehen, Fragen zu meiner Verdauung, meinem Menstruationszyklus und Ähnlichem beantworten und vor allem: meine Mitpatienten kennenlernen. Die Station S18 nahm nur Jugendliche auf, die Erwachsenen und Kinder wurden separat betreut. Die meisten Jugendlichen kamen wegen Depressionen oder selbstverletzendem Verhalten hierher. Die Behandlungsdauer war unterschiedlich und hing von der Diagnose ab. Die Betreuer erzählten uns von Patienten, die in Ausnahmesituationen bis zu einem Jahr auf der Station geblieben waren. Manchen sah man ihr Unglück sofort an, andere versteckten ihre Gefühle unter einer dicken Maske.

Brauchst du schnelle Hilfe?

Bevor meine Mutter das erste Mal Kontakt zur Kinder- und Jugendpsychiatrie aufnahm, war mir nicht einmal bewusst gewesen, dass es so etwas in unserer Stadt überhaupt gab. Deshalb hier der Hinweis: In Deutschland ist jedem Landkreis ein Klinikum zugewiesen, das in Notfällen auch ohne Wartezeit Hilfsbedürftige aufnehmen muss. Das bedeutet, dass an jedem Tag des Jahres zu jeder Uhrzeit die Krisenstation für Menschen wie dich und mich da ist.

Neben den Jugendlichen, die auf der Klinikwarteliste an die Spitze gerückt waren, wurden manchmal also auch Notfallpatienten von der Polizei oder mit dem Rettungswagen auf unsere Station gebracht. Diese blieben meist nur einige Tage oder maximal wenige Wochen. Ich erinnere mich an ein 15-jähriges Mädchen mit Drogenproblemen, das auf seinem Arm ein Nikotinpflaster trug. Olivia war durch einen richterlichen Beschluss dazu gezwungen worden, für mehrere Wochen hierzubleiben. Sie hatte ein herzliches Lachen, trug coole Klamotten und kannte so witzige Sprüche, dass meine ersten zwei Wochen sich plötzlich nicht mehr ganz so einsam anfühlten.

Mit der Zeit fand ich Freunde unter den anderen Patienten. Zwischen den Therapiestunden saßen wir zusammen im Gruppenraum und spielten Gesellschaftsspiele, bastelten Weihnachtskarten oder diskutierten darüber, welchen Film wir nach dem Abendessen schauen sollten. Mein negatives Bild von der Psychiatrie fing an zu bröckeln, und bei einem Wochenendbesuch bei meiner Familie ertappte ich mich dabei, wie ich in einem Streit zu meiner Mutter sagte: »Ich will jetzt wieder zurück nach Hause!« Denn genau das war die Psychiatrie für mich geworden: ein Zuhause. Plötzlich wurde mir etwas klar: Ich war nicht allein. Nicht allein mit meiner Angst. Der Angst vor dem Leben.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie war kein Ort, an den Eltern ihre Kinder abschoben, weil sie sie nicht in den Griff bekamen. Hier wohnten Jugendliche in Not. Ganz normale Menschen wie du und ich.

Ich fühlte mich mit meinen Mitpatienten auf eine wunderbare Art verbunden. Die Welt da draußen wirkte auf einmal so oberflächlich. Beinahe fing ich an, mich dafür zu schämen, dass sich bei mir jahrelang alles um teure Klamotten gedreht und ich mich ständig mit meinen Eltern über mein Taschengeld gestritten hatte. In unserem Zuhause, der »Klapse«, wie wir sie liebevoll nannten, waren die Sorgen echt. Genauso echt wie unser Lachen, das nicht selten durch die ganze Station schallte, wenn sich mal wieder einer von uns einen Scherz erlaubt hatte. Ich erinnere mich heute noch daran, wie Herr von Eich, ein junger Betreuer, mich eines Abends vor Übermut laut kreischend im Schlafanzug unter die Dusche stellte, weil ich ihm einen Streich gespielt und mit dem dreckigen Besen die Haare gebürstet hatte. Und beim Spielen half mir einmal eine junge Praktikantin dabei, mich im Küchenschrank zu verstecken, wo sie mich einschloss und erst wieder herausließ, als ich kichernd um Hilfe flehte.

Diese Erlebnisse waren jedoch nur Momentaufnahmen, ein Teil des großen Ganzen. Gleichzeitig fühle ich noch heute die Enge in meiner Brust, wenn ich mich an die vielen Abende erinnere, an denen ich mich nicht traute, einen einzigen Schluck Tee zu trinken, und mich gestresst in den Schlaf strampelte, nur um am nächsten Morgen beim Wiegen keine böse Überraschung zu erleben. Irgendwann musste ich das Zielgewicht erreichen, das Dr. Kiesberg am Anfang für mich festgelegt hatte. Und obwohl ich nichts dringender wollte, als endlich wieder zu meiner Familie zurückzukehren, versuchte ich alles, um ja kein Gewicht zuzunehmen. Meine innere Stimme kontrollierte mich auf Schritt und Tritt. Sie befahl mir, beim Essen unbemerkt einen Teil meiner Mahlzeit im Müll verschwinden zu lassen, und redete mir ein, dass ich gar nicht krank genug war, um überhaupt hier zu sein. Den ganzen Klinikaufenthalt hindurch versuchte ich nach wie vor, mich zu beweisen. Ich konnte nicht sehen, dass all die Menschen, die versuchten, mir das Leben zu retten, nicht meine Feinde waren. Weder die Betreuer, die jeden Bissen kontrollierten, den ich aß, noch meine Eltern, die sich jedes Mal freuten, wenn ich hundert Gramm mehr auf der Waage hatte. Jeden Tag aufs Neue wollte ich den Essensplan und meine Genesung boykottieren. Warum? Weil ich mir sicher war, dass sich das für eine Essgestörte so gehörte. Keine richtige Magersüchtige würde sich dem widerstandslos hingeben, dachte ich mir immer wieder und versuchte, zu verhandeln und zu diskutieren.

