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Der Anschlag

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Diese schallende verbale Ohrfeige musste Ahmad erst einmal verdauen, während er sich auf den Rückweg zu seiner Wohnung machte. Er schalt sich einen Idioten, sich so offen für diesen Mouad interessiert zu haben. Wieso war er bloß so leichtsinnig gewesen, ihm vor geraumer Zeit so viele persönliche Fragen zu stellen? Er wusste doch aus den Briefings, die er zuvor über dieses Land gehört hatte, dass die Erziehung in den Familien äußerst streng war. Der Vater war der absolute Herrscher in der Familie - sein Wort galt. Die Mutter hatte traditionell höchstens die Funktion einer Beraterin. Und in diesem Land war gegenüber Fremden - schon auf Grund der unsicheren innenpolitischen Lage der vergangenen Jahrzehnte - üblicherweise absolute Vorsicht gegenüber Anderen angebracht.

Schon kleine Kinder wurden dahingehend regelrecht trainiert, ihre Gestik und Mimik völlig unter Kontrolle zu halten, damit sie im späteren Leben möglichst wenig über ihre wahren Absichten preisgaben. Aber dieses Verhalten war auch eine der Ursachen für zahllose Missverständnisse und Irritationen zwischen Gesprächspartnern, die sich bei dem südländischen Temperament vieler Libanesen rasch in Gewaltexzessen entladen konnten.

In vielen Bereichen war diese Gesellschaft überdies ausgesprochen konservativ. Über Sexualität zu reden war ein Tabuthema. Homosexualität galt als pervers, unnatürlich und eines Mannes unwürdig. Wenn bei Verwandtschaft, Nachbarn und Freunden ruchbar wurde, dass ein Sohn oder eine Tochter in der Familie vom so genannten anderen Ufer war, hatte das zumeist für die Betroffenen fatale Konsequenzen. Sofern man nur wüsten Drohungen und Beschimpfungen ausgesetzt war, konnte man von Glück reden. Aber die Sanktionen konnten auch heftige Schläge durch Ausbilder, Lehrer und Kommilitonen umfassen. Eine Verbannung aus der Familie war nicht selten. Selbst die Ermordung eines schwulen Sohnes oder einer lesbischen Tochter war auf Grund der zunehmenden Religiosität in der Gesellschaft zu dieser Zeit nicht selten.

,Dieser junge Mann konnte somit gar nicht anders, als möglichst rasch sämtliche Kontakte zu mir abzubrechen, sich von mir möglichst vollständig zurückzuziehen und zunächst sich selbst und seine unsichere sexuelle Orientierung zu verleugnen’, interpretierte Ahmad Mouads Verhalten. Er wunderte sich zugleich über seine Emotionen: Zum ersten Mal in seinem Leben war er über einen Menschen enttäuscht und zugleich auch über sich selbst frustriert.

Am nächsten Tag beobachtete Ahmad wie Mouad, ohne ihn auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen, die Stufen an der Außenseite des Raumes hinab hastete. Er bemerkte aber auch, dass der Libanese dieses Verhalten wie unter Zwang zeigte, da ihm eine fast unmerkliche Versteifung der Bewegungsabläufe inne wohnte. Zusätzlich hatte er sich eine beigefarbene Baseballmütze aufgesetzt, deren Schirm verhindern sollte, dass seine Augen allzu viel verrieten.

In den folgenden drei Wochen ging Mouad Ahmad vollständig aus dem Weg. Und wenn sie sich dann doch einmal zufällig irgendwo begegneten, konnte Ahmad - auch wenn er seinen Kommilitonen mit einem freundlichen ,Guten Morgen’ anredete - außer einem beiläufigen Kopfnicken überhaupt keine Reaktion an ihm erkennen.

Allmählich begannen sich aus den ersten flüchtigen Kontakten unter den Studenten feste Übungsgruppen herauszukristallisieren. Nach der Geologievorlesung setzten sich die Teilnehmer in die Bibliothek, Caféteria oder, bei schönem Wetter, in den weitläufigen Park, um unter wechselseitiger Hilfestellung die äußerst anspruchsvollen Übungsaufgaben des Geologieprofessors zu lösen.

