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Studentenbude

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Weit war es für gewöhnliche Fußgänger eigentlich nicht. In knapp 20 Minuten würde man in die etwas ruhigere Seitenstraße gelangen, in der Ahmad wohnte: Die Rue Maarad, Nummer 8, fünfter Stock. Aber mit einem völlig ausgepowerten Mouad auf dem Rücken, der die ganze Zeit leise vor sich hin stöhnte, war es für ihn ein Weg, der ihn bis an die Grenze seiner Belastbarkeit führte. Dazu kam, dass er immer wieder obdachlosen Flüchtlingen und bettelnden Kindern ausweichen musste.

,Das Überleben in diesem Teil der Welt ist schon für Minderjährige extrem hart!’, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf.

Er verdrängte diesen Gedanken fast augenblicklich, da er es nicht wagen konnte, eine Pause einzulegen. Seine Sorge war einfach zu groß, in irgendwelche Gespräche mit Passanten verwickelt zu werden, die sich entlang ihres Weges immer wieder nach ihnen umdrehten und zu tuscheln begannen.

Endlich bog er in die Straße ein. Rechts und links verwahrloste Art-Nouveau-Villen, an deren Fassaden sich großflächig graubrauner Putz abgelöst hatte. Durch eine verschnörkelte Haustür aus der Belle Epoque, die glücklicherweise offenstand, stolperte Ahmad in einen Eingangsbereich. Dieser war mit farbigen Wandfliesen ausgekleidet, die weit geöffnete Seerosen über geschwungenen Wasserranken mit überdimensionierten Blättern zeigten. Eine enge Holztreppe, die von einer üppigen, aus Mahagoni geschnitzten Jugendstilschönheit bewacht wurde, führte nach oben. Erschöpft erreichte Ahmad endlich seine Wohnung unter dem Dach.

Durch die halbgeöffneten Dachfenster drang das Sirenengeheul von Rettungs- und Polizeifahrzeugen nach oben. Ahmad merkte auf: Sogar eine Personenbeschreibung, die auf ihn zutreffen könnte, wurde durch Lautsprecherdurchsagen verbreitet.

Als Mouad erwachte, dämmerte es bereits. Durch ein schräg verlaufendes Gaubenfenster, das sich nach Westen öffnete, fiel rötliches Licht der untergehenden Sonne und übergoss das Zimmer mit zarten Pastelltönen. Er erkannte, als er seinen Kopf drehte, weitere Umrisse des spartanisch eingerichteten Raumes: Bett, Schrank, zwei Stühle und Tisch, auf dem sich ein Rechner mit LED-Schirm befand. Gegenüber dem Eingang erblickte er eine Kochnische mit zweiflammigem Gasöfchen und einen Kühlschrank. Dusche und Toilette befanden sich auf dem obersten Absatz im Treppenhaus - außerhalb der Wohnung.

Ahmad stützte sich mit beiden Ellenbogen auf dem breiten Sims, der unter dem schrägen Dachfenster verlief. Er blickte in den tiefroten Ball der Sonne, dessen Rand soeben in den silbrig-blauen Fluten des Mittelmeeres versank.

Er wandte sich um. Mouad stöhnte leise. Die kreislaufstabilisierende Injektion, die Ahmad ihm gestern Abend nach ihrer Flucht vom Ort der Terrorattacke verabreicht hatte, zeigte endlich Wirkung: Mouad erwachte allmählich aus seinem Erschöpfungsschlaf.

„Wie geht es dir?”, fragte er sanft, während er sich vor ihn auf einen der beiden Stühle setzte.

„Ich leide immer noch unter den furchtbaren Bildern des gestrigen Anschlags. In meinem bisherigen Leben habe ich so etwas noch niemals mitgemacht. Aber ich kann wenigstens wieder halbwegs klar denken.”

Ahmad blickte in die fast schwarzen Augen Mouads, die ihn aufmerksam musterten. Er verspürte keine Spur von Arroganz mehr in diesem Blick. Nur noch Dankbarkeit und Wärme.

Mouad ergriff seine Hand: „Das, was du für mich getan hast, werde ich dir nie vergessen.”

Ahmad setzte sich zu Mouad auf die Bettkante, zog ihn hoch und umarmte ihn.

„Danke”, flüsterte dieser.

Ahmad erkannte, dass Mouad offensichtlich in seinem Innersten eine sehr mitfühlende Art hatte. Die liebevollen Blicke, die beide miteinander austauschten, die menschliche Wärme, die er im Moment ausstrahlte und sein ruhiges, ausgeglichenes Wesen, ließen Ahmads Zuneigung gegenüber Mouad allmählich wachsen.

