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Erster Kontakt

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Ahmad schlenderte über den neu gestalteten Campus. Er betrachtete die im rötlichen Morgenlicht schimmernden Fassaden der vor wenigen Monaten fertig gestellten Gebäude aus Chrom, Aluminium und Glas.

,Wieso verwenden die Architekten keine Solarzellen oder andere intelligente Baumaterialien, um eine bessere Energieeffizienz zu erzielen?’, dachte er. ,Das alles hier ist doch nur wieder lediglich auf ein protziges Äußeres ausgelegt. So, wie um zu zeigen: Wir sind im Libanon wieder wer, wir können uns alles leisten.’

Ahmad setzte sich auf eine Bank, die Entwürfen aus dem viktorianischen England des späten 19. Jahrhunderts nachempfunden war. Auf ihrer gusseisernen Rückenlehne und Sitzfläche quollen florale Elemente üppig empor die - dank ihres weißen Anstriches - grell in der Sonne leuchteten.

Er ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Die Universität lag auf einer Anhöhe über Beirut, das von zwei Seiten vom Mittelmeer umgeben war. Hinter ihm hörte er in der Ferne das Geräusch der startenden und landenden Maschinen auf dem Flughafengelände.

Der Lärm des morgendlichen Autoverkehrs in der libanesischen Hauptstadt und das Stimmengewirr der Passanten und Pendler drang zu ihm herauf. Rechts, mehr als fünf Kilometer Luftlinie von seinem Standort entfernt, hinter der Skyline der Innenstadt, stiegen die auf ihrer Oberseite sanft abgerundeten Hügel oberhalb der Küstenstraße unvermittelt aus dem azurblauen Meer auf, mit einem gelblich - rötlichen Schimmer der blühenden Zitronen - und Orangenbäume überzogen. Ganz in der Ferne war das strahlend weiße Libanongebirge deutlich zu sehen. Seine bis zu drei Kilometer hohen, zugleich seltsam abgerundeten Wände und Grate, die auf halber Höhe in sanftere Hänge übergingen, wurden immer noch vom Winter beherrscht.

Ein warmer Südwind aus dem Sinai ließ die zartrosa blühenden Zweige eines Mandelbaumes über ihm langsam hin und her schwanken.

Er untersuchte die beiden Studienverlaufspläne genauer. Was ihn am meisten interessierte, waren die Exkursionen, die in beiden Fächern schon ab dem ersten Semester angeboten wurden. Schon deshalb war er sich sicher, einen guten Überblick über dieses Land, seine Bewohner und hoffentlich auch über das politische Tagesgeschäft zu erlangen. Besonders begrüßte er die Aussicht auf kleine Studiengruppen, die, so hoffte er, individuell betreut würden. Und die daher die Assistenten des Lehrstuhlinhabers in die Lage versetzen sollten, flexibel auf die Wünsche der Teilnehmer einzugehen. So manchen der aktuellen politischen Brennpunkte dieser Region könnte er dann detailliert und damit inkognito erkunden.

Nach der flüchtigen Begegnung mit dem sympathischen jungen Mann, die nur wenige Minuten zurücklag, begann er zu ahnen, dass es trotz aller im Vorfeld seines Studiums angestellten, zum Teil minutiös ausgearbeiteten Überlegungen viele unbekannte Herausforderungen geben würde, die ihn daran hinderten, rasch zu guten Ergebnissen seiner Mission zu kommen. Seine eigene analytische Nüchternheit und präzise Beobachtungsgabe komplexer Zusammenhänge, die er sich jahrelang antrainiert hatte, prädestinierten ihn zwar für eine genaue und zugleich distanzierte Beobachtung der politischen Situation der Levante. Aber er musste vor sich selbst eingestehen: Die größte Unbekannte waren seine menschlichen Schwächen. Ahmad war sich nämlich nach den Erfahrungen, die er im Verlaufe seiner zurückliegenden Missionen gesammelt hatte, inzwischen absolut sicher, dass noch so manche gefühlsmäßige Aufwallung seine Objektivität beeinträchtigen würde.

