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Die falsche Freundin Magersucht

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Meine Freunde sagen immer, ich sei in einer Bilderbuchfamilie groß geworden. Und auf gewisse Weise haben sie vielleicht sogar recht: Meine Eltern sind seit mehr als 25 Jahren glücklich verheiratet, und ich wurde sehr liebevoll erzogen. Auch um Finanzielles musste ich mir nie Gedanken machen. Meine Geschichte beginnt also nicht vor dem Hintergrund einer schwierigen Familiensituation, wie ich mir das früher vielleicht vorgestellt hätte, wenn die Rede auf psychische Krankheiten kam. Ganz im Gegenteil: Als die Magersucht sich in mein Leben schlich, besuchte ich gerade die neunte Klasse eines Düsseldorfer Gymnasiums.

Ich ging gern zur Schule, aber machte mir schon damals großen Druck, was andere über mich dachten. In meiner Klasse galten teure Statussymbole als selbstverständlich, und ich hatte oft den Eindruck, da nicht mithalten zu können. Mein Motto damals lautete: bloß nicht negativ auffallen! Für mich bedeutete das, dass ich jeden Nachmittag stundenlange Telefonate mit meiner besten Freundin führte, die sich darum drehten, welches Outfit ich am nächsten Schultag tragen würde. Ich bekam regelmäßig Heulkrämpfe, wollte am Wochenende nichts unternehmen und trieb langsam, aber sicher meine gesamte Familie in den Wahnsinn. Für Außenstehende musste mein Verhalten absolut oberflächlich wirken, schließlich drehte sich alles in meinem Leben nur um mein Aussehen.

Dabei hätte ich von außen betrachtet doch glücklich sein können: Ich war offen und engagiert, hatte viele Freunde und kam in meinem schulischen Umfeld gut zurecht. Aber obwohl ich Klassensprecherin war, zu vielen Geburtstagen eingeladen wurde und mich im Unterricht fleißig beteiligte, versteckte sich hinter meiner extrovertierten Art eine enorme Unsicherheit. Ich zweifelte ständig an mir und hatte Angst, etwas falsch zu machen. Und die einzige Möglichkeit, die es in meinen Augen gab, meine zahlreichen Fehler zu verstecken, lag darin, bloß nicht aufzufallen, sondern immer so zu sein wie alle anderen.

Bis ich 14 Jahre alt war, kam mir das noch nicht so besonders vor. Ich glaubte, eine durchschnittliche Neuntklässlerin mit ganz normalen Problemen zu sein: nervige Eltern, Stress mit den Freundinnen, das erste Herzflattern und natürlich langweilige Lateinvokabeln. Zu diesem Zeitpunkt war ich weder dick noch unzufrieden mit meiner Figur. Mein ganzes Leben lang hatte ich mir ums Essen keine Gedanken gemacht und stets den Worten meiner Mutter vertraut: »Wer so isst, wie er Hunger hat, der wird nicht dick.« Meinen Körper stellte ich zum ersten Mal infrage, als meine Freundinnen und ich uns über eine Schülerin im Jahrgang über uns unterhielten, die ungesund viel abgenommen hatte. Gewicht wurde damit plötzlich zu etwas, das nicht einfach nur da war, sondern das sich verändern konnte. Und diese Veränderung konnte man selbst steuern. Von diesem Zeitpunkt an betrachtete ich plötzlich auch mein eigenes Gewicht kritisch, schob diese Zweifel jedoch zuerst auf die Pubertät und sagte mir, ich sollte einfach weniger über all das nachdenken.

Erst ein paar Monate später legte sich von jetzt auf gleich ein Schalter um. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich im Herbst zu einer Übernachtungsparty eingeladen war und abends mit meinen Freundinnen Unmengen an Flips futterte. Ohne schlechtes Gewissen. Am nächsten Morgen brachte die Mutter der Gastgeberin uns Kakao an den Frühstückstisch, und ich bewunderte die hübsche Emma, die sich traute, stattdessen nach einer Tasse Tee zu fragen. Die hätte ich eigentlich auch viel lieber getrunken. Aber Tee? Ich glaubte, damit irgendwie uncool zu wirken. Anders. Aus dem Rahmen zu fallen. Andererseits empfand ich für die Leute, die den Mut hatten, anders zu sein, auch unfassbar viel Bewunderung …

Bald darauf wurden in meiner Klasse die Themen Abnehmen und Diät immer präsenter. Gar nicht untypisch für unser Alter. Da fielen Kommentare wie: »Schau mal deren Hose an. An ihrer Stelle würde ich so was nicht tragen.« Für Menschen mit einem gesunden Selbstbewusstsein sind solche Bemerkungen sicher leicht wegzustecken. Doch bei mir führten sie dazu, dass ich auf einmal meine Ernährung infrage stellte, obwohl ich mich davor nie zu dick gefühlt hatte.

Als ich mich mit meinen Freundinnen in der Schule immer häufiger stritt, der Junge, in den ich mich verliebt hatte, nichts von mir wissen wollte und ich auch sonst eine konkrete Perspektive in meinem Leben vermisste, fühlte es sich so an, als hätte ich nichts mehr zu verlieren.