Ahmad hielt sich mehr und mehr von diesen Lerngruppen fern. Er wollte kein unnötiges Aufsehen erregen und mit niemandem erneut anecken.

,Und was ich hier tue, geht sowieso niemanden etwas an’, dachte er.

Sein Verhalten wurde nicht von allen Kommilitonen toleriert. Mehrmals wurde er gefragt, ob er keine Hilfe benötigen würde. Aber von Ahmad erhielten sie nur ausweichende Antworten oder gar keine. Und er hatte durch seine Art bereits nach kurzer Zeit den Ruf eines verschrobenen Sonderlings.

Auch seinen Studien wandte er sich scheinbar nur mit mäßigem Interesse zu. Er war des öfteren während der Vorlesungen abwesend und hinterließ auch bei den Übungsseminaren keinen besonders guten Eindruck. Immer wieder machte Ahmad Fehler, schien schlecht vorbereitet zu sein und hatte offensichtlich Mühe, sich zu konzentrieren.

Dabei fiel Ahmad auf, dass der sonst gegenüber ihm so desinteressiert wirkende Mouad ihn bei seinen unvollkommenen Ausführungen scharf beobachtete und einmal leicht fragend den Kopf zu schütteln schien, so als wollte er sagen: ,Ich glaube dir diese Show sowieso nicht, die du hier abziehst.’

Im Rahmen seiner Aufgabe, die Ahmad zu erfüllen hatte, begann er den Libanon zu bereisen und sich die touristischen Highlights des Libanon anzusehen, so zum Beispiel

 die römischen Tempelruinen von Baalbeck,

 die mittelalterliche Altstadt von Tripoli sowie die

 Überreste verschiedener Kreuzfahrerburgen.

Dabei interessierte sich Ahmad vor Allem für die Lebenswirklichkeit der Bevölkerung:

Die Armut der Geflohenen aus Syrien, dem Irak und sogar dem Iran,

die religiösen Spannungen zwischen Schiiten, Sunniten und Alawiten,

der Hass zwischen Anhängern der Familie Assad und den übrigen Muslimen und Christen,

die große Zahl von Flüchtlingskindern, die ohne ihre Eltern aufwuchsen, das Einsickern von religiösen Eiferern und Kämpfern insbesondere in das Bekaa-Tal. Er beobachtete auch, wie dieser Staat mehr und mehr infiltriert wurde. Ahmad war sich inzwischen absolut sicher, dass die sich abzeichnende Entwicklung auch in der Levante in einer Katastrophe enden würde...

In den folgenden Monaten nahm die politische Gewalt im Libanon immer weiter zu. Die von der Hisbollah dominierte Bewegung des 14. März rief immer wieder zu spontanen Demonstrationen gegen die pro westliche und vor allen Dingen anti-syrische Bewegung des 8. März auf. Auch mehrten sich inzwischen - für jedermann sichtbar - die Hinweise, dass die fortschrittlich-toleranten Kräfte im Lande geschwächt - oder sogar endgültig beseitigt werden sollten.

Es verging zum Ende des Fastenmonats Ramadan keine Woche, in der nicht irgendwo im Libanon politische Gegner durch fingierte Unfälle oder Sabotagegifte verletzt oder ermordet wurden, nicht aus irgendwelchen Häusern auf Passanten geschossen wurde oder sich Fanatiker der IS selbst in die Luft jagten, um möglichst viele, bis über 100 Menschen um sich herum ins Verderben zu reißen. All dies ereignete sich zudem bevorzugt in den Stadtvierteln in Beirut, die von pro-westlich eingestellten Libanesen bewohnt waren.