Zwar besaß er ein ungeheures Maß an Selbstdisziplin, die es ihm ermöglichte, eigene Schwächen und Gefühlsregungen zu überspielen. Aber wie stark war diese Maskerade wirklich? Wie lange konnte er seinen inneren Gefühlen widerstehen, wenn er die Bewohner dieses Landes näher kennenlernen würde? Denn eine sorgfältige Analyse dieser Region der Erde war eben nicht nur auf die rein rationale Seite beschränkt. Mit Menschen in Kontakt zu treten verlangte von ihm viel mehr: Einfühlungsvermögen, Mitmenschlichkeit, Wärme - und somit Verhaltensweisen, die seine Objektivität behindern oder sogar vollends zunichte machen würden. Er verspürte einen leichten Schauder bei diesen Gedanken.

Dank intensiver Vorarbeiten hatte er von Dritten viel über libanesische Höflichkeit gelernt; und diese Formalien und Floskeln erschienen ihm wie ein rettender Anker. Sie waren für ihn Anlass genug, zu intensiven Kontakten in Zukunft aus dem Weg zu gehen. Aber seine Feuerprobe hatte dieser Verhaltenskodex, der zugleich die Grundlage für den Informationsaustausch bildete, ja noch zu bestehen; wie gut sie die vor ihm liegende Aufgabe tatsächlich vereinfachen würde, lag zu diesem Zeitpunkt noch völlig im Ungewissen.

Aber wenn er wirklich menschliche Nähe erfahren würde... Er hoffte, dass er niemals in die Versuchung käme, Gefühle zeigen zu müssen.

Seine Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als plötzlich ein Schatten auf ihn fiel. Er blickte überrascht auf und erkannte den jungen Studenten, der ihm vorhin im Einschreibungsbüro aufgefallen war. Ahmad machte eine nervöse, zugleich jedoch einladende Handbewegung. Er wies auf den freien Platz auf der Bank neben sich.

„Setz dich neben mich, wenn du magst. Ich heiße Ahmad Johar”, sagte er freundlich, aber mit etwas Verunsicherung in der Stimme, und reichte ihm die Hand. Sein Gegenüber ergriff sie sofort und lächelte dabei.

Ahmad war völlig perplex, denn dieser rasche Kontakt mit einem Einheimischen kam für ihn völlig unerwartet. Libanesen sind üblicherweise gegenüber Fremden sehr zurückhaltend, trotz aller in der Öffentlichkeit zur Schau gestellten arabischen Freundlichkeit.

„Mouad Bribire.” Er schien Ahmads Verunsicherung nicht wahr zu nehmen, zumindest ließ er sich nichts anmerken.

Dennoch musterte er Ahmad genau:

Dessen dunkelblondes, kurz geschnittenes Haar verlieh ihm eine jugendliche Ausstrahlung, die durch den drahtigen, durchtrainierten Körper noch betont wurde. Seine bronzefarbene Haut, möglicherweise ein Ergebnis einer ganzen Reihe von Vorfahren aus den verschiedensten Regionen dieses Planeten, gab ihm die Ähnlichkeit mit einem arabischen Athleten, der aus einer Phantasieerzählung aus Tausendundeiner Nacht entsprungen sein könnte. Die dunkelbraunen Augen schauten sein Gegenüber durchdringend an. Dieser Eindruck wurde noch durch die scharfgeschnittene Nase und einen energischen Mund unterstrichen. Ein kurz geschnittener, dunkelblonder Bart umrahmte seine Gesichtszüge. Jedoch kontrastierte dieser längst nicht so stark mit seiner Haut wie derjenige von Mouad.

Ahmad schien zudem eine Vorliebe für Outdoorbekleidung zu haben: Er trug eine olivfarbene Hose mit mehreren, durch Druckknöpfe verschließbaren Außentaschen sowie ein sandfarbenes Hemd, das zwei große Brusttaschen hatte und ausgezeichnet zur Hose passte.

Mouad setzte sich neben ihn.

„Was willst du denn studieren?”, begann dieser zwanglos.

„Geologie und Journalistik”, entgegnete Ahmad, wobei er darauf achtete, möglichst distanziert und desinteressiert zu wirken.

„Ich auch”, antwortete der junge Libanese freundlich.

Ahmad erwiderte zunächst nichts. Er begann sich in seiner Haut unwohl zu fühlen. Wieso interessiert sich dieser Mann eigentlich für so etwas Belangloses? Er ordnete dieses Frage- und Antwortspiel in die Rubrik ,Annäherungsversuche von Terranern’ ein.