»Wir könnten ein Experiment machen«, schlug ich einer Freundin vor. »Lass uns 48 Stunden lang nichts essen.«

Meine Intention dahinter war nicht mal das Abnehmen. Ich suchte vielmehr nach dem Kick, nach etwas, womit ich zeigen konnte, wie stark ich war. Für mich war das eher wie eine Challenge.

»Okay. Aber wir erzählen keinem davon!«, stimmte meine Freundin zu.

Ich nickte. »Natürlich nicht. Die würden uns für verrückt halten.«

Von da an wurde mein Verhalten immer extremer. Ein paar Tage später bekam ich mit, dass meine besten Freundinnen sich am Nachmittag ohne mich verabredet hatten. Das traf mich hart. Ich fühlte mich einsam und wertlos, und es kam mir so vor, als würde mein ganzes Leben an mir vorbeiziehen. Während ich mich im Badezimmer im Spiegel betrachtete, überkam mich auf einmal Panik. Es war, als würde ich so vieles in meinem Leben verlieren. Ich hatte keine Kontrolle mehr. In meinem Kopf spulte ich den vergangenen Tag und die letzten Wochen im Schnelldurchlauf ab. Da waren so viele Momente, in denen ich mich traurig und wertlos gefühlt hatte. Ohne weiter darüber nachzudenken, schlug ich den Klodeckel gegen die Wand. Verzweifelt beugte ich meinen Oberkörper über die Schüssel und steckte mir das allererste Mal in meinem Leben den Finger in den Hals. Ich würgte. Sofort schossen mir Tränen in die Augen, und Magensäure lief mir über die Lippen. Während ich über der Toilettenschüssel hing und versuchte, den ganzen Scheiß aus mir rauszukotzen, verlor ich völlig das Zeitgefühl. Als nichts mehr kam, sank ich zu Boden und heulte. Ich schämte mich so unfassbar für das, was ich gerade getan hatte.

Im Nachhinein war das für mich der entscheidende Moment in meiner Geschichte mit der Magersucht. Es kam mir so vor, als könnte ich durch das selbst herbeigeführte Erbrechen meine ganzen Gedanken aus mir herauskotzen. Während eines späteren Klinikaufenthaltes sagte ich mal zu einer Therapeutin, die innere Leere mache es mir leichter, die Intensität meiner Emotionen auszuhalten. »Ich habe das Gefühl, dieser Druck bringt mich sonst zum Platzen.« Alles war einfach zu viel, und ich wollte es loswerden. Deshalb war ich auch der festen Überzeugung, ich könnte mein Leben unter Kontrolle bringen, indem ich an Gewicht abnahm.

Also reduzierte ich meine Mahlzeiten. Mein Schulbrot ließ ich auf dem Pausenhof im Mülleimer verschwinden, beim Mittagessen häufte ich mir den Teller hauptsächlich mit Gemüse voll, und erfand ich immer mehr Ausreden. Am Ende des Monats konnte ich die Kalorientabellen zu sämtlichen Lebensmitteln, die ich im Internet gefunden hatte, auswendig. Ich aß morgens ein Brot und abends eines. Mittags vertilgte ich anfangs noch etwas von dem, was meine Mutter kochte. Es sollte ja nicht auffallen. Bloß zu viel durfte es nicht sein. Jedes Mal, wenn ich meine Gabel in eine Kartoffel steckte, musste ich an die Kohlenhydrate denken, die mich ganz bestimmt dick machen würden. Im Kopf rechnete ich durch, wie viel Fett in einem Ei war. Das Eigelb machte mir besonders Angst. Deshalb schnitt ich es meistens aus dem Ei heraus und aß das Eiweiß pur. Zu trinken gab es nur noch Cola Zero.

Schockierend schnell und ohne dass ich es wirklich merkte, ergriff die Krankheit Besitz von mir. In mein Tagebuch schrieb ich: »Ich will zwei Kilo abnehmen, um ein bisschen femininer und schützenswerter zu wirken. Aber keine Sorge, liebes Tagebuch, magersüchtig werde ich eh nicht!«

Meine Freundinnen wurden ziemlich schnell auf meine Veränderung aufmerksam. »Hast du kein Schulbrot dabei?« oder »Ist das das Einzige, was du isst?« waren die ersten Fragen, die ich zu hören bekam. Später dann hieß es: »Wir machen uns Sorgen. Du hast dich total verändert. Es macht uns Angst.« Doch all diese Kommentare prallten an mir ab.

Ein Teil von mir wusste, dass ich mich in Gefahr begab. Aber der viel größere Teil von mir fand die Idee, weiterzumachen, spitzenmäßig. Im Nachhinein kann ich sagen: Ich wollte magersüchtig werden. Ich fand die Krankheit faszinierend. Faszinierend gefährlich, aber auch berauschend. Immerhin war Magersucht ja auch die Krankheit der Models. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dadurch plötzlich zu einer Art Elite zu gehören. Von diesem Gefühl wollte ich mehr. Schließlich konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, was die Krankheit mit mir machen würde.

Wie viel wiegt mein Leben?

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