Der Dozent der journalistischen Fakultät, Herr Dr. Schulte, schien doch mehr Standhaftigkeit angesichts der stets brenzlicher werdenden innenpolitischen Lage im Libanon an den Tag zu legen als Ahmad und Mouad zuvor erwartet hatten. Aber gleichzeitig ließ sich der Eindruck nicht vermeiden, dass ihm die Gesundheit und die Sicherheit der Studenten vollkommen gleichgültig waren. Rücksichtslos drängte er darauf, dass die zukünftigen Absolventen in aktuellen brisanten Situationen und politischen Brennpunkten ihre ersten Erfahrungen sammeln sollten. Er legte deshalb bei den wöchentlich stattfindenden Einsätzen großen Wert auf immer wieder neu zusammengesetzte Zweiergruppen, damit die angehenden Journalisten lernten, wie mit stets wechselnden, unvorhersehbaren Situationen umzugehen wäre. Denn jedem der Berufsanwärter musste das Risiko deutlich vor Augen sein, wenn sie zukünftige Arbeitseinsätze in dieser Weltregion zu absolvieren hatten: Häufig würde dies nur unter Einsatz des eigenen Lebens gelingen.

Es war somit reiner Zufall, als Ahmad und Mouad per Losverfahren durch Herrn Dr. Schulte zu einem politisch bedeutsamen Meeting abgestellt wurden. Sie durften an einer Sitzung des Parlaments unter Leitung des Ministerpräsidenten teilnehmen. Dabei würde sich sogar möglicherweise die Gelegenheit ergeben - so argumentierte zumindest ihr Dozent - diesem Politiker auch einige kritische Fragen zur künftigen Entwicklung des Libanons zu stellen.

Ahmad teilte dessen Zuversicht, dass ein persönliches Treffen zustande käme, absolut nicht. Nach seiner Auffassung gab es überhaupt keine Indizien dafür, in dieser so aufgeheizten, politischen Lage studentische Grünschnäbel in das Zentrum der Macht vorzulassen. Wie oft hatten sich - gerade in jüngster Vergangenheit - junge Fanatiker in die Luft gejagt, um Politiker und ihr direktes Umfeld auszuschalten. Und offizielle Dokumente von der Uni, die von einem dortigen Dozenten ausgestellt worden waren, interessierten Bodyguards und Sicherheitsbeamte auch im normalen Alltag normalerweise überhaupt nicht. Denn das Fälschen derartiger Papiere war für die meisten Kriminellen ein Kinderspiel.

,Dieser Dr. Schulte ist doch ziemlich blauäugig und verantwortungslos, wenn er uns Erstsemesterstudenten einfach so in Kleingruppen losschickt, ohne uns genau darüber aufzuklären, welche Vorsichtsmaßnahmen wir ergreifen müssen, um unversehrt aus diesen möglicherweise brandgefährlichen Situationen herauszukommen.’

Ahmad schauderte bei dem Gedanken, dass dank dieser Leichtsinnigkeit manche der neuen Studenten Opfer der ständig weiter eskalierenden Gewaltspirale werden könnten.

Er dachte zurück an die Nachricht vom Ableben der beiden Kommilitonen - damals in der Vorlesung an der AUB.

,Mich jedenfalls hat die Nachricht vom Tod der beiden Männer ganz schön mitgenommen’, gestand er sich ein. ,Und Mouad offensichtlich auch, sonst würde er sich nicht in der Folgezeit so kopflos aufgeführt haben.’

Die beiden jungen Journalismusanwärter trotteten an einem strahlend schönen, sonnendurchfluteten Morgen von der AUB in Richtung des Serails, dem Sitz des Premiers. Mouad umschloss krampfhaft eine veraltete Videokamera, die lediglich über eine gerade noch brauchbar zu nennende Qualität zur Datenarchivierung verfügte.

Auf dem Weg durch das Downtown-Viertel Solidare passierten sie die edlen Auslagen am Designhotel ,Le Gray’.

Sie wechselten jedoch kein Wort miteinander. Mouad wirkte verschlossen und niedergeschlagen, als würde eine zentnerschwere Last auf ihm liegen. Ahmad war immer noch damit beschäftigt, sich zu überlegen, ob es angesichts der politischen Spannungen so eine gute Idee von ihrem Dozenten gewesen war, sie in die Nähe des Machtzentrums dieses Landes zu lotsen oder ob es nicht besser gewesen wäre, den Auftrag rundweg abzulehnen.

Aber er beschloss, sich einem näherliegenden Problemfeld zuzuwenden: Denn inzwischen reichte es ihm mit diesem merkwürdigen Verhalten von Mouad. Er wollte endlich Klarheit haben. Brauchte er Hilfe? Oder wurde er von irgendwem ganz massiv unter Druck gesetzt?