So etwas musste unbedingt verhindert werden, jedoch nicht mit brüskem Verhalten.

„Das ist aber ein doch recht großer Zufall”, begann er schließlich abwägend in sachlichem Tonfall. Er wollte so neutral wie möglich auftreten.

Aber sein Gegenüber schien seine verhaltene, abweisende Art nicht als solche zu interpretieren.

„Du hast mich schon durchschaut”, meinte Mouad, wobei er ihn schelmisch von der Seite anlächelte.

Ahmad versuchte, die Distanz weiter aufrecht zu erhalten. Aber es gelang ihm einfach nicht. Denn sein Gegenüber schien gelöst und entspannt zu sein.

„Ich wusste es nicht genau”, fuhr er halb amüsiert fort, „habe aber gehört, was die Sachbearbeiterin dir bei der Einschreibung erläutert hatte. Da habe ich die Fächer mal eben nachgetragen.”

„Aber du warst doch verpflichtet, so eine weitreichende Studierentscheidung schon weit vor dem Aufnahmetest sorgfältig zu planen.”

„Nicht aber, wenn du den mit ,sehr gut’ bestanden hast.”

„Na schön, du Superhirn”, meinte Ahmad etwas spitz, „jetzt erläutere mir doch mal bitte die wahren Gründe, warum du dieselbe Fächerkombination wie ich belegst.”

Mouad war durch diese Reaktion auf einmal etwas kurz ab: „Mein Vater hat bei mir das Interesse für Geologie geweckt.”

Mehr war allerdings nicht aus ihm herauszubekommen - und auch nicht, warum er sich für Journalistik interessierte.

Beide schwiegen einige Minuten, wobei Mouad - offensichtlich aus Nervosität - seine Finger knetete.

Ahmad meinte schließlich, da er nicht so recht wusste, wie er mit dieser Situation umgehen sollte: „Was hältst du davon, wenn wir uns zusammen mal die Fakultäten anschauen? Wobei sich laut Plan ja beide Fachbereiche im selben Gebäude befinden.”

Nach kurzem Zögern ergänzte er:

„Wir könnten ja dann anschließend in die Innenstadt gehen und noch eine Kleinigkeit essen oder trinken.”

„Einverstanden”, kam es knapp zurück.

Sie wanderten durch das parkähnliche Gelände und beobachteten einige Arbeiter, die noch letzte Stauden und Sträucher in die frisch aufgeworfene Erde pflanzten. Am Ende des Weges, dessen Belag aus leeren Muschelschalen aufgebaut war, die in großen Mengen bei der Filterung des Sandes unterhalb des Corniches anfielen, erkannten sie den neuen rundlichen Aluminium-Glasturm, den sie schon auf dem Lageplan in der Verwaltung gesehen hatten.

Sie erreichten den Eingangsbereich. Eine von außen vergoldete automatische Schiebetür öffnete sich vor ihnen.

,Was für ein aufwendiger Luxus für ein Land, dessen politische Stabilität immer noch mit dem Schicksal von Millionen Flüchtlingen insbesondere aus Syrien und dem Irak verknüpft ist’, dachte Ahmad.

Gedämpftes Licht fiel von oben durch eine Glaskuppel in den zylinderförmigen Zentralschacht in der Mitte des Gebäudes. Grünpflanzen und Ranken hingen über die Geländer der verschiedenen Etagen. Die Luft war angenehm feucht und kühl. Neben dem Liftzugang lasen sie:

,Studieninformation Geologie: 2. Etage.’

Sie wählten den Weg über die Treppe. Dabei hatten sie links einen herrlichen Blick auf die zum Teil schon in voller Blüte stehenden Hängegeranien, die für zusätzliche, freundliche Farbtupfer im gesamten Gebäude sorgten.

Schließlich erreichten sie einen Rundlauf im zweiten Geschoss. Von diesem führten die Räume radial nach außen. Eine große Wandtafel veranschaulichte die Theorie der Kontinentalplattenwanderung Alfred Wegeners.

„Dies scheint hier richtig zu sein”, bemerkte Mouad sachlich.

Vor einer Glastür hielten sie einen Moment inne.

,Geologisches Institut, Professor Dr. Mansouri, Lehrstuhl für Mineralogie, Geologie und Tektonik’, war auf einem Schild neben der Tür zu lesen. Sie klopften und wurden durch ein freundliches „Herein” aufgefordert, einzutreten.

