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Die Mutter

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Der Name Sekirnjak kommt aus dem Serbokroatischen und bedeutet so viel wie Wurfaxt (Zakan). Das hebräische Wort Sakin (Messer) hat wohl etwas damit zu tun. Josef Sekirnjak war Schriftsetzer, ein Elite-Beruf in der Arbeiterklasse der damaligen Zeit. Dies bedeutete keineswegs, dass er wohlhabend war. Mit Müh und Not konnte er seine sieben Kinder über die Runden bringen. Sein Interesse galt nicht dem Kaiser, sondern der sozialistischen Bewegung, und so waren auch seine Kinder Naturfreunde, Kinderfreunde, Abstinenzler, Besucher der Volkshochschulen et cetera. Die drei Töchter waren Pionierinnen im Tragen moderner Kleider: „knöchelfrei!“ Man spielte Klavier, man sang in allen möglichen Chören und man hatte einen Schrebergarten, der als Vitaminlieferant von großer Bedeutung war. Sport und Naturliebe standen hoch im Kurs, auch bei den jüdischen Zweigen des Stammbaums. Hermine, die Zweitälteste, war eine Vorzugsschülerin in allen Fächern, hochmusikalisch und hatte eine wunderbare Altstimme. Sie war groß, hatte dunkle Augen und Haare, aber schlechte Zähne, unter denen sie sehr litt. Ihre wohlgeformten Beine vererbten sich bis ins vierte Glied der Familienkette. Sie hätte eine ausgezeichnete Musiklehrerin oder Ärztin werden können, aber nicht als eines von sieben Kindern eines Proletariers. Mit 14 begann sie zu arbeiten und ihre Fähigkeiten wurden rücksichtslos ausgebeutet, was von ihr aber willig akzeptiert wurde. Im Volksheim Ottakring lernte sie den Immigranten Simon Brauer kennen. Beide besuchten einen Kurs für deutsche Literatur, und Bücher waren auch die erste Brücke, die das Paar zueinander führte. Die Lebensbedingungen der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts waren äußerst schwierig, und es dauerte acht Jahre bis es gelang, einen gemeinsamen Hausstand zu gründen. Simon machte Schuhe, Hermine führte Buch, lieferte die Ware mit der Straßenbahn aus, besorgte den Haushalt und brachte zwei Kinder zur Welt. Im Jahr 1934, als es in Österreich zu Kampfhandlungen kam und vom nahen Arbeiterheim her Schüsse zu hören waren, stopfte Hermine die Fenster mit Matratzen zu und beweinte die verloren gegangene Demokratie. Ihr fünfjähriger Sohn, der sich mit einem Tschako aus Krepppapier auf ein Faschingsfest im Kindergarten vorbereitet hatte, musste erleben, dass dieses Fest abgesagt wurde. Was Wunder, dass aus dem Buben ein glühender Antifaschist wurde.

Im Sommer fuhr man aufs Land. Der Exadel nach Bad Ischl, das Großbürgertum auf den Semmering, die Mittelschicht und gehobene Arbeiterklasse in die Umgebung der Stadt, die armen Teufel in die Lobau. Die Familie Brauer, ihrer sozialen Position entsprechend, besuchte teils Umgebung, teils Lobau. Was man heute als Vororte von Wien bezeichnen würde, war in den 30er Jahren wie eine Reise in die Karibik. Nach Alland fuhr man beispielsweise mit Straßenbahn, Bahn und Bus sechs bis sieben Stunden. Dort sprachen die Leute bereits einen anderen Dialekt als in Wien, waren anders gekleidet und besaßen überhaupt eine andere Kultur. Gewohnt wurde bei Bauern oder Kleinhäuslern, die einen Teil ihrer kleinen Wohnstätten vermieteten. Es roch interessant nach Stall und der kleine Sohn begann sogleich mit Feuereifer Kühe und Ziegen zu zeichnen.