„Mouad, was ist los? Warum sprichst du nicht mehr mit mir und behandelst mich seit geraumer Zeit dermaßen abweisend? - Dich bedrückt doch irgend etwas, das sieht man dir doch an. Ich will dich nicht bedrängen, aber wenn du willst, können wir gern darüber reden.”

Mouad blickte nervös um sich, so als ob er Angst hatte, von irgendwem beobachtet zu werden.

Wieder hatte Mouad seine Tarnung aktiviert - Schirmmütze und undurchdringliche Mimik. Mit leiser Stimme stieß er hervor: „Ich habe Ärger mit meinen Kollegen. Sie haben unsere Kontaktaufnahme beobachtet und drohen mir jetzt, dies meinem Vater zu erzählen. Auch wenn er nicht ganz so streng ist wie die meisten Familienoberhäupter in meinem Land, so möchte ich diese Auseinandersetzung nicht zum jetzigen Zeitpunkt haben. Und jetzt lass mich mit diesem Thema gefälligst in Ruhe!”

Den letzten Satz hatte er so eisig und energisch hervorgebracht, dass Ahmad vorerst davon absah, ihn weiter zu bedrängen.

Sie bogen unter den üblichen gesichtslosen, vielgeschossigen, balkonkastenverzierten Hochhäusern um eine Straßenecke und befanden sich endlich gegenüber dem im neugotischen Baustil errichteten Sitz des Premierministers. In olivfarbene Tarnanzüge gekleidete Sicherheitskräfte, die mit Maschinengewehren bewaffnet waren, standen vor dem Palais und scheuchten Passanten mit rüden Worten auf die Straßenseite, auf der sich die beiden Studenten befanden.

Auch Mouad und Ahmad wurden von einem Soldaten, der zu ihnen herüber wechselte, barsch nach dem Grund ihres Aufenthalts befragt. Der Mann in Uniform akzeptierte jedoch völlig unerwartet das Empfehlungsschreiben des Dozenten, das die beiden Studenten ihm präsentierten.

„Dr. Schulte, Journalismusdozent - sehr interessant. Ein deutscher Dozent?”

Mouad und Ahmad nickten.

„Also nicht von hier. Daher: Interviews gibt’s nicht. Und wenn der Premier erscheint, bleibt die Kamera aus. Kapiert?”

,Sieht ja so aus, als ob die Herrschaften da drüben sehr nervös sind’, dachte Ahmad.

Mouad schien die Situation ebenfalls argwöhnisch zu beobachten. Ziemlich unruhig und planlos fingerte er an den Bedienungstasten der Kamera herum, um den optimalen Weißpunkt für Aufnahmen festzulegen. Er konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Ein nicht näher zu erklärendes Gefühl sagte ihm, dass hier irgend etwas nicht stimmte. Vielleicht eine Vorahnung als Folge der Erziehung der Eltern, die ihm immer nahegelegt hatten, sich nur auf sich selbst und seine eigenen Fähigkeiten zu verlassen, niemandem zu vertrauen und überdies immer nach brenzlichen Situationen Ausschau zu halten - also einen sechsten Sinn für das Unerwartete und die Gefahr zu entwickeln.

Ahmad hingegen betrachtete die Lage scheinbar gelassen. Er behielt jedoch Mouad, die Soldaten und die gegenüberliegende Straßenseite genau im Auge. Und auch er war innerlich auf das Höchste alarmiert.

,So ein politisches Treffen ist für Anschläge ein lohnendes Ziel!’, dachte er.

Er wandte sich Mouad zu:

„Wenn du willst, kann ich ja mal die Kamera nehmen. Bist du vielleicht mit dieser Situation völlig überfordert?”

Widerstrebend übergab Mouad ihm den Apparat. Froh darüber, dass er sich nur auf die Wagenkolonne der Sicherheitsbeamten und politischen Vertreter konzentrieren musste.