„Guten Tag”, wurden sie von einer älteren, etwas rundlichen Dame begrüßt. Sie trug eine dicke Nickelbrille auf ihrer fleischigen Nase. Ihr Gesicht war ein wenig aufgequollen. Bräunliche Schminke und ein knallroter Lippenstift waren etwas zu intensiv aufgetragen. Ein schwerer Parfümgeruch erfüllte den Raum.

„Was kann ich für Sie tun?”

„Wir haben uns für die Studiengänge Geologie und Journalistik entschieden und uns vor ’ner halben Stunde eingeschrieben. Da wir in unserem Studium zügig vorankommen wollen, möchten wir uns schon einmal vor Beginn der Lehrveranstaltungen informieren, wie wir uns vorbereiten können”, erklärte Mouad.

Die Frau schmunzelte: „Na, dann sind Sie ja die ersten Bewerber in diesem Semester, die bei mir vorstellig werden. Ein besonders großes Interesse scheint die Geologie ja bei den Studenten nicht zu haben. Ich schau mal, ob der Professor Zeit für Sie hat.”

Sie hatte dies kaum ausgesprochen, da wurde plötzlich die Tür zum Nachbarbüro aufgestoßen. Ein aus dunkelbraunen Augen streng blickender, hochgewachsener Mann mit Schnäuzer und gestutztem Kinnbart trat auf sie zu, vorschriftsmäßig in einen dunkelblauen Zweireiher, graue Flanellhose, weißes Hemd und weinrote Krawatte gekleidet.

„Aha”, meinte er knapp, wobei seine etwas piepsige Fistelstimme so gar nicht zum selbstbewussten Auftreten dieses Mannes passte.

„Seit langer Zeit mal wieder Studenten, die schon vorab mit ihrem Dozenten in Kontakt treten wollen. Ich bin Professor Mansouri”, stellte er sich vor, „und Sie sind... ?”

„Mouad Bribire. Und dies hier ist Ahmad Johar.”

Sie schüttelten einander die Hände.

„Nun, Neugierde sollte man nicht unbefriedigt lassen. Ich zeige Ihnen die wichtigsten Einrichtungen dieses Instituts. Bitte folgen Sie mir.”

Sie verließen das Vorzimmer, betraten den Rundlauf und bogen diesmal aber nach rechts ab. Der Professor öffnete eine Tür, hinter der sich ein weiterer, lichtdurchfluteter Raum befand. Sie begaben sich in einen etwa zwei Meter breiten Mittelgang, von dem über drei Meter hohe Regalreihen abzweigten, die in regelmäßigen Abständen den Blick auf schmale, dunkle, mit Büchern vollgestopfte Gänge freigaben. Rollbare Metallleitern ermöglichten es den Besuchern, auch bis an die ganz oben gelagerten Buchbestände heranzukommen.

„Dies ist die Bibliothek. Ich erwarte von meinen Studenten, dass sie sich stets auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes befinden und somit gut informiert sind. Schon ganz am Anfang der Ausbildung sollten Sie wissen, über welche wichtigsten wissenschaftlichen Monografien, Magazine und sonstigen Nachschlagewerke dieses Institut verfügt. Sie sollten stets auch auf der Höhe des aktuellen Forschungsstands sein. Eine Teilnahme an meinen geologischen Exkursionen in den Libanon, möglicherweise auch, abhängig von der politischen Lage, nach Syrien und Jordanien, ist verpflichtend.

Ich schätze übrigens besonders fachübergreifendes Wissen. Deshalb sollten Sie sich schon vorab einmal in die jeweils letzten Jahrgänge der wissenschaftlichen Magazine Nature und Science einarbeiten, die auch in elektronischer Form in den Rechnerarbeitsräumen eingesehen werden können. Dieses Studium dient als Basis für Ihre - hoffentlich erfolgreiche - wissenschaftliche Laufbahn; es wird Ihnen daher sehr viel abverlangt werden. Aktualität, interdisziplinäres Arbeiten und Kontakte zu den weltweit führenden geologischen Institutionen sind Kernvoraussetzungen für das Arbeiten auf höchstem fachlichen Niveau.”

