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Magersucht – was ist das eigentlich?

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Der Fachbegriff für Magersucht, Anorexia nervosa, heißt wörtlich übersetzt »psychisch bedingte Appetitlosigkeit«. Jeder, der an der Krankheit leidet, kann über diese Beschreibung wahrscheinlich nur schmunzeln, denn mit Appetitlosigkeit hat die Magersucht so ziemlich nichts zu tun. Bei der Krankheit geht es vielmehr darum, dass Betroffene all ihre mentalen Kräfte, ihren Ehrgeiz und ihre Disziplin dafür aufwenden, sich über das Grundbedürfnis »Essen« zu stellen. Das Resultat hiervon sind eine selbst herbeigeführte Gewichtsreduktion, eine verzerrte Körperwahrnehmung und zahlreiche körperliche Störungen.

Körperliche Symptome von Magersucht

•Hormonstörungen (Ausbleiben der Periode und Libidoverlust)

•Unfruchtbarkeit

•Frieren

•Vermehrte Körperbehaarung an Rücken und Armen

•Haarausfall

•Kalte Hände

•Sinkende Knochendichte (höheres Osteoporoserisiko)

•Schwindel und Müdigkeit

•Depression

Wichtig: Nicht bei allen Betroffenen treten alle Symptome auf. Ich habe zum Beispiel nie unter Haarausfall gelitten und hatte keine vermehrte Körperbehaarung. Das sagt nichts darüber aus, dass du nicht krank genug bist. Jeder Körper ist anders – jeder Körper sendet andere Signale.

Um bei den harten Fakten zu bleiben, kommt hier erst mal eine schlechte Nachricht: Momentan liegt die Sterblichkeitsrate bei Magersucht bei bis zu acht Prozent. Zwanzig Prozent der Magersüchtigen sind chronisch krank. Trotz dieser enormen Gefahr erkranken in europäischen Ländern jedes Jahr durchschnittlich etwa 4,5 von 100.000 Menschen an der Magersucht. 2017 wurden in deutschen Krankenhäusern 7.821 Fälle diagnostiziert, die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich aber viel höher. 2015 soll es in Deutschland insgesamt 440.000 an Essstörungen erkrankte Menschen gegeben haben.

Mediziner und Psychologen sagen, dass die Entstehung der Krankheit auf ein Zusammenspiel von biologischen, sozialen und psychischen Faktoren zurückzuführen ist. Was es mit diesen Risikofaktoren genau auf sich hat, bespreche ich später noch im Detail.

Mein früherer Therapeut meinte mal zu mir, dass psychische Krankheiten schleichend entstehen. Sie schlummern manchmal schon Ewigkeiten im Inneren eines Menschen, bevor sie wirklich ausbrechen. Die Frage »Wie lange bist du schon krank?« lässt sich bei psychischen Erkrankungen also genau genommen gar nicht beantworten, denn niemand ist von einem auf den anderen Augenblick infiziert.

Als Kind kannte ich die Magersucht nur aus Geschichten oder eben aus den Medien: die Krankheit der Models und Ballerinen. Oft wird gesagt, dass Fernsehsendungen wie Germany’s next Topmodel dazu beitragen, dass Jugendliche immer häufiger an Essstörungen erkranken. Auch für mich waren diese gesellschaftlichen Ursachen für Essstörungen damals am leichtesten zu verstehen, denn zu Beginn meiner Magersucht war ich fest davon überzeugt, es ginge mir darum, den perfekten Körper zu bekommen. Und ja, natürlich spielen falsche Schönheitsideale irgendwie bei dieser Krankheit mit. Doch nicht jeder, der unter einer Essstörung leidet, hat vorher Modelshows geschaut oder hungert einem falschen Vorbild nach.

Auslöser ≠ Ursache

Bei psychischen Krankheiten ist es besonders wichtig, zwischen Auslöser und Ursache zu unterscheiden. Viele Betroffene berichten, dass eine Diät für sie der Beginn ihrer Essstörung war. Am Anfang wollten sie nur überschüssiges Gewicht verlieren und können dann plötzlich nicht mehr aufhören. Diäten sind damit ein Risikofaktor, der Essstörungen begünstigen kann. Dennoch sind sie nie die Ursache dieser Erkrankung. Ein völlig gesunder und stabiler Mensch würde durch eine Diät nämlich niemals in eine Essstörung rutschen.

Psychische Krankheiten funktionieren nach dem Angebot-und-Nachfrage-Prinzip. Man kann sich das so vorstellen: Die Nachfrage unserer Psyche nach Bewältigungsmechanismen ist genau dann besonders hoch, wenn wir insgesamt nicht gefestigt sind und es uns an etwas fehlt. Beschäftigen wir uns in so einer Zeit intensiv mit dem Abnehmen, führt eins zum anderen – der Fokus ist gesetzt, und wir entwickeln eine Essstörung. Folglich ist es auch verständlich, dass Frauen häufiger Essstörungen entwickeln und Männer ihre Gefühle mit Drogen oder Alkohol betäuben. Unsere Psyche nimmt eben das, was ihr gerade angeboten wird.

Psychische Krankheiten sind also Alarmzeichen, die auf ein Ungleichgewicht in unserem Inneren hinweisen. So wie körperliche Schmerzen hervorragende Sensoren für Gefahr sind, lässt auch unsere Psyche uns wissen, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Wer auf eine heiße Herdplatte fasst, zieht die Hand zurück, wer sich den Knöchel verstaucht, schont sich in der nachfolgenden Zeit, um den Fuß nicht weiter zu belasten. Ähnlich müssen auch psychische Symptome verstanden werden. Natürlich äußert sich eine Angststörung anders als eine Essstörung, eine Zwangserkrankung weist andere Merkmale auf als eine Depression, und Schizophrenie sollte nicht mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung verwechselt werden. Im Grunde steckt hinter jedem Symptom aber unsere schmerzende Seele, die darum bittet, dass wir etwas in unserem Leben verändern.

Das Gefährliche ist, dass vielen Menschen nicht einmal bewusst ist, dass ihre Psyche ihnen etwas mitteilen will. Irgendwas fühlt sich zwar falsch an, aber eigentlich hat man ja keinen Grund, sich zu beschweren. In unserer Gesellschaft ist es leider normal, dass über Gefühle wenig gesprochen wird und Probleme stattdessen mit Drogen, Alkohol oder Essen kompensiert werden. Frauen greifen laut den gängigen Klischees zur Frustschokolade, während Männer ihren Kummer in Bier ertränken. Diese Verhaltensweisen verschaffen kurzfristig vielleicht Erleichterung, aber bei schwerwiegenden Problemen lässt unsere Psyche nicht mit sich verhandeln.

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