Читать книгу Die Farben meines Lebens - Arik Brauer - Страница 14

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Als die Menschin Lena fünf Jahre alt war, verließ sie in einem unbewachten Moment die elterliche Wohnung und machte sich auf den Weg zu ihrer Cousine. Es war nicht sosehr die Cousine, die ihre Phantasie beflügelte, als vielmehr ein Goldfisch, den diese um zwei Jahre ältere Verwandte in einem Einsiedeglas züchtete. Der Fisch ihrer Sehnsüchte befand sich in der Brigittenau. Der Weg von Ottakring dorthin ist weit und kompliziert und selbst der Bürgermeister von Wien würde sich schwer tun, ihn zu finden. Dass sich jemand im Wiener Großstadtverkehr in Lebensgefahr begibt, für einen lächerlichen Goldfisch, kann nur damit erklärt werden, dass im Wunschdenken des Betreffenden der Fisch zum Nasenbären mutierte. Die kleine Lena war ein aufgewecktes Kind mit einem eisernen Willen. Sie wusste, dass die Straßenbahnlinie 5 in die Gegend ihrer Cousine fährt und zappelte unverdrossen dem Schienenstrang nach. Bald befand sie sich in ihr unbekannten Gassen und die Häuser schienen beängstigend groß und grau. Nach zwei Stunden erreichte sie am Donaukanal wieder bekannte Gassen und fühlte im Herzen das unbändige Glücksgefühl des Sieges über mächtige Gewalten. Sie stand vor der Türe mit dem Namen Spitzer, den sie zwar nicht lesen konnte, aber sie kannte die Türe. Die Cousine war da, allerdings war der Goldfisch inzwischen gestorben.

Ihr ganzes Leben ist auf diese Weise verlaufen. Hatte sich einmal ein Goldfisch in ihrer Phantasie festgesetzt, verfolgte sie ihr Ziel mit Intelligenz, Talent und einem geradezu unglaublichen Ausmaß an Energie bis ins hohe Alter. Das gesteckte Ziel erreichte sie immer, nur der Goldfisch war dann meist schon tot. Dies konnte sie aber nie entmutigen, denn der Weg war ihr wohl wichtiger als das Ziel. Als Tänzerin in allen möglichen Theatern und Clubs blieb sie, völlig unbeeinflusst von ihrer Umgebung, stets ihrer Wandervogelromantik verhaftet. Zwanzig Jahre Amerika, Ehe, Scheidung, Häuserbau, Tanzschulen gegründet, Hundezucht im großen Stil betrieben, Studium, Doktorat in Art, zuletzt als Malerin zurück nach Wien. Alles geschafft und alles zwischen den Fingern zerronnen.

Im Jahr 1945 war Lena bei einer „arischen“ Tante, als die russischen Panzer von Ottakring in Richtung Gürtel rollten. Dies war auch ihr Weg und sie marschierte unerschrocken und munter neben den Panzern die Koppstraße hinunter. Ihr Winken und Küsseschicken blieb zunächst unbeantwortet, aber als eine Granate mit Getöse in der Nähe einschlug, steckte ein Russe den Kopf aus dem Panzer, brüllte auf Russisch: „Verschwinde!“, und tippte sich mit dem Finger an die Stirn. Lena verschwand in das Haus Nr. 4 am Ludo-Hartmann-Platz und hisste am Fenster ein weißes Leintuch.

Aus dem Liederzyklus „Wien 1945“

Im Viererhaus, im Viererhaus,

do hängen’s a weiße Fahne auf.

Der Nachbar schaut beim Fenster raus,

der reißt vor Schreck seine Augen auf.

„Seid’s denn es wahnsinnig, die SSler schiaßen uns

des Dach weg, überm Kopf.“

Im Viererhaus, im Viererhaus,

do hängen’s gschwind a Hakenkreuz auf.

Der Nachbar schaut beim Fenster raus,

der reißt vor Schreck seine Augen auf.

„Seid’s denn es wahnsinnig, die Russen schiaßen uns

des Dach weg, überm Kopf.“

Im Viererhaus, im Viererhaus,

do hängen’s die dreckige Wäsch auf.

Die Russen glauben a weiße Fahn (Bierliflag)

SSler sagen: „Deutsche Hausfrauen“.

