Читать книгу Wie viel wiegt mein Leben? - Antonia C. Wesseling - Страница 6
Warum dieses Buch?
ОглавлениеHeute auf dem Weg zu meiner Therapeutin sah ich auf der Straße ein sympathisches junges Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Als ich an der Tür der Praxis ankam, merkte ich, dass wir dieselbe Adresse ansteuerten. Ich erwischte mich bei dem Gedanken: Warum sucht so ein junges, nett wirkendes Mädchen sich wohl psychologische Hilfe? Wieder einmal wurde mir klar, dass psychische Erkrankungen jeden betreffen können.
Vielleicht hast du zu diesem Buch gegriffen, weil dich das Thema »Magersucht« selbst betrifft. Oder du kennst jemanden in einer seelischen Notlage, für den du gern da sein willst. Egal warum du dir dieses Buch ausgesucht hast – ich möchte mich für dein Vertrauen bedanken, das du mir mit dem Lesen entgegenbringst. Ich weiß, dass es nicht ganz einfach ist, über solche Themen zu reden und nach Hilfe zu suchen. Denn nach wie vor leben wir in einer Gesellschaft, in der Gefühle meist topsecret sind. Und tatsächlich werde ich in diesem Buch viel mehr von mir preisgeben, als – sagen wir es mit den Worten meines Vaters – »mein zukünftiger Arbeitgeber über mich wissen sollte«.
Bevor ich 2013 die ersten Symptome einer »Anorexia nervosa« – der Fachbegriff für Magersucht – aufwies, wusste ich selbst nicht, wie viel Kummer in mir steckt. Meine eigene Unwissenheit und Angst von damals haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, offen über die eigenen Gefühle zu reden. Zum ersten Mal sprach ich öffentlich über meine Krankheit im Frühjahr 2019 auf meinem YouTube-Kanal Tonipure. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich dort vorwiegend Bücher rezensiert, doch meine persönliche Entwicklung bewegte mich irgendwann dazu, meinen Weg Stück für Stück mit meinen Zuschauerinnen und Zuschauern zu teilen. Denn ich wusste, dass es da draußen so viele Menschen gab, die in genau der gleichen Not steckten, die ich selbst erlebt hatte.
Mittlerweile bekomme ich auf meinen Social-Media-Kanälen jeden Tag private Nachrichten. Meine Follower stellen immer mehr Fragen über die Magersucht, meine Klinikaufenthalte und verschiedene Therapieansätze. Viele schreiben von großen Ängsten, zerstörerischen Selbstzweifeln und vollkommener Orientierungslosigkeit im Leben. In der Zwischenzeit bin ich mit einer riesigen Anzahl von Betroffenen in Kontakt, die mir immer wieder sagen, dass sie sich von mir verstanden fühlen. Und wenn ich eines in den letzten Jahren gelernt habe, dann, wie wichtig es ist, nicht allein zu sein. Deshalb schreibe ich dieses Buch für alle da draußen, die den Kampf noch nicht gewonnen haben. Und für mich selbst. Damit wir gemeinsam mit diesen Seiten wachsen können.
Eines vorweg: In meinen schwersten Magersuchtzeiten habe ich viele Autobiografien gelesen, in denen genaue Gewichts- oder Angaben zu Nahrungsmengen gemacht wurden. Als Resultat habe ich mich unheimlich viel mit diesen Zahlen verglichen, und der ursprüngliche Gedanke, nämlich, gesund zu werden, ging automatisch verloren. Auch heute noch bekomme ich starke Beklemmungen, wenn ich Dokumentationen oder Berichte sehe, in denen es nur ums Gewicht, um Probleme mit der Figur und die Angst vorm Essen geht. Weil ich solche Effekte auf meine Leserinnen und Leser vermeiden will, habe ich in diesem Buch auf konkrete Angaben verzichtet.
Denn weißt du was? Im Grunde genommen spielen das Gewicht und das Essverhalten bei der Magersucht gar keine so große Rolle. Genau darum geht es mir in diesem Buch: Ich will dir zeigen, dass die Magersucht nur die Konsequenz oder ein Symptom dessen ist, was sich unter der Oberfläche des Hungerns abspielt. Ich möchte in diesem Buch über Gefühle sprechen. Über Gefühle, die wir alle kennen – manche mehr und manche weniger.
Bevor es losgeht, möchte ich dich allerdings noch bitten, dir eine wichtige Frage zu stellen. Warum hast du zu diesem Buch gegriffen? Was versprichst du dir davon? Es ist wichtig, dass du ehrlich zu dir bist. Denn in den letzten Jahren habe ich vor allem eines gelernt: Kein Therapeut dieser Welt kann deine Seele heilen. Keine Klinik dieser Welt kann dich ohne deine Mithilfe von einer psychischen Krankheit befreien. Und kein Buch dieser Welt kann dein Leben retten, wenn du dich nicht selbst dazu entscheidest, aus deiner Komfortzone zu treten.
Auf den folgenden Seiten nehme ich meine Leserinnen und Leser gedanklich an die Hand. Ihren Weg kann ich nicht für sie gehen. Was ich dir aber versprechen kann, ist, dass ich dich immer dann, wenn du beim Gehen ins Stocken oder Stolpern gerätst, daran erinnern werde, wie schön es auf der anderen Seite des Lebens ist und warum es sich lohnt, weiterzugehen und nicht auf die Stimme der Angst zu hören, die dich zurückhält und daran hindert, dein volles Potenzial auszuschöpfen.
Noch ein ganz wichtiger Hinweis zum Schluss: Bei psychischen Krankheiten gibt es kein Rezept, das für alle gilt. Deshalb muss ich dich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass alles, was ich in meinem Buch schreibe, meine eigenen Erfahrungen und Meinungen sind. Ich bin weder Ärztin noch Psychologin. Die Tipps, die ich dir gebe, sind nicht wissenschaftlich belegt. Dennoch hoffe ich, dass sie dir in schweren Zeiten ein guter Begleiter sein können.