Das einzig Gute an dem Zwang zuzunehmen war, dass ich mir jetzt Dinge erlauben konnte, vor denen ich davor Angst gehabt hatte. Auch wenn ich noch immer jeden Bissen gedanklich abwog, konnte ich mir selbst gut zureden, dass Essen nun eben einfach notwendig war, um wieder nach Hause zu kommen. Während die Wochen vergingen und meine neu gewonnenen Freunde nach und nach aus der Psychiatrie entlassen wurden, wurde ich immer ungeduldiger. Es frustrierte mich, Abschied nehmen zu müssen und gleichzeitig zu wissen, dass mein Tag noch nicht gekommen war. Mittlerweile trank ich mir regelmäßig vor dem Wiegen Gewicht an, aß größere Zwischenmahlzeiten, als mein Plan vorgab, und wünschte mir nichts sehnlicher, als die Weihnachtszeit zu Hause verbringen zu dürfen.

Gleichzeitig wurde mir immer mehr bewusst, wie utopisch meine Vorstellung gewesen war, dass ich die Magersucht hier in der Klinik wie ein einfaches Virus aus meinem Körper vertreiben könnte. Ich war weit davon entfernt, geheilt zu sein. Als ich mich deshalb eines Morgens auf die Waage stellte und die Zahl erblickte, auf die ich so lange hingearbeitet hatte, war ich gleichermaßen mit Vorfreude und Hass erfüllt. Fast fing ich an zu weinen.

Als ich nach drei Monaten endlich den Ort verließ, der mir das Leben gerettet hatte, war das ein seltsames Gefühl. Ich ließ mein stabiles Sicherheitsnetz zurück und war plötzlich zurück in der Realität. Ohne einen Plan. Ohne zu wissen, was ich vom Leben wollte. Mit einem Mal terrorisierten die gleichen Sorgen, die gleichen Ängste wie früher meine Seele.

Im Laufe meiner Behandlung hörte ich später mal den Satz: »Psychotherapie braucht einen nackt.« Um in der Therapie wirklich tiefer graben zu können, muss man dem Patienten seine psychische Krankheit ausziehen wie ein viel zu enges Kleid, um zu sehen, welche Wunden und Ängste sich dahinter verbergen. Dieses Bild finde ich unheimlich hilfreich. Der größte Fehler, den ich zu diesem Zeitpunkt allerdings machte, war: Ich brach die ambulante Therapie ab. Nachdem ich zugenommen hatte, redete mir meine Krankheit nämlich erneut ein, dass ich viel zu gesund für die weitere Behandlung sei und mich so niemand mehr als Essgestörte ernst nehmen würde. Ich fing an, mir »mein enges Kleid wieder anzuziehen« und mich in der Magersucht zu vergraben, ohne die Chance zu nutzen, mir mein splitterfasernacktes Ich genau anzuschauen und so Zugriff auf meine wahren Probleme zu erhalten.

Trotzdem glaube ich, dass mein erster stationärer Aufenthalt ein guter Start für mich war. Indem man für einen längeren Zeitraum aus seiner kranken Symptomatik herausgerissen wird, hat man in gewisser Weise die Chance auf einen Neuanfang. Schlussendlich ist eine Klinik allerdings eine Blase. Man lebt ein paar Wochen oder Monate lang in einer abgeschotteten Welt und kann daraus viele Dinge für sich mitnehmen – im echten Leben umsetzen muss man diese Dinge dann aber selbst. Heute weiß ich: In einer Klinik kann einem zwar das Leben gerettet werden, ob man danach aber wirklich in vollen Zügen lebt, hat man selbst in der Hand. Bei meinem ersten Aufenthalt in der Psychiatrie hatten die Ärzte zwar vorübergehend meinen Körper geheilt, aber mein Kopf war komplett auf der Strecke geblieben.

Meine Schwester Victoria sagt:

»Besonders als das mit Toni losging, hat mir regelmäßig die Wut die Luft abgeschnürt. Wie oft habe ich gedacht: Du machst die ganze Familie kaputt! Ständig gab es Diskussionen, und im Alltag herrschte eine Riesenspannung – und das alles nur, weil meine kleine Schwester sich weigerte zu essen. So dachte ich am Anfang zumindest.«

Wie viel wiegt mein Leben?

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