Und so wurde das Viererhaus gerettet.


Bald darauf klopfte jemand an die Tür und herein kam ein blutjunger Tatar, der mit Applaus empfangen wurde. Er hatte rohe Kartoffeln mitgebracht, die in einem Rest von Margarine gebraten wurden. Nach dieser frugalen Mahlzeit wurden alle russischen Lieder gesungen, die man vom Vater gelernt hatte. Es war eine grandiose Siegesfeier, und als eine Granate knapp über dem Fenster das Haus aufriss, zuckte der Russe nicht einmal mit der Wimper.

Einige Tage später, als die Front schon am Donaukanal war, kamen endlose Reihen von Russen mit Pferdefuhrwerken. Diese Soldaten hatten keine Schlitzaugen, waren aber oft völlig besoffen. Als im Haus Nr. 4 das Haustor aufgebrochen wurde und jemand laut brüllte: „Frau, Frau!“, versteckte sich Lena in der Bettlade und die Mutter verschwand in dem mit Müll vollgerammelten Kabinett der Nachbarin. Ein Russe taumelte ins Zimmer, fiel aufs Bett und begann sogleich zu schnarchen. Es bestand kein Zweifel, dass Lena ersticken würde, ehe der Russe seinen Rausch ausgeschlafen haben würde. Wenn ich, der Nasenbär, schon damals existiert hätte, wäre es dem Besoffenen schlecht ergangen, denn wenn die Ehre seiner Menschin in Gefahr ist, wird der echte Nasenbär zur Eierschleifmaschine. Der Russe wurde im Traum offensichtlich von einem riesigen Nasenbären gejagt, denn er wälzte sich unruhig hin und her, fiel vom Bett, kotzte den Boden voll und taumelte seines Weges.

Lena war schon als Kind vor allem mit sich selber und ihren fixen Ideen beschäftigt, aber für ihren kleinen Bruder hatte sie immer eine Schwäche. Ich selber habe ja mit diesem Bruder nichts am Hut. Er ist ein hochnasiger Fatzke, der seine spitze Nase rümpft, wenn von meinem uringetränkten Nest zwischen Rigips und Außenwand die Rede ist. Aber meine Menschin schätzte als Kind sowohl die gemeinsamen Spiele und Unternehmungen mit diesem Kerl als auch die Streitereien, die nie in Entfremdung mündeten. Als das Baby Erich gebracht wurde, knallte sie ihm sogleich eine, um deutlich zu machen, wer hier das Sagen hat. Als der Knabe heranwuchs, wurde das meiste gemeinsam unternommen: Pilze gesammelt, Kirschen geerntet, Theater aufgeführt, groß angelegte Bastelprojekte verwirklicht und jahrelang Indianer gespielt, mit fix verteilten Rollen. Der im Wienerwald am versteckten Ort gebaute Wigwam wurde von Ottakring aus immer zu Fuß erwandert.

In den frühen 50er Jahren lehrte sie ihren Bruder die Grundregeln des Balletttanzes und die beiden gingen als Duo Brauer auf Tournee. Im 21. Jahrhundert wurde sie ihres Bruders letzte Partnerin für Bergwanderungen. Zu diesem Zweck gebe ich ihr in meiner übertriebenen Güte oft einen Tag Urlaub, nur um die beiden widerlichen Haarbüschelhunde nicht riechen zu müssen, die bei diesen Touren mitgenommen werden. Eines Tages aber geschah eine bodenlose Gemeinheit, ein richtiges Verbrechen. Man wollte mich loswerden und brachte mich nach Schönbrunn. Ich wusste gleich, dass hinter dieser Teufelei nur der Spitznasenbruder stecken kann, und der Tag meiner Rache wird unweigerlich kommen. In Schönbrunn wurde ich mit anderen Nasenbären zusammengesperrt, lauter ungebildetes, langweiliges Tiergartengesindel. Ich verstand es aber, mich so aufzuführen, dass ich nach wenigen Tagen wieder in meine Wohnung gebracht wurde. Über das Geschehene verlor ich kein Wort, aber ich erscheine meiner verräterischen Menschin oft im Traum, wo sie erleben muss, wie ich von Wärtern und Besuchern gedemütigt und gefoltert werde. Damit muss sie jetzt leben.

Die Farben meines Lebens

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