Einquartiert waren auch Cousine und Cousin Spitzer und natürlich die ältere Schwester des Buben. Der Cousin war um einige Jahre älter als die Brauer-Kinder und daher bewundertes Vorbild und Chef aller Spiele und Unternehmungen. In der Umgebung von Alland gibt es eine Tropfsteinhöhle, deren Besuch die Kinder in eine Art „Tropfstein-Ekstase“ versetzte. Es wurden sofort Mineraliensammlungen angelegt und man zog los, um auf der Geröllhalde des Berges Tropfsteine zu suchen. Der zeichnende Sohn wurde als der Jüngste nur sehr ungern mitgenommen, da seine Anwesenheit die nach Erwachsen-Sein dürstende Gesellschaft an den soeben überwundenen Kindergarten erinnerte. Aber Gott ist nicht immer ungerecht und der Kleine fand als Einziger zwei Tropfsteine, einen großen und einen kleineren. Der Bub, bereits wissend, in welche Welt er hineingeboren worden war, fürchtete – und das mit Recht –, dass ihm die Großen die Steine wegnehmen würden. Andererseits wollte er sich natürlich mit seinem Fund wichtig machen. Er löste das Problem, indem er den großen Stein versteckte und sich mit dem kleinen wichtig machte. Wie erwartet fielen alle über ihn her: „Du bist klein, du verstehst nichts von Steinen, du hast keine Sammlung, du bist blöd, gib uns den Stein.“ Ein Machtwort der Mutter machte den Kleinen zum alleinigen und rechtmäßigen Besitzer des Steins. Die Rache des Cousins war schrecklich. Nachdem er die Kleinheit des Steins entsprechen betont hatte, gab er dem Buben folgenden Rat: „Leg den Stein unter die Wasserleitung und lass sie tropfen, morgen Früh ist der Stein größer.“ Der Rat wurde von dem Buben natürlich mit Begeisterung befolgt und nach einer Nacht unruhiger Tropfsteinträume eilte er voll freudiger Hoffnung zur Wasserleitung. Es war nicht die letzte Enttäuschung, die das Leben für ihn bereithielt, aber sicher eine der größten. In seiner Not machte er Folgendes: Er versteckte den kleinen Stein und legte den großen unter die Wasserleitung. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er den Triumph des gelungenen Betrugs empfand. Jahre später gestand der Cousin, dass er den Trick sehr wohl durchschaut hätte, aber den Sieg des Kleinen respektieren wollte. 1939 floh dieser Verwandte über die Schweiz nach England und kehrte 1945 als englischer Soldat und glühender Kommunist nach Wien zurück.

Was hätten wir für eine Welt, wenn alle Menschen so einen Charakter besitzen würden wie die Hermine Brauer. Man bräuchte keine Schlösser an den Türen, keine Polizei, keine Gerichte, kein Militär, kein Geld, keine Tretminen und keine Atombomben. Jeder wüsste, was er der Gesellschaft schuldet und würde mit Freuden seinen Teil zum Wohlergehen der Menschheit beitragen. Solch ein Paradies hätten wir, wären alle so wie Hermine. Wenn es darum ging, einen Schrebergarten zu erben oder eine Wohnung im Gemeindebau zu bekommen, ließ sie anderen den Vortritt. Die Zimmer-Küche-Wohnung am Ludo-Hartmann-Platz schien ihr groß genug für vier Personen und besonders die schönen Parkbäume vor den Fenstern waren ihr wichtiger als die Probleme mit den Gangtoiletten und der Waschküche. Der monatliche Waschtag forderte tatsächlich alle ihre physischen Kräfte, denn die gekochte, gebürstete und gerumpelte nasse Wäsche musste zum Trocknen vom Keller auf den Dachboden im fünften Stock getragen werden. Als es für Juden verboten war, einen Beruf auszuüben, wusch Hermine auch die Wäsche anderer Leute, machte Näharbeiten und lernte Englisch in der Hoffnung, mit ihrer Familie in die USA auswandern zu können. Als es ans Hungern ging, fütterte sie ihre heranwachsenden Kinder und magerte selbst zum Skelett ab. Das Hungerödem hinderte sie aber nicht, ihren Sohn in die Geheimnisse der Harmonielehre einzuweihen und für ihre Tochter alte Kleider zu wenden. Sie konnte nicht lügen, Versprechungen wurden immer eingehalten und im Verzeihen war sie Weltmeisterin. Wieso konnte sie sich so verhalten, obwohl sie weder Lohn noch Strafe in einem Jenseits erwartete? Und wieso zeigen so viele Menschen ein gegenteiliges Verhalten, obwohl sie eine fixe Vorstellung von Himmel und Hölle haben? Es mag schon stimmen, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, aber offensichtlich hat unser Bewusstsein keine sehr große Bedeutung für unser Verhalten. Das Lebenswetter der Hermine Sekirnjak-Brauer zeigte fast immer schwere Wolkenberge mit bescheidenen Aufhellungen zwischen den beiden Weltkriegen. Den Verlust ihres Mannes konnte sie nie verwinden, aber im Alter sah sie mit Stolz auf das geglückte Leben ihrer erwachsenen Kinder.


Hermine Brauer mit den Kindern Lena und Erich 1935 bei einem Ausflug in den Wienerwald.

Die Farben meines Lebens

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