Nach einer ihm endlos erscheinenden Wartezeit rasten plötzlich schwarze, gepanzerte Limousinen heran. Getönte Scheiben machten es unmöglich, von außen die Identität der Insassen festzustellen. Die Fahrzeuge hielten mit quietschenden Reifen vor der enorm hohen, verschnörkelten Eingangstür, zu der ein kurzer roter Teppich führte. Politiker sprangen gehetzt heraus - Sicherheitsbeamte in schwarzen Anzügen mit Maschinenpistolen im Anschlag sicherten die Umgebung.

Ahmad filmte die ersten Minister. Schließlich den Premier, der sich aus der hinteren rechten Tür eines gepanzerten, dunkelblauen Mercedes hinaus schwang. Dabei achtete er mit dem anderen Auge auf die Umgebung. Mouad trat nervös von einem Bein auf das andere und fühlte sich dermaßen unwohl, dass er am liebsten sofort die Flucht ergriffen hätte.

Das Quietschen von Reifen ließ Mouad mit einer, für einen untrainierten Menschen erstaunlichen Reaktionsschnellheit herumwirbeln. Beinahe gleichzeitig versuchte er, noch in die Richtung der Häuserecke zu fliehen, die sie vor wenigen Minuten noch umrundet hatten, um impulsiv Deckung zu suchen. Aber er war trotzdem nicht schnell genug.

Ahmad warf sich auf ihn. Ein orange-gelbes Licht flammte auf. Mouad stürzte unter ihm nieder - Wärme umströmte ihn. Die Druckwelle war seltsam gedämpft - die volle Wucht der Bombenexplosion schien ihn nicht zu treffen.

Gleichzeitig Geräusche von zerreißendem, menschlichen Gewebe.

Passanten wurden neben ihm zerfetzt, Fassadenteile und Fenster aus Gebäuden herausgerissen: Ein todbringender Hagel flog auf die Menschen herab. Gellende Todesschreie. Mouad schlug hart auf dem Boden auf. Er wurde unter dem menschlichen Schutzschild begraben - glaubte, zu ersticken.

All dies geschah in weniger als einer Sekunde.

Aber nur wenige Augenblicke später riss ihn Ahmad, der sich rasend schnell aufgerappelt hatte, bereits wieder vom Erdboden hoch, schwang ihn auf seinen Rücken, schlang Mouads Arme um seinen Hals und rannte los - um die Hausecke herum, die Straße entlang, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen.

In Ahmads Kopf hämmerte der Befehl, der ihm zu Beginn der Mission immer und immer wieder eingebläut wurde: ,Kümmer’ dich nicht um mögliche Verletzte oder Tote bei einem Attentat! Denn fast immer trachten die Terroristen danach, auch noch die Rettungskräfte zu vernichten!’

Totenstille herrschte hinter ihnen - ab und zu vom Schreien der Verletzten unterbrochen, während sie an entsetzt dreinschauenden Passanten vorbei flüchteten, die aus Neugierde oder Hilfsbereitschaft in Richtung des Bombenanschlags liefen.

Ahmad bog endlich in eine Seitenstraße ab. Erschöpft ließ er Mouad zu Boden gleiten. Er atmete schwer.

„Los, vorwärts”, drängte Ahmad.

Mouad starrte ihn mit vor Grauen geweiteten Augen an, gehorchte ihm aber und stellte ungläubig fest, dass sowohl er als auch Ahmad offensichtlich nicht die geringste Schramme davongetragen hatten - mit Ausnahme von einigen leichten Prellungen.

Sie hasteten weiter.

Endlich erreichten sie eine belebte Einkaufsstraße. Hier erinnerte nichts an die dramatischen Erlebnisse, die nur wenige Augenblicke zurücklagen.

Sie ließen sich auf eine Bank fallen, die unter einem der neu gepflanzten Bäume, die die Luftqualität im Zentrum Beiruts verbessern sollten, aufgestellt war. Dazwischen normale Geschäftigkeit, friedlicher Alltag.

Mouad starrte Ahmad entsetzt, verwirrt aber auch zugleich überwältigt an. Schließlich verbarg er das Gesicht zwischen den Armen, die er um seinen Kopf geschlungen hatte.