Ahmad dachte an den ersten Augenblick zurück, an dem sie sich kennengelernt hatten: Das Leuchten in Mouads Augen, der zärtliche Blick - dies würde immer in seinem Herzen sein.

Mouad gab sich einen Ruck.

„Ich denke, ich gebe mal meinen Eltern Bescheid, wo ich stecke.” Er griff nach seinem Handy, das auf dem schlichten Holztisch neben dem Bett lag und tippte eine Nummer ein.

„Welche Hausnummer und welche Straße ist das hier? Ich habe nicht registriert, wohin wir gelaufen sind.”

Er nickte kurz, als Ahmad ihm die gewünschten Informationen gab.

Mouad wartete, bis die Verbindung stand und führte bald auf arabisch ein lebhaftes Gespräch mit seinem Vater, dem offensichtlich nicht ganz wohl bei dem Gedanken war, dass sein Sohn bei einem Fremden übernachtete. Weil Mouad mehr als einen Tag lang nichts von sich hatte hören lassen, war Wahid Bribire über sein Verhalten ziemlich aufgebracht. Aber angesichts der vergangenen Ereignisse und des noch bestehenden Risikos auf Beiruts Straßen willigte er schließlich doch ein. Er erwartete jedoch, dass sein Sohn am nächsten Tag sofort nach dem Ende der offiziellen Begrüßungsfeier der Studierenden, die auf Grund einer schweren Erkrankung des Rektors um über drei Monate verschoben worden war, nach Hause käme. Nicht, weil er ihn in seiner Freiheit einschränken wollte. Aber er rechnete fest damit, dass sich die politische Lage in Beirut in nächster Zeit erheblich zuspitzen würde.

Nachdem das Gespräch beendet war, sagte Mouad, wobei er vernehmbar einen Seufzer der Erleichterung ausstieß: „Das ist ja besser gelaufen, als ich dachte.”

Ahmad nickte zustimmend, da er die Nuancen in Mouads Stimmführung genau registriert hatte und dabei feststellen musste, dass sich sein Gegenüber möglicherweise zu große Kopfschmerzen über die mögliche Reaktion seines Vaters gemacht hatte.

Mouad warf seinem Gegenüber einen nachdenklichen Blick zu.

„Auch wenn ich unter Schock stand, habe ich die merkwürdige Situation heute Mittag nicht vergessen: Du hast mir die Fragen, die ich dir unmittelbar nach dem Anschlag gestellt hatte, immer noch nicht beantwortet. Warum leben wir beide noch, während um uns herum fast alles Leben ausgelöscht wurde? Und was ist aus der Kamera geworden? Ist die zerstört worden?”

Ahmad antwortete nicht sofort darauf. Er spürte, dass Mouad ihn mit seinen Blicken durchbohrte, um hinter die Geheimnisse der für ihn unerklärlichen Geschehnisse zu kommen.

,Dieser Mann ist kein Dummkopf. Aber noch ist es viel zu früh, ihn in nähere Details meines Aufenthalts in diesem Land einzuweihen’, dachte er.

„Die letzte Frage ist besonders leicht zu beantworten. Das Gerät habe ich augenblicklich weggeschleudert, als ich mich auf dich warf.”

Für einen Moment schien es Mouad, als müsste Ahmad erst genau darüber nachdenken, was er sagen sollte.

„Du musst dich augenblicklich damit zufriedengeben, was ich bereits im Café Éric Kayser dir gegenüber erwähnt hatte: Ich bin kein Terrorist und stehe auf keiner Seite dieses Machtkampfes. Ich beobachte und analysiere lediglich. Und ich gehöre noch nicht einmal hierher.”

Mouad blickte ihn erstaunt - zugleich fragend an.

Ahmad ging jedoch auf diese letzte Bemerkung nicht weiter ein.

„Unsere Freundschaft muss sich doch erst einmal in Ruhe entwickeln. Du solltest dich zudem glücklich schätzen, dass wir beide heute durch eine schicksalhafte Fügung dem Tode entronnen sind. Ich verspreche dir: Ich werde dich peu á peu an meinem Leben teilhaben lassen. Aber zunächst müssen wir offensichtlich erst einmal lernen, unsere beiderseitigen Verhaltensweisen und Empfindlichkeiten näher zu begreifen.”

