Читать книгу Der Kurator Band 1 - Arno Wulf - Страница 17
Nach dem Attentat
ОглавлениеMouad trat vorsichtig ins Freie. Nervös schaute er sich nach allen Richtungen um, ob nicht auf ihn ebenfalls irgendjemand lauern würde. Denn Ahmad hatte ja nun einmal aktiv einen Mordanschlag verhindert, was bei den Attentätern bestimmt keine große Euphorie ausgelöst haben dürfte.
Zwei Gefühle fochten in ihm einen verzweifelten Kampf, der ihn in seiner Fortbewegung und Entscheidungsgewalt lähmte:
Die Sorge um Leben und Gesundheit Ahmads und die Angst um seine eigene Existenz.
,Und obendrein’, gesellte sich noch eine weitere, innere Partei hinzu, ,besteht ja noch die Möglichkeit, dass wir beide, während wir uns im Audimax unterhielten, von irgend einem Mitverschwörer beobachtet und belauscht worden sind.’
Plötzlich blieb er abrupt stehen - er war wie gelähmt. Schwer atmend gelang es ihm gerade noch, sich an dem Stamm eines kleinen Baumes festzuhalten. Denn mit einem Mal holten ihn, wie ein Realität gewordener Flashback, die unerträglichen Höllenqualen, die er in seiner Schulzeit erdulden musste, wieder ein: Die verzerrte, höhnische Fratze des religiös indoktrinierten Mitschülers, der ihm ein Messer in die rechte Brustseite gerammt hatte; das Entsetzen, als er das Blut in Strömen aus der Wunde herausschießen sah; das Pfeifen und Rasseln, als Luft mit Blut vermischt aus dem kollabierten Lungenflügel aus Mund und Nase heraustrat; die Todesangst hervorrufende Atemnot und sein verzweifeltes Ringen nach Sauerstoff.
Er brauchte einige Minuten, um sich von diesem Schock zu erholen. Denn er erinnerte sich, dass er damals erst nach über einer Stunde im Krankenhaus durch Sedativa von seinem Kampf mit dem Tod erlöst worden war.
Und er begriff gleichzeitig - ein weiteres Mal in seinem Leben - wie stark er auch in dieser Extremsituation an seiner eigenen Existenz hing.
Dieses, sich jetzt immer stärker in den Vordergrund drängende Gefühl sorgte auch dafür, dass sein Verstand, sein Willen den Beinen den Befehl erteilte, möglichst rasch den zu dieser Tageszeit nur wenig durch Besucher frequentierten Universitätsgarten zu durchqueren. Endlich gelang es ihm, erneut die Kontrolle über seinen Körper zu erringen und diesen zu zwingen, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Schließlich raste er wie von Sinnen durch die von hohen Hecken und mediterranen Gehölzen eingefassten Hohlwege in Richtung Corniche - das leuchtende Blau des Mittelmeeres, das sich bis zum Horizont erstreckte, vor Augen. Der betörende Duft von Lavendel, Thymian, Mandeln und Rosen stieg ihm in die Nase. Aber in seiner jetzigen Situation machte ihn die ansonsten Menschen beruhigende Duftmischung nur noch panischer. Denn er malte sich aus, dass dadurch fremde Gerüche von hinter Bäumen und Büschen lauernden, vor Angstschweiß oder Zigarettenrauch stinkenden Attentätern maskiert würden.
Nur unter Aufbietung all seines verbliebenen Willens konnte er seine aufkeimende panische Furcht vor dem Risiko, urplötzlich und ohne Vorwarnung in irgend eine Falle zu tappen, unterdrücken.
Endlich erreichte er das neu erbaute, dem Corniche zugewandte Eingangsgebäude des botanischen Gartens, in dessen Obergeschossen sich nunmehr hochmoderne Laboratorien des Fachbereichs Biologie befanden. Es war baugleich mit dem alten, steinernen, monumentalen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden, neugotischen Tor, das schon seit über 100 Jahren der Stadtseite Beiruts zugewandt war und den Eingang zum Campus bewachte. Er tauchte in den Schatten des Bauwerks ein, trat auf eine Reihe dunkler Torbögen zu, die auf ihn besonders bedrohlich wirkten.