Der Professor sah dabei seine beiden künftigen Studenten durchdringend an, um ihre Reaktionen zu prüfen und durch diesen ersten Gesamteindruck Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens ziehen zu können. Mouad sah ihn etwas verunsichert an und murmelte ein leises „o.k.”. Ahmad hingegen zeigte keinerlei Reaktionen und blickte den Professor sorgsam abschätzend an.

„Sie sollten übrigens, falls Sie Fragen haben, jederzeit zu mir kommen, sofern ich im Hause erreichbar bin. Darüber hinaus müssen Sie meine Vorlesung besuchen; nur wenn Prüfungen oder Exkursionen im zweiten Fach abgehalten werden, dürfen Sie meinen Veranstaltungen ausnahmsweise fernbleiben. Aber stehen Sie bitte in ständigem Kontakt mit mir, sonst könnte es nämlich Ärger geben. Ich scheue nicht davor zurück, Studenten bei unbotmäßigem Verhalten von der Universität zu verweisen.”

Beide nickten.

In diesem Augenblick klingelte das Mobiltelefon des Professors.

„Ja, in Ordnung. Ich komme sofort.”

Er wandte sich wieder den beiden zu.

„Ich muss dringend mit jemandem etwas besprechen, das keinen Aufschub duldet. Sehen Sie sich ruhig in den hier ausliegenden Fachzeitschriften und Monographien um. Ich komme gleich wieder und führe Sie dann weiter im Institut herum.”

Ahmad ging zielstrebig zu einem, durch farbliche Markierungen besonders gekennzeichneten Buchstandort und blätterte rasch einige der dort präsentierten geologischen Grundlagenwerke durch. Anschließend wühlte er scheinbar gelangweilt in verschiedenen Zeitschriften herum, ging dann die Buchreihen entlang, entnahm hie und da eine Monographie, überflog rasch deren Seiten und stellte sie danach wieder an ihren Platz zurück. Mouad hingegen lief erst einmal an den Regalreihen entlang und versuchte, zunächst das Ordnungsprinzip der Buchbestände zu begreifen. Nach wenigen Minuten setzte sich Ahmad an einen Rechnerarbeitsplatz. Mouad wunderte sich über die enorme Geschwindigkeit, mit der Knuds Finger über die Tastatur flogen.

Nach einer knappen Stunde kehrte Professor Mansouri zurück und setzte seine Führung fort.

Sie erblickten Labore, vollgestopft mit Messgeräten und Versuchsapparaturen und wurden dabei zugleich kurz von ihm in deren Funktionsweise eingewiesen. Auf ihrem weiteren Rundgang stellte der Dozent Ahmad und Mouad zudem zwei Mitarbeitern des Lehrstuhls vor. Sie erfuhren, dass der Hochschullehrer ein Faible für Edel- und Halbedelsteine hatte und ferner die Auswirkungen tektonischer Spannungen entlang des geologischen Grabenbruchs untersuchte, der durch das Tote Meer lief und seine Fortsetzung im Bekaa Tal hatte.

„So”, meinte er schließlich nach einer weiteren Stunde zum Abschluss der Tour, „ich hoffe, Ihr Interesse für dieses Forschungsgebiet ein wenig geweckt zu haben. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich jederzeit engagiert mit dieser Materie auseinandersetzen.”

„Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit für uns genommen haben.”

„Nun, das gehört zu meinen Aufgaben und übrigens: Für konstruktive Kritik habe ich immer ein offenes Ohr.”

„Das Institut für Journalistik und Medien befindet sich im vierten Stockwerk dieses Gebäudes. Sollen wir da auch noch vorbeischauen?”, fragte Mouad etwas unschlüssig seinen Kommilitonen, noch ganz unter dem Eindruck der Informationsflut, die sie soeben überspült hatte.

„Nur zu. Wenn die Motivation des Dozenten in diesem Fachbereich, sich um seine zukünftigen Studenten intensiv zu kümmern, auch so groß wie diejenige des Lehrstuhlinhabers der geologischen Fakultät ist, wird dies sicherlich eine interessante und lehrreiche Zeit.”

Es wurde unangenehm laut, als sie den Rundlauf - zwei Ebenen oberhalb des geologischen Fachbereichs - erreichten. Viele Studenten probierten, sich bereits auf den Fluren in die auf lose Blätter gedruckten Teilnehmerlisten für Praktika, Exkursionen und Seminare einzutragen.