Mouad schien mit diesen Ausführungen nicht besonders glücklich zu sein, sagte aber weiter nichts. Er blickte sich suchend im Zimmer um. Ahmad schien seine Gedanken zu erraten:

„Du kannst im Bett schlafen. Ich verbringe die Nacht lieber auf dem Fußboden. Eine Gewohnheit aus dem Heim, in dem es nur Holzpritschen gab”, meinte er schmunzelnd.

Mouad nickte. Er war zu erschöpft, um Ahmad jetzt noch weitere Informationen zu entlocken.

„Willst du duschen?”, fuhr dieser fort. „Im Moment ist die Wohnung unter mir nicht vermietet. Handtücher, Seife und Haarwaschmittel findest du in einer Mauernische neben der Kabinentür. Du kannst auch einen Pyjama für die Nacht von mir haben.”

Ahmad ging zum Kleiderschrank und warf Mouad einen sorgfältig gefalteten Schlafanzug zu.

„Danke. Du bist sehr freundlich.”

Mouad kletterte die Stufen hinab und verschwand hinter der Badezimmertür. Das Geräusch fließenden Wassers war zu hören.

Nach ungefähr zehn Minuten vernahm Ahmad plötzlich eine Stimme in seinem Ohr. Er hatte die Implantate ganz vergessen, die er zu Beginn seiner Mission erhalten hatte. Seine Schwester Astrid meldete sich:

„Hallo Knud!”

Er stutzte über diesen Namen. Aber blitzartig erinnerte er sich, dass Ahmad ja nur sein Tarnname im Rahmen dieser Mission war.

„Wir haben starke Anhaltspunkte dafür, dass die politischen Spannungen in der Region rasch zunehmen werden”, klärte ihn seine Schwester über die aktuelle Lage auf und fuhr fort: „Der Iran hat seine atomaren Waffensysteme in den letzten Jahren auch dank chinesischer und sogar deutscher Hilfe erheblich modernisieren können. Jedoch hat sich westlich davon, in Richtung Irak und Syrien eine Failed Region entwickelt, die einer Expansion des schiitisch-iranischen Machtbereiches im Wege steht. Das gelang der IS umso leichter, weil beide Staaten von innen her sehr geschwächt sind - begünstigt durch jahrzehntelange innerstaatliche Machtkämpfe auf allen Ebenen. Wir wissen darüber hinaus jedoch von unseren amerikanischen Kundschaftern, dass die USA seit einigen Wochen verstärkt Truppen zusammenziehen, um der direkten Bedrohung Israels entgegen zu wirken. Israel hat intern schon seinen Mossad-Mordkommandos befohlen, führende Vertreter der Hisbollah und der libanesischen Regierung zu liquidieren, die mit dem pro-iranischen Regime in Damaskus zusammenarbeiten und heimlich die Teilmobilmachung angeordnet. Außerdem gibt es Anzeichen dafür, dass lokale Kommandos, von Nasrallah ausgesandt, die Bevölkerung aufwiegeln sollen, in dem sie so genannte ,spontane Demonstrationen des Volkszorns’ organisieren, um die IS davon abzuhalten, die politische Kontrolle im Libanon zu übernehmen.

Auch der Iran ist mit in Vierergruppen organisierten Kommandos unterwegs, die sich von den Pasdaran bzw. Sepah und den Basidsch-e Mostaz’afin rekrutieren. Sie haben das Ziel, den libanesischen Staat zu zerschlagen. Damit destabilisiert sich die Situation in der Levante weiter. Und was das Kalifat außer grausamem Terror zur Durchsetzung einer steinzeitlich-fundamentalistischen Auslegung der Korans nun langfristig genau will... Sieht inzwischen für mich danach aus, dass diese Organisation als ein Sammelbecken für alle enttäuschten, frustrierten und wütenden Moslems fungiert, die in einer fundamentalistischen Auslegung des heiligen Buches ihr Heil suchen. Auf jeden Fall wird dieses zum Teil von langer Hand vorbereitete machtpolitische Chaos der Levante mit absoluter Sicherheit den Rest geben.”

„Das heißt, es gibt schon konkrete Umsturzpläne?”, fragte Ahmad sorgenvoll.

„Ja, aber von mehreren politischen Gruppierungen. Du musst daher ab sofort ganz besonders vorsichtig sein. Es wimmelt, wie schon angedeutet, von Spitzeln.”

„Ich weiß. Das bedeutet, dass meine monatelangen Recherchen und unsere umfangreichen Vorarbeiten völlig zu Recht stattgefunden haben. Wir sind vor Wochen fast in einen solchen Menschenauflauf hineingeraten, aber von entgegenkommenden Passanten rechtzeitig gewarnt worden. Zudem haben wir gerade mit knapper Not einen Bombenanschlag auf den libanesischen Premier überlebt.”