Wie ein Rettungssignal war auf der anderen Seite der beinahe lichtlosen, etwa 20 Meter langen Durchbrüche, die überlaufene, durch Skater, Rollschuh- und Fahrradfahrer, Eisverkäufer, Läufer und Spaziergänger dicht bevölkerte Uferpromenade auszumachen. Dahinter schäumte das durch die am Morgen durchgezogene Sturmfront aufgewühlte Mittelmeer, dessen Brecher dröhnend an den Küstenbefestigungen und Felsen im Uferbereich zerschellten und Wasserfontänen empor schleuderten.
,Gleich, gleich hast du es geschafft!’, schrie eine Stimme aus Leibeskräften in seinem Schädel.
Er drang in die mittlere, einem Tunnel nicht unähnliche Einlassöffnung ein. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er an der rechten, dunklen Wand, die gegenüber den bogenförmigen Durchbrüchen mehrere Meter zurückversetzt war und daher eine große Nische formte, zwei junge, verbissen-böse vor sich hin stierende Männer erkennen. Von ihrem äußeren Erscheinungsbild her konnten sie Nordafrikaner, Syrer oder Iraker sein. Sie kauerten um einen vor Schmerzen stöhnenden, offenbar schwer verletzten Bärtigen, der über und über mit blutigen Striemen und Schnittwunden übersät war. Kaum hatte Mouad die Einfahrt passiert und den überfüllten Promenadenbereich erreicht, kollidierte er beinahe mit einem Pickup, dessen Fahrer das Fahrzeug rücksichtslos durch die panisch auseinanderstiebenden Menschenmassen trieb. Er schaffte es gerade noch, dem Kleinlastwagen auszuweichen, als er im rechten Augenwinkel einen schlanken, drahtigen, bärtigen Afghanen wahrnahm, der Kommandos auf Arabisch brüllte und offensichtlich seine Kumpane abholte.
Panisch rannte er weiter. Dicht vor der Brüstung, die die Uferpromenade von dem aufgewühlten Meer trennte, erkannte er als Letztes, an das er sich erinnern konnte, eine leere, mit gusseisernen Putten, Grotesken und Blumen verzierte Bank, die er gerade noch erreichte.
Atemnot, Herzrasen und erste Lähmungserscheinungen in den Extremitäten hatten ihm schon lange bevor er den Ausgang des Parks erreichte, signalisiert, dass sein Körper bald kollabieren würde. Nur mit äußerster Willensanstrengung hatte er die letzten paar 100 Meter bis zur Uferpromenade durchgehalten. Er war gerade noch in der Lage, sich auf die Bank zu legen - wobei er inständig hoffte, dass Ahmad ihn hier finden und seinen Zusammenbruch rechtzeitig registrieren würde.
Fast augenblicklich stürzte er in eine schwarze Erschöpfungsohnmacht. Später quoll in ihm, als er irgendwann wieder zu sich kam, das zutiefst verunsichernde Gefühl empor, einen Filmriss im chronologischen Verlauf seiner Erinnerungen an die angsteinflößenden Ereignisse dieser beiden letzten Tage zu haben.
Wie aus tiefem Wasser auftauchend, trieb er quälend langsam empor. Er hörte erst leise, dann immer lauter, jemanden seinen Namen rufen.
„Mouad, Mouad, komm zu dir!”
Aber er hatte zugleich das Gefühl, dass er jedes Mal, kurz bevor er die rettende Oberfläche erreichte, durch lähmendes Ersticken am endgültigen Erwachen gehindert würde. Er konnte zwar inzwischen das Stimmengewirr der Menschen auf dem betriebsamen Corniche wahrnehmen, jedoch glitt er immer wieder in finstere, bodenlose, unermesslich tiefe Abgründe. Schließlich schien er im Dunklen ein nasses Seil zu spüren und eine Stimme rief: „Halt’ dich fest, halte dich um Gottes willen fest.”
Er packte das glitschig-rutschige Tau mit beiden Händen, krallte sich daran mit aller Kraft fest. Er spürte den Strömungswiderstand des an seinem Körper vorbei streichenden Wassers. Wie er schneller und schneller, wobei die Stimmen vieler Menschen lauter und lauter ertönten, und ein diffuses Licht heller und heller erstrahlte, nach oben gerissen wurde.
