Читать книгу Die Farben meines Lebens - Arik Brauer - Страница 9
ОглавлениеAls der Russisch-Japanische Krieg ausbrach und das Väterchen Zar mit eisernen Krallen nach allem fasste, was sich im Krieg verheizen ließ, floh Simche nach Wien. Er fand dort Arbeit und lebte als Junggeselle im Arbeiterheim. Eine Zeit lang wohnte dort auch „a verkrampfter Oberchochem“, der wenige Jahre später als der „Führer“ Adolf Hitler die Welt ins Unglück stürzen sollte.
Brauers fünfzig Jahre waren keine sehr günstigen: Erster Weltkrieg, Nachkriegselend, Wirtschaftskrise und Nationalsozialismus. Trotzdem gelang es ihm, eine Familie zu gründen und dieselbe bescheiden, aber gut über die Runden zu bringen. Gewohnt wurde in einer Zinskaserne am Ludo-Hartmann-Platz 4. Zimmer, Küche, Wasser und Toilette am Gang. 1927 kam ein Mädchen zur Welt, das nach dem russischen Fluss Lena benannt wurde, 1929 ein Knabe: Erich Brauer.
Simche arbeitete alleine in seiner kleinen Werkstätte. Er machte orthopädische Schuhe. Von einem Achtstundentag konnte keine Rede sein. Wenn er abends nach Hause kam, waren die Kinder bereits im Bett, dann trank er zusammen mit seiner Frau eine Tasse Tee in der Küche und es wurde im Flüsterton geplaudert. Die Schule des Knaben lag nahe der Werkstätte, und der Bub verbrachte dort drei Nachmittage pro Woche. Es blieben ein Nachmittag für die Religionsstunde, die der „Sozialistenspross“ aus unerklärlichen Gründen besuchen musste, und zwei für den Park. In der „Schil“ war das Kind ein Jude unter Juden, im Park ein Goi (eigentlich Stamm, für Nichtjuden gebrauchter Ausdruck) unter Goim. Der Bub wuchs in einem friedlichen Elternhaus auf, mit Schrebergarten-Besuchen und Wienerwald-Ausflügen. Trotzdem rannte er – wann immer er konnte – in den Park, wo grausame Sitten herrschten. Simche, der sehr gut Deutsch sprach und schrieb, verehrte die deutsche Literatur über alles. Die im Deutschen allgemein bekannten hebräischen Worte wie Tachles, Masel, Tinnef etc. verwendete er selten, häufig aber jene charakteristischen, aus dem Mittelhochdeutschen stammenden jiddischen Wendungen wie „sei sennen“ („sie sind“) oder „daffen“ („bedürfen“ in der Bedeutung von „sollen“). Als sein Sohn zu fragen begann, wieso Papa anders spreche als die Mutter, wurde ihm verschämt mitgeteilt: „Papa hat einen russischen Akzent.“ In der Werkstätte jedoch wurde oft Jiddisch gesprochen, da natürlich viele Leute mit Platt- und Klumpfüßen Juden waren. Der kleine Erich machte seine Hausaufgaben schnell und schlampig, um sich nur ja möglichst rasch seiner Haupt- und Lieblingsbeschäftigung zu widmen, nämlich am Fensterbrett sitzend zu zeichnen. Simche erkannte bald, dass sein Sohn begabt war, viele Erwachsene fanden ihn sogar außergewöhnlich begabt. Diese Erkenntnis war von großer Bedeutung für den Vater, und selbst in seinem letzten Brief, den ein Soldat nach Wien geschmuggelt hatte, fragte er, ob der Bub noch male.
Simche Brauer erzählt seinem Sohn Erichim Schrebergarten Geschichten.
Sosehr die deutschsprachige Kultur und die Errungenschaften des Austro-Marxismus von ihm bewundert wurden, gelang es ihm doch nie, ein Wiener unter Wienern zu werden. Er trank keinen Alkohol, war absolut nicht sportbegeistert und bei Wienerwald-Ausflügen immer unpassend gekleidet. Mit seiner Arbeit und seiner Familie war er glücklich, was er hatte und was er war, genügte ihm. Das Wolfsrudel tauchte indes wieder auf und diesmal war es von der Tollwut befallen. Simche erkannte es nicht – Bänke nur für Arier, Straßen abbürsten, Ersparnisse konfisziert, Zusatznamen Israel und Sarah, Kinder aus der Schule geworfen. Simche wollte es nicht glauben: „Ein Gewitter wird vorübergehen. Das sind doch keine Kosaken, diese Menschen haben die allgemeine Schulpflicht eingeführt, haben Goethe und Schubert hervorgebracht, man wird sich wieder beruhigen.“ Aber auch die Kosaken haben einen Dostojewski und Tolstoi und Gorki hervorgebracht, und das hat sie nie gehindert, Judenkinder mit Lanzen aufzuspießen. Es war kein Gewitter, sondern eine Eiszeit.
Als die Werkstatt versiegelt war und man sich verstecken musste, begann eine hektische, hoffnungslose Suche nach einem Fluchtweg. Amerika wollte ein Affidavit sehen, die Schweizer schickten zurück nach Dachau, was sich in ihr Land hineingeschlichen hatte, Shanghai war offen für Juden, aber die Reisekosten unerschwinglich. Also auf über die grüne Grenze – zurück in die ungeliebte östliche Heimat. Simche schaffte es im letzten Moment, die Familie blieb hängen. In Riga ging er sofort daran, eine neue Existenz aufzubauen. Das Verhängnis aber rollte schneller. Bald stand er vor der Alternative, wieder in die Hände der Nazis zu geraten oder nach Russland zu fliehen, was mit einem deutschen Pass Sibirien bedeutete.
Wohl meldete sich die gute Stimme der Erkenntnis: „Deine fünfzig Jahre sind noch nicht ganz um. Menschen mit kranken Füßen gibt es auch in Sibirien.“ Aber Simche wollte nicht hören. Sibirien ist weit und Russland ist grausam. In Deutschland dachte er, muss früher oder später die Kultur obsiegen. Dass es Gaskammern gibt, konnte oder wollte er nicht glauben, das Knurren des Wolfsrudels wollte er nicht hören. Er blieb in Riga. Im Herrschaftsbereich der Deutschen träumte er, gäbe es vielleicht noch eine Möglichkeit, seine Familie wiederzusehen oder zumindest eine Nachricht zu erhalten. Im Jahr 1944 aber waren seine fünfzig Jahre um. Er stand wieder im kalten Mondlicht auf dem hart gefrorenen Schnee. Zum Skelett abgemagert, hatte ihm jemand eine zerschlissene Decke umgehängt. Der Platz war wieder umzäunt, diesmal mit Stacheldraht. Vor ihm stand der Leitwolf im schwarzen Ledermantel und deutete mit der Pfote auf das Tor mit der Aufschrift „Waschraum“. Gestützt auf einen Menschen schwankte Simche zum Eingang. „Hast du noch etwas zu sagen?“, fragte der Mensch. „Wenn du meinen Sohn in Israel triffst, sag ihm, meine letzten Gedanken galten meiner geliebten Familie.“ Der Mensch hat seinen Wunsch erfüllt.