Er stammelte in abgehackten, kaum verständlichen Sätzen. Der Schock des gerade Durchgemachten - er ließ sich kaum bezwingen. Mouad keuchte.

„Du... du hast mir das Leben gerettet. Warum... nur? Du kennst mich doch gar nicht so richtig. Ich habe doch bewusst zu dir Abstand gehalten. Denn ich darf meine Gefühle gegenüber dir niemandem zeigen. Ich habe Angst vor den Reaktionen anderer Libanesen. Wie soll ich überdies meinem Vater das Verhalten erklären, das du gegenüber mir gezeigt hast? Und, wieso leben wir überhaupt noch? Du hast doch, wie die anderen Umstehenden am Anschlagsort auch, die volle Wucht der Explosion abbekommen.”

Ahmad sah ihn nachdenklich an. Er schien zu überlegen, was er ihm auf diese Fragenkette antworten sollte und was als nächstes zu tun sei.

„Vieles an eurem Verhalten untereinander ist mir schlichtweg unbegreiflich”, begann er ausweichend. „Mitmenschlichkeit scheint in eurer Kultur keinen besonders hohen Stellenwert zu haben. Aber diese Überlegungen sollten wir an dieser Stelle vielleicht besser nicht weiter vertiefen. Ich erachte es angesichts der gerade von uns durchgestandenen Ereignisse für sinnvoller, wenn du mit zu mir in meine Wohnung kommst. Ich werde es jedenfalls nicht zulassen, dass du heute noch irgendwo allein hingehst.”

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Ein Lächeln huschte über Ahmads Gesicht. Er schien von den zurückliegenden Ereignissen nicht sonderlich beeindruckt zu sein.

„Auch wenn du dich immer als cooler Supermann gibst, der alle Probleme bewältigen kann. Ich bin mir absolut sicher, dass du zumindest heute jemanden brauchst, der mit dir reden kann”, sagte er in ruhigem Ton.

Mouad sah ihn mit müden Augen an. Er wirkte unschlüssig.

„Ich weiß nicht, ob ich die Kraft haben werde, die Auseinandersetzungen mit meiner Familie durchzustehen. Mein Vater wird vermutlich extrem ablehnend reagieren, wenn er erfahren sollte, dass ich bei dir übernachten soll. Er hat mir vorgestern noch haarklein auseinandergelegt, warum er es überhaupt nicht mag, dass ich in diesen chaotischen Zeiten mit jemandem engeren, vertrauensvollen Kontakt aufnehme.”

Plötzlich war der Schlag der Druckwelle einer weiteren Explosion aus der Richtung zu spüren und zu hören, aus der sie gekommen waren.

„Los jetzt! Verschwinden wir endlich”, fuhr Ahmad Mouad an. „Unsere Probleme können wir auch an anderer Stelle besprechen. Denn am Serail sind mit Sicherheit nach dieser zweiten Detonation jetzt weitere Opfer zu beklagen.”

„Und außerdem”, fügte er nach einer Pause hinzu, „sollten wir uns auch schon allein deshalb aus dem Staub machen, weil wir ja von Sicherheitskräften befragt worden sind, woher wir kommen. Möglicherweise werden wir verdächtigt, etwas mit dem Anschlag zu tun zu haben. Vielleicht hat ja der Sicherheitsbeamte, der uns gesehen hat, den Anschlag überlebt und gibt eine uns belastende Aussage zu Protokoll. Ich für meinen Teil möchte jedenfalls keine Bekanntschaft mit libanesischen Gefängnissen machen.”

Ahmad sah erneut Mouad an. Dessen Gesicht war inzwischen aschfahl. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er wollte aufstehen - seine Beine gehorchten ihm jedoch nicht mehr.

Mouad stand unter Schock. Er kollabierte. Ahmad fing ihn gerade noch rechtzeitig auf.

„Dich scheint die Tatsache, dass wir gerade dem Tode entronnen sind, doch mehr mitzunehmen, als du zugeben willst”, brummte Ahmad leise, als er seinen Freund emporhob, ihn erneut auf seinen Rücken nahm und mit ihm in Richtung seiner Wohnung davoneilte.

Der Kurator Band 1

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