Читать книгу Die Farben meines Lebens - Arik Brauer - Страница 20
Vater Wanz
ОглавлениеIn einer stillen, dunklen Ecke zwischen Betteinsatz und Matratze sitzt eine Gruppe Wanzen gemütlich plaudernd beisammen. Die meisten sind junge Kerle, die noch das helle Rotbraun der Jugend haben, Männlein und Weiblein. Die Mädchen wippen mit ihren Hinterteilen und erzählen einander kichernd, wie viele Eier sie zu legen beabsichtigen. Die Burschen machen sich wichtig, um Eindruck bei den Mädchen zu schinden, spreizen die Beine, um größer zu wirken und schildern Heldentaten, die sie angeblich vollbracht haben. Da ist die Rede von Kämpfen mit Flöhen, mit riesigen Mauerasseln, von tollkühnen Attacken auf blanke Menschenpopos. Einer behauptet sogar, er sei einem mit offenem Mund schnarchenden Menschenungeheuer auf die Zunge gekrochen, hätte dort seine Notdurft verrichtet und sei dann unbeschadet zwischen den gewaltigen Zähnen, von denen etliche aus purem Gold gewesen seien, wieder herausgestiegen. Na ja, man muss nicht alles glauben, was die jungen Leute in ihrem Überschwang so plappern. Plötzlich tritt Stille ein. Alle blicken wie gebannt auf eine dunkle Gestalt, die sich mit langsamem, würdigem Schritt nähert. Der Urvater „Wanz“. Wanz ist ein Einzelgänger und spricht selten mit Leuten – ein von zahllosen Legenden umrankter Philosoph. Sein genaues Alter ist unbekannt. Es wird gemunkelt, dass er einmal fünfzehn Jahre lang eingemauert war. Wanz nimmt auf einem etwas hervorstehenden Nagelkopf Platz und blickt ernst in die Runde. Es herrscht atemlose Spannung. Die wenigsten haben den Alten bisher je von Angesicht zu Angesicht gesehen und noch weniger haben seine Stimme gehört. Da wird plötzlich die Stille von einem hellen Stimmchen durchbrochen: „Vater Wanz, bitte, ist das wahr, dass Sie fünfzehn Jahr eingemauert waren?“ Ein kleines Mädchen, ein junges, unverschämtes Geschöpf, hat die Frechheit gehabt, eine derart taktlose Frage zu stellen, aber der sonst so ernste Wanz lächelt milde, streichelt der Kleinen leicht über den Kopf und beginnt mit ruhiger, warmer Stimme zu erzählen. „Vor langer, langer Zeit lebte das edle Volk der Wanzen mit den Menschenungeheuern in friedlicher Harmonie. Man konnte am helllichten Tag ungestört auf den Wänden spazieren gehen, die Betten waren voller gemütlicher Ecken und Spalten, das Bettzeug wurde selten gewaschen, und von Giftgas und dergleichen Terror war nicht die Rede. Es geschah wohl manchmal, dass jemand von einem Menschenungeheuerkind mit einer Stecknadel am Tisch festgenagelt wurde, aber im Allgemeinen war das Verhältnis zwischen Mensch und Wanze ein freundliches.“ Wanz macht eine Pause, sein Blick hat etwas Entrücktes: „Ich entsinne mich eines eher lächerlichen Versuchs einer Menschenungeheuerin, uns den Zutritt zum Bett zu verwehren. Sie stellte die Bettfüße in kleine, mit Petroleum gefüllte Gefäße, wohl wissend, dass wir in dieser stinkenden Brühe nicht gerne schwimmen. Natürlich machten wir uns einen Spaß daraus, auf die Zimmerdecke zu klettern und uns von oben ins Bett fallen zu lassen. Ja, damals waren wir jung und verspielt. Ich war zu dieser Zeit in eine Wanzin verliebt, deren Schönheit und Fruchtbarkeit nichts Vergleichbares hatte in der weiten Wanzenwelt. Wir wohnten in einem netten Nagelloch in der Wand über dem Bett. Der Platz war zentral gelegen und bot einen herrlichen Rundblick. Eines Tages bemerkten wir merkwürdige Vorgänge im Zimmer. Kästen und Betten wurden verschoben und mit Zeitungspapier bedeckt, fremde Menschenungeheuer brachten unbekannte Geräte, auf die sie hinaufkletterten, um an den Wänden herumzuschaben. Als sie begannen, einen weißen Schleim auf die Wände zu schmieren, fingen wir an, unruhig zu werden. Meine Frau, die hochschwanger war, wollte das Nagelloch nächtens verlassen und einen sicheren Platz im Bett aufsuchen. Ich aber fand die Übersiedlung unter den gegebenen Umständen zu riskant und entschied mich für den Verbleib im Nagelloch. Dieser mein Entschluss hatte tragische Folgen!“
Wanz macht wieder eine Pause und man kann sehen, wie eine im Dämmerlicht glänzende Träne über sein vom Alter gezeichnetes Gesicht rinnt. Die Intelligenteren unter den Zuhörern ahnen bereits, was damals geschah, und starren mit schreckensgeweiteten Augen auf den Greis. Dieser fährt mit leiser, zitternder Stimme fort: „Ich werde mir diesen Fehler nie verzeihen, denn er hatte den Tod meiner geliebten Frau zur Folge. Wir wachten morgens zeitig auf und blinzelten in das Licht des jungen Tages, als plötzlich unser Loch mit einer breiigen Masse zugestopft wurde. Ich stürzte mich sofort gegen den klebrigen Brei, um einen Ausgang ins Freie zu erzwingen, aber ein weiterer Stoß von außen trieb die rasch härter werdende Masse so tief ins Loch, dass dieses fast zur Gänze gefüllt war und wir keine Bewegungsfreiheit mehr hatten. Dicht aneinander gepresst dämmerten wir einige Wochen vor uns hin, dann musste meine Frau entbinden, aber es gab für die zahlreichen Eier keinen Platz. Die Situation schien aussichtslos. Alles drehte sich natürlich um das Wohl der Eier, und ich machte meiner Gattin den Vorschlag, sie möge mich auffressen, um erstens Platz für die Eier zu schaffen und zweitens ihre eigene Überlebenschance zu vergrößern. Sie sprach kein Wort, aber den Blick ihrer Augen werde ich nie vergessen. Als ich am nächsten Morgen in der Dunkelheit nach ihr tastete, durchfuhr ein eiskalter Schauer meine Seele. Mein Herz blieb stehen, und ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Meine Frau hatte, um für ihre Nachkommen Platz zu schaffen, sich selber teilweise aufgefressen.“ Wanz unterbricht laut schluchzend seine Schilderung. Alle Anwesenden weinen und halten einander an den Händen.