Ein heftiges Zischen war zu hören - Astrid musste tief Luft holen - diese Nachricht erst einmal verdauen.

„Was sagst du da? Und wer, bitte, ist wir?”, fragte Astrid.

Ahmad schilderte in knappen Sätzen, was vorgefallen war.

„Deine Tat war absolut ehrenvoll und menschlich. Aber setze dich bitte künftig nicht wieder solchen Gefahren aus. Dass die politische Lage inzwischen eine derartige Brisanz erreicht hat, hast du in deinen Briefings bislang mit keinem Wort erwähnt und war womöglich auch für dich nicht absehbar.”

„Ich ahnte es damals bereits, Astrid. Aber ich wollte dich nicht beunruhigen. Deshalb habe ich dich über diese Situation auch so lange im Unklaren gelassen, um nicht den Militärs und Geheimdiensten Gelegenheit zu geben, unsere Kommunikationssignale zu entdecken oder schlimmer noch, sie irgendwann zu entschlüsseln.”

„Und was ist mit diesem wir?”, bohrte Astrid nach.

„Schwester, ich glaube, ich bin verliebt. Ich habe jemanden kennen gelernt.”

„Bist du wahnsinnig, dich in einer solchen Situation einer derartigen Gefahr auszusetzen? Du kennst ihn doch gar nicht. Außerdem gilt auch für dich die Allgemeine Charta der Föderation, die fordert, sich nicht mit Menschen einzulassen, die einen solch enormen kulturellen Rückstand gegenüber unserem Zivilisationsniveau haben.”

„Du vergisst, mit wem du sprichst”, antwortete Knud alias Ahmad streng. „Ich habe doch viel mehr Menschenkenntnis, als du dir offenbar auch nur im Entferntesten vorstellen kannst. Und ich verspüre keine Lust, auf ewig mein Eremitendasein auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen fortzusetzen.”

„Entschuldige meine Einmischung, aber ich bin sehr besorgt um dich. Ich muss dir jedoch, wenn auch nur widerstrebend, Recht geben. Schau ihn dir bitte genau an. Du weißt, was von der Mission abhängt.”

Wie um sich zu rechtfertigen entgegnete Ahmad: „Ich habe mich immer für die Föderation mit all meiner Kraft und all meinen Fähigkeiten eingesetzt - werde dies solange ich lebe auch weiter tun. Aber ich möchte endlich auch einmal selbst eine derartige persönliche Erfahrung machen.”

Ahmad wechselte ganz bewusst das Thema. Er wollte nicht, dass Mouad von diesem Gespräch irgend etwas mitbekam.

„Ich habe in einer Woche, um Mitternacht, noch ein Treffen mit einem unserer Kundschafter in den Redaktionsräumen der Zeitung ,The Daily Star’. Ich hoffe, da mehr - insbesondere über die geheimen Aktivitäten der Hisbollah - zu erfahren. Aber auch die anderen Spieler in diesem nahöstlichen Machtpoker werden im Zentrum der Aussprache stehen.”

„In Ordnung. Aber pass auf, dass dein Lover von dieser hochgeheimen Zusammenkunft nichts mitbekommt.”

„Übrigens”, führte Knud ruhig und gelassen aus - gewissermaßen als ein Beruhigungsdragee für seine besorgte Schwester. „Ich rechne außerdem damit, dass ich über meinen Freund Mouad einen weiteren Zugang zur Intelligenzija dieses Landes erhalte. Sein Vater ist Professor für Physik an der Amerikanischen Universität in Beirut. Ich denke mal, dass ich ihm und dem Rest der Familie vorgestellt werde. Hoffentlich erfahre ich dann mehr über die Denkweise der üblicherweise gegenüber Fremden sehr zurückhaltend auftretenden gebildeten Kreise in diesem Land.”

„Du bist immer für Überraschungen gut”, kommentierte seine Schwester.

„Pschscht. Mouad kommt zurück. Ich lasse später wieder von mir hören.”

Es klopfte an der Tür und ein nach Limonen duftender Mouad, in einen geblümten, spießig wirkenden Schlafanzug gekleidet, schlüpfte zurück in die Wohnung. Er zog eine Tropfenspur hinter sich her.

„Weißt du, was ein Handtuch ist?”, fragte Ahmad lachend.