Völlig entgeistert waren die beiden, als sie dem Grund für den Lärm gewahr wurden - chaotischem Gedränge vor dem Zimmer des zuständigen Dozenten, eines ,Herrn Dr. Schulte’, wie die Vorzimmerdame immer wieder betonte, aus Deutschland.

Eine barsche, kommandierende Stimme fauchte:

„Tragen Sie sich gefälligst heute hier in die Listen ein und kommen Sie in der nächsten Woche zu meiner Eröffnungsvorlesung. Dann werden Sie in Gruppen eingeteilt. Denn den besten Journalismus lernt man vor Ort. Live erlebte Situationen sind das A und O für einen guten Reporter.”

Dieser Kasernenhofton gehörte zu einem dicken Mann, der fast schon wie ein Catcher aussah. Er hatte blaue Augen, abwärts herabhängende Mundwinkel, einen schwarzen, nach unten abgewinkelten Oberlippenbart, der seine unangenehme Ausstrahlung noch verstärkte und eine dicke Knubbelnase. Der Kopf war von Hektik und Anstrengung hochrot verfärbt. Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn. Sein khakifarbenes Hemd spannte so stark über den Bauch, dass die Knöpfe beinahe abplatzten.

„Ich glaube, wir kommen für nähere Informationen erst morgen wieder”, meinte Mouad enttäuscht, als er sich das Durcheinander und die unfreundliche Behandlung der Studenten eine Weile angesehen hatte.

Nachdem die beiden es geschafft hatten, sich durch das Gewühl zum Aushang im Vorzimmer des Dozenten durchzukämpfen, um sich dort so ziemlich als Letzte der Teilnehmer einzutragen, machten sie sich auf den Rückweg.

„Dieser Typ war das Musterbeispiel eines hässlichen Deutschen”, bemerkte Mouad. „So eine arrogante, selbstherrliche Figur, die offensichtlich keine Anstalten macht, sich für die Belange der Studenten zu interessieren. Wieso läuft solch eine Niete an dieser renommierten Institution frei herum?”

,Der ist aber sehr rasch mit seinen Urteilen’, dachte Ahmad. ,Ich vermutete zwar auch das Gleiche, aber vielleicht sollte man Menschen nicht ganz so schnell und für Mouad offensichtlich irreversibel in moralische Schubladen einsortieren.’

Aber eine Bemerkung konnte er sich dennoch nicht verkneifen:

„Ich wette mit dir”, entgegnete Ahmad nachdenklich, nachdem er das Verhalten des neuen Dozenten eine Weile scheinbar teilnahmslos beobachtet hatte und ohne auf die von seinem zukünftigen Kommilitonen zuletzt gestellte Frage präzise einzugehen, „dass, sobald es irgendwelche Probleme in diesem Land gibt, er der Erste sein wird, der auf gepackten Koffern sitzt und das Weite sucht.”

Sie schlenderten durch die ausgedehnten botanischen Gärten der Universität, die nach dem Vorbild der Kew Gardens in London angelegt worden waren. Jahrhundertealte Zypressen und Zedern boten immer wieder denjenigen Besuchern schattenspendende Ruheinseln, die der stechenden Sonne abgeneigt waren. Stets aufs Neue standen sie vor ihnen unbekannten Pflanzen und lasen interessiert die auf kleinen, metallischen Schildchen verfassten Erklärungen über Name, Herkunft, Verbreitungsgebiet und Besonderheiten dieser botanischen Raritäten.

„Komm, lass uns in die City gehen und was essen”, meinte Mouad nach einiger Zeit, „ich habe nämlich allmählich Hunger.”

Die Universität lag nur wenige 100 Meter vom Rande des Beiruter Stadtzentrums entfernt. Bald fanden sie sich im Gewirr der Straßen und Plätze der gerade erst neu aufgebauten, zugleich jedoch ziemlich steril wirkenden modernen Innenstadtarchitektur wieder. In der Nähe des Parlamentsgebäudes entdeckten sie dennoch ein gemütliches Café, das aus einer anderen Epoche zu stammen schien: Es herrschte eine entspannte Atmosphäre, fernab von der Hektik des Alltags. Unter den schattigen Arkaden eines ehemaligen Stadtpalais nahmen sie schließlich erleichtert Platz.

Der Kurator Band 1

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