„Ähmm..., ja, aber ich hatte es eilig, wieder zurückzukommen. Ich bin nämlich müde. Morgen geht schließlich das Studium weiter und ich will ausgeschlafen sein.”

„Na gut, dann lass’ dich noch ein wenig an der Luft trocknen, bevor du dich hinlegst. Ich mache mich dann auch mal eben sauber.”

Ahmad nahm sich eine olivfarbene Militärhose nebst farblich passendem Hemd aus dem Schrank, schnappte sich noch Unterwäsche und verschwand mit frischem Handtuch und Badeschlappen in Richtung Dusche. Mouad schaute sich derweil in der Wohnung um. Ihn wunderte, dass offensichtlich sein Freund keinerlei Bücher sein Eigen nannte, keine Blue Ray Discs oder DVD’s zu erkennen waren und er auch keinen Fernseher besaß.

,Hat er denn keine Interessen? Wie erhält er seine aktuellen Informationen?’, dachte er verwirrt.

Alles sehr merkwürdig, denn viel hatte er nicht von sich erzählt. Auch seine Kindheitsgeschichte wirkte nicht sonderlich glaubwürdig. Sein eigener Vater hatte zwar intensiv mit ihm, als er Jugendlicher war, den Libanon bereist. Aber von einem Heim in Tyros hatte er noch nie etwas gehört.

,Und dann dieses offensichtliche Selbstgespräch, dass ich zum Teil soeben mitbekommen habe’, dachte Mouad.

Zwei innere Stimmen traten in ihm eine heftige Debatte los:

,Das ist ja so etwas von merkwürdig’, meinte die nachdenkliche Stimme.

,Wem erzählt er solche hochbrisanten Details? Und wer überwacht ihn?’, fragte die andere bohrend.

,Irgendjemand scheint sich ja ziemliche Sorgen um ihn zu machen.’

,Hat er mit diesem Irgendjemand schon ein Verhältnis?’, wurde misstrauisch nachgefragt.

Die nachdenkliche Stimme verstummte. Es wurde weiter hinterfragt:

,Trifft er sich mit diesem Unbekannten bei Beiruts berühmtester englischsprachiger Tageszeitung?’

,Und was meinte er mit dem Satz: „...enormen kulturellen Rückstand gegenüber unserem Zivilisationsniveau?” ’

,So denken doch nur gewisse Kreise im Westen über uns angeblich so unzivilisierte Araber.’

Die nachdenkliche Fraktion meldete sich abermals:

,Aber Ahmad macht nicht den Eindruck, als würde er Moslems verachten oder sich über Libanesen lustig machen.’

,Und wenn er mich hassen würde?’, kam es scharf zurück.

,Dann hätte er bestimmt nicht dein Leben gerettet.’

Die Stimmen verstummten.

,Nun ja, man wird sehen, was mich in der Zukunft erwartet’, dachte er.

Er legte sich auf das hart gepolsterte Bett und starrte an die Decke.

,Ob ich meine Gefühle gegenüber ihm schon zeigen kann? Auch wenn an seinen Erzählungen so manches nicht stimmig scheint, so ist er doch im Innersten offenbar eine herzensgute, treue Seele, obwohl...’

Ahmad kam zurück, in seine Militäruniform gekleidet. Er ging zum Kleiderschrank und holte sich einen Feldrucksack heraus, legte ihn auf den Boden und rollte sich in ihn ein.

„Schlaf gut, Mouad. Bis morgen früh.”

„Gute Nacht.”

Ahmad konnte nicht einschlafen. Die Neuigkeiten, die ihm seine Schwester mitgeteilt hatte, deckten sich mit den Informationen, die er über das Internet und über weitere geheime Kommunikationskanäle der Föderation erhalten hatte. Es herrschte im politischen und akademischen Mainstream wissenschaftlicher Konsens darüber, dass die Menschheit höchstwahrscheinlich bereits in naher Zukunft auf eine globale kriegerische Auseinandersetzung zusteuern würde. Sogar die manchmal sehr kontrovers agierenden Think-Tanks der führenden föderalen Universitäten kamen in dieser Frage alle zu dem gleichen beunruhigenden Resultat.

Aber als noch verstörender empfand Ahmad die Nachricht, dass die australische Regierung selbst nicht mehr an ein Fortbestehen der Menschheit zu glauben schien. Nach Aussagen von Kundschaftern waren die besten Wissenschaftler Terras eingeladen worden, um eine Raumsonde zu bauen, die alles Wissen, alle zivilisatorischen Errungenschaften, über die die Menschheit verfügte, für sehr lange Zeit konservieren sollte: Als letzte Erinnerung an eine Zivilisation, die gerade im Begriff war, sich selbst zu zerstören. Um dann möglicherweise als technologische Keimzelle einer fernen, hoffentlich verantwortlicher agierenden Zivilisation zu dienen.

Und dann dachte Ahmad an die Unsummen Geld, die in der Vergangenheit auf diesem Planeten vergeudet wurden.

,Wenn die Menschen doch beispielsweise bloß begreifen würden, dass das Ziel einer gesicherten Energieversorgung finanziell und technisch auch auf der Erde kein unüberwindliches Problem darstellt und man in Folge dessen alle wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten mittel- bis langfristig weltweit in den Griff bekäme’, dachte er.

Mouad lag ebenfalls wach und kämpfte immer noch mit sich, ob er Ahmad seine Gefühle ihm gegenüber eingestehen sollte. Sein Zögern vor dem inneren Entscheidungstribunal rechtfertigte er durch die in seinen Augen berechtigte Sorge, dass seine Homosexualität öffentlich werden und er dann möglicherweise erneut Opfer von Attacken intoleranter oder fanatisch-religiöser Studenten sein könnte. Er trug nämlich schwer an seinen sehr negativen Erfahrungen zu Toleranz und Mitmenschlichkeit während seiner Jugend. Schon die Themen vorehelicher Sex sowie die Rollenverteilung von Mann und Frau in der Gesellschaft hatten damals viele archaische Ansichten bei seinen Mitmenschen zu Tage gefördert. So zum Beispiel, dass Frauen beim Akt keine Lust verspüren würden, grundsätzlich keine Ausbildung bräuchten und sich stets dem Willen des Mannes unterzuordnen hätten.

Er begann zu grübeln: Die Reaktion von seinem Vater auf die Tatsache, dass er diese Nacht bei einem Kommilitonen verbringen würde, war nicht so ablehnend, wie er gedacht hatte. Das hatte ihn am meisten im Verlauf des zurückliegenden Telefongesprächs erstaunt. Dieser Gedanke beruhigte ihn jedoch zugleich ungemein.

Ihm fielen die Augen zu.

Plötzlich umgab ihn sengend weißes Licht, das sich in gelb und dann in ein schmutzig Rot veränderte. Schreie von sterbenden Menschen umgaben ihn. Eine Glut kroch durch seinen Körper. Er verspürte irrsinnige Schmerzen, viel schlimmer als die während der Messerattacke in seiner Schulzeit. Er begann zu wimmern, zu stöhnen, versuchte krampfhaft, wegzukommen - aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Quälend langsam fraß sich das Feuer weiter durch seinen Leib, es schien jede einzelne Faser seines Körpers lichterloh in Brand zu setzen. Er schrie aus Leibeskräften, brüllte, so laut er konnte. Er versuchte, seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren, um dem Inferno zu entrinnen...

Es gelang ihm nicht. Todesangst überwältigte ihn.

Ein furchtbarer Schlag durchfuhr ihn plötzlich, er wurde hin und her gerüttelt...

...und blickte in Ahmads schemenhaft beleuchtetes Gesicht. Nur eine Nachttischlampe spendete trübes Licht.

„Mouad”, flüsterte dieser leise, „lass den Albtraum zurück. Ich bin doch bei dir.”

Schweißgebadet lag er da - völlig erschöpft. Angstkälte kroch in ihm hoch.

„Was war denn das?”, hauchte Mouad mit scheinbar letzter Kraft.

„Dein Unterbewusstsein versucht, mit der grässlichen Stresssituation, die du gestern durchgemacht hast, fertig zu werden. Das ist häufig mit schauerlichen Fantasierereien in Träumen der Betroffenen verbunden.”

„Ich kann aber nicht weiter schlafen”, flehte Mouad mit bebender Stimme. „Ich möchte die Situation nicht noch einmal durchmachen müssen!”

„Du kannst deinem Gehirn aber nicht befehlen, mit der Verarbeitung des entsetzlichen Geschehnis aufzuhören.”

„Was soll ich denn tun?”, raunte Mouad. Seine Verzweiflung wirkte beinahe körperlich.

„Ich könnte mich, wenn du es gestattest, neben dich legen und dich einfach nur in den Arm nehmen. Dann spürst du mich vielleicht auch im Schlaf und verlierst deine Furcht.”

Mouad dachte nach. Er fühlte sich so hilflos - und sehnte sich zugleich nach Geborgenheit.

„Komm bitte zu mir”, meinte er zögernd. Er blickte in Ahmads Gesicht, als dieser sich neben ihm ins Bett legte.

„Ich habe eigentlich noch nicht richtig geschlafen”, meinte Mouad nach einer Weile.

„Ich weiß, Mouad. Ich auch nicht.”

Ahmad schaltete das Licht aus und ergriff seine Hand.

„Worüber denkst du nach?”, begann Mouad.

Er stützte sich auf seinen Ellbogen und sah halb aufgerichtet auf Ahmad hinüber, der ihm sein Gesicht zuwandte. Draußen war es inzwischen völlig dunkel. Das Weiße seiner Augen war noch gerade zu erkennen.

„Über viele Dinge: Die Zukunft dieses Landes, was aus unserem Studium wird, sollte das politische Chaos weiter um sich greifen, was man dann aus seinem Leben machen soll...”, antwortete Ahmad im Flüsterton.

„Ich vermisse in diesem Land mehr und mehr die Mitmenschlichkeit - wie du es auch schon mal gegenüber mir geäußert hast. Ich denke in dieser Hinsicht genauso. Mein Vater hat mir schon als Kind erzählt, dass die Menschen früher viel hilfsbereiter waren. Es kam damals einfach nicht immer wieder zu solchen menschenverachtenden Szenen, die ich bis jetzt schon zweimal in meinem Leben miterleben musste. Jeder Mensch ist hier ein Gegner des anderen. Insbesondere, wenn es sich um verschiedene politische oder religiöse Gruppen handelt. Aus dem Verhalten eines jeden Einzelnen, seiner Mimik, kann man dann auch noch obendrein schließen, welche Gedankengänge jemand hat. Ob man tolerant, offen, hartherzig oder verbohrt ist. In manchen Situationen können solche offenen Gefühlsregungen sehr gefährlich werden.”

Allein schon Gedanke daran ließ ihn erneut erschaudern - seine Hand bebte.

„Deshalb laufen hier so viele Menschen mit versteinerten Gesichtern herum und zeigen keinerlei Emotionen.”

Mouad konnte nur noch schemenhaft erkennen, wie Ahmad zustimmend nickte.

„Ja, so ist es - leider.”

Eine seltsame Erwartung lag in der Luft. Mouad schien auf etwas zu warten, während Ahmad überlegte, was sein Freund denn nun hören wollte. Schließlich fasste er einen Entschluss:

„Und ich denke, dass wir jetzt vielleicht auch über das andere Thema reden sollten, was dich und mich sehr persönlich betrifft. Du kannst deine Gefühle mir gegenüber nicht länger verbergen. Als ich dich nämlich das erste Mal sah, hast du so interessiert hinter mir her geguckt, dass das schon sehr auffällig war. Wenn du mal einen Moment die von deinem Vater mit dir eingeübte Tarnvorrichtung ausschaltest, dann hast du mich auch immer mal wieder danach sehr fasziniert angeschaut. Habe ich recht?”

Mouad war überwältigt. Zugleich auch verblüfft von der Offenheit, mit der Ahmad das Thema anging, über die geradezu unglaubliche Fähigkeit, sich in ihn hineinzudenken und über das Vertrauen, dass er gegenüber ihm zeigte. Er merkte, wie etwas Feuchtes über seine Wangen hinablief - unterdrückte jedoch jedes Geräusch.

Ahmad konnte gerade noch in der Dunkelheit erahnen, dass Mouad mit seinen Emotionen kämpfte und fühlte gleichzeitig, wie dieser seinen Körper kaum noch kontrollieren konnte.

„Ich glaube ich weiß, worüber du gerade nachdenkst und was dir vermutlich schon seit geraumer Zeit schlaflose Nächte bereitet”, flüsterte Ahmad...

„Mouad, wir beide sollten uns nicht länger etwas vormachen - indem du beispielsweise deine Gefühle gegenüber mir hinter einer aufgesetzten Maskerade verbirgst. Ich sage es dir deshalb jetzt direkt - ohne jede Umschweife: Ich bin völlig in dich verliebt. Und ich müsste mich schon sehr täuschen, nein, ich bin mir inzwischen vollkommen sicher - du bist es auch in mich.”

Nach einer Weile völliger Stille, die Mouad wie eine kleine Ewigkeit vorkam, so überwältigt war er, fragte Ahmad leise:

„Habe ich mit meinen Ausführungen vielleicht etwa ins Schwarze getroffen?”

„Ja, das hast du. Aber ich kann mit der Situation einfach nicht umgehen - ich habe sogar das Gefühl, wie unter Schock zu stehen!”

Sie schwiegen. Ahmad hatte keinerlei Erfahrungen damit, was er jetzt tun sollte. So eine Situation war in all den Jahren seiner Ausbildung mit keinem Wort erwähnt worden. Das einzige, was immer wieder mit Nachdruck betont worden war, war die Aussage: ,Sehen Sie zu, dass niemals eine vertraute Atmosphäre im Rahmen des Einsatzes mit den Menschen entsteht. Denn dies vernebelt den scharfen Blick auf das Wesentliche.’

Und auch er selbst hätte sich nie im Traum vorstellen können, bei solch einer Mission jemals in solch eine Lage zu geraten. Schließlich reifte in Ahmad ein Entschluss, der mit Sicherheit nicht von der reinen Logik geleitet wurde. Seine Schwester schien ihn besser zu kennen als er sich selbst, denn er hörte sich sagen:

„Wenn du willst, komme ich zu dir ’rüber - ich würde dich jetzt so gerne in den Arm nehmen und deine Nähe spüren. Aber wenn du noch nicht reif bist, um von einem anderen Mann umarmt zu werden, dann bleibe ich da, wo ich bin. Ich will dich nicht überfahren.”

Wieder Schweigen. Nur das stoßweise, fast unhörbare schwere Atmen Mouads drang zu Ahmad herüber. Schließlich schalt sich Ahmad innerlich einen Hasenfuß, kroch näher auf Mouad zu und streichelte ihm dann zärtlich durch seine Haare.

„Wärme mich, bitte”, kam es ganz leise von seinem Libanesen zurück.

Ahmad kuschelte sich an Mouad und schlang seinen linken Arm um dessen Hüfte.

Er küsste Mouad. Ahmad spürte die Unruhe, ja sogar die Nervosität seines Freundes. Aber zugleich fühlte er sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig glücklich.

„Ich will dir noch etwas anvertrauen. Dann wirst du verstehen, warum ich Menschen gegenüber so zurückhaltend bin”, begann Mouad.

Ahmad spürte, wie Mouad sich sehr zusammennehmen musste, um fortzufahren:

„Ich bin mehrmals mit dem Tode bedroht worden, als ich für mehr Toleranz gegenüber Frauen und deren Rechte warb. Einen Jungen, der mit absoluter Sicherheit auch schwul war, hatte ich damals öffentlich verteidigt. Ich bin nur wenige Tage nach dieser Parteinahme mit einem Messer angegriffen worden. Der Durchstich des rechten Lungenflügels und die inneren Verletzungen waren lebensbedrohlich. Erst nach vier Monaten war ich so weit wieder hergestellt, dass ich das Abitur beenden konnte. Bis heute kann ich größere körperliche Anstrengungen nicht lange durchhalten. Die Ärzte sagten damals, dies wird sich auch bis zum Lebensende nicht verbessern. Daher habe ich Angst, erneut an jemanden zu geraten, der mich abartig findet, als nicht lebenswert abstempelt und mich tötet.”

Während er Ahmad weitere Details seiner Schulzeit offenbarte, war seine innere Anspannung fast mit den Händen zu greifen, da die Erinnerungen an diese manchmal sogar lebensbedrohlichen Situationen ihn wieder übermannten.

„Beruhige dich doch. So etwas wird mit absoluter Sicherheit nie wieder vorkommen”, versuchte Ahmad ihm liebevoll zu versprechen, völlig erschüttert über das Grauen, mit dem Mouad als Schüler offensichtlich konfrontiert worden war.

Ahmad war über diesen Bericht so aufgewühlt, ja sogar empört - Mouad erkannte es an dem Klang seiner Stimme: „Ich werde dich jedenfalls niemals wie ein Stück unwertes Leben behandeln.”

Sie blickten nach draußen. Durch das schräge Dachfenster konnten sie einige wenige Sterne erkennen, die es schafften, den Lichtsmog zu durchdringen. Langsam verblassten sie - eine Schicht Cirrostratusbewölkung überzog allmählich den Himmel. Die ersten Ausläufer eines Tiefs im östlichen Mittelmeerraum machten sich bemerkbar.

Sie schmiegten sich noch dichter aneinander. Mouad wurde allmählich ruhiger, sein Atem gleichmäßiger - er war endlich eingeschlafen.

Ahmad drückte seinen Freund noch einmal liebevoll und vorsichtig an sich und glitt irgendwann auch in das Reich der Träume.

Der Kurator Band 1

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