In Panik sperrte er plötzlich seine Augen ruckartig weit auf - rang nach Luft...
und fand sich auf der Bank wieder. Eine steife, vom Meer heranpfeifende Brise zerrte an seiner Kleidung. Plötzlich bemerkte Mouad jemanden, der an seinem Fußende auf dem letzten Rest freier Sitzfläche hockte, mit den störrischen Blattseiten der International Harald Tribune in den Sturmböen kämpfte. Einige Seiten wurden sogar über das Promenadengeländer ins Meer gefegt.
„Nun, bist du endlich wach, du Schlafmütze?”, meinte Ahmad ernst, als er versuchte, die restlichen Blattseiten zusammenzulegen. Schließlich gab er die Bemühungen auf, das Papier in ein wohl geordnetes, handhabbares Zeitungsbündel zu falten.
Mouad fiel ein Stein vom Herzen, als er in die ihn ruhig analysierenden, schwarzbraunen, zusätzlich noch in einem leichten Blaustich schimmernden Augen Ahmads blickte. Da die vom Meer herangeführte Luftmasse frei von Staub und Verunreinigungen war, schien die Sonne ungetrübt und gleißend hell vom wolkenlosen Himmel herab. Erst jetzt konnte Mouad dieses wunderschöne Detail seines Freundes zum ersten Mal in Ruhe betrachten.
Noch etwas benommen richtete er sich auf und blickte nach Nordosten: Über die Bucht hinweg auf die Gebirgslandschaft im Norden des Landes, wo sich dank der fantastischen Fernsicht die immer noch stark verschneiten Höhen des Libanongebirges kontrastreich gegen den tiefblauen Himmel abzeichneten.
Ahmad betrachtete seinen Freund sorgenvoll. Er hatte inzwischen seinen körperlichen Status genau analysiert.
,Wenn wir gemeinsam dieses Land verlassen sollten und ich ihn in die Föderation mitnehme, wird dieser Defekt als erstes beseitigt. Für unsere Ärzte ist die Heilung dieser alten Verletzung eine Kleinigkeit’, dachte er.
„Wie geht es dir?”, fragte Ahmad. Zutiefst besorgt betrachtete er seinen immer noch aschfahlen Freund. Fast 20 Minuten Zeit musste er Mouad geben, bis dieser einigermaßen wiederhergestellt war.
„Ich fühle mich matt, müde, abgekämpft und ausgelaugt. Ich erinnere mich nur daran, dass irgend ein Attentäter eine Messerattacke bei der Begrüßung der Studenten ausgeführt hat, du dann hinterhergerannt bist und mir mein Vater erlaubt hat, dich zu suchen. Und das, obwohl ihm diese Entscheidung gar nicht leicht gefallen sein dürfte, weil er sich um mich große Sorgen machte. Irgendwie bin ich dann wohl an diesen Ort gelangt. Aber warum ich jetzt hier bin und auf dieser Bank liege: Daran kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Die letzten Erlebnisse verlieren sich in einem dichten Nebel in meinen Gedanken.”
Er grübelte.
„Wenn ich so überlege, fehlen mir ganze Stücke in der Chronologie dieses Tages.”
„Posttraumatische Reizüberflutung nennt man diese Symptome. Du hast in den vergangenen Tagen so viele äußere Stimuli aufgenommen, dass deine Wahrnehmungsfähigkeiten unter dem Ansturm der Informationen und der Flut der Stresshormone teilweise zusammengebrochen sind. Dabei konzentriert sich deine Schaltzentrale im Kopf nur noch auf das nackte Überleben, wie beispielsweise Fluchtreflexe, Verteidigung, Atmung und die damit verbundene Sauerstoffanreicherung des Blutes, um die Muskeln optimal mit Nährstoffen zu versorgen. Vielleicht wirst du dich später noch an einige Details deiner Flucht hierher erinnern, obwohl ich nicht so recht begreife, warum du ausgerechnet auf dieser Bank eingeschlafen bist.”
„Kannst du dir nicht vorstellen”, maulte Mouad los, dem so langsam der Kragen platzte ob der ständigen Abenteuer, in die sein Freund und er selbst hineingerieten, „dass ich mir vielleicht auch um dein Wohlergehen Gedanken mache? Eigentlich müsste ich dir vorwerfen, dich in unnötige Gefahr gebracht zu haben. War es nicht schon mutige Tat genug, die Messerattacke abzuwehren? Ich jedenfalls bin nicht sonderlich begeistert von deiner Verfolgungsjagd dieses Verbrechers. Der war nämlich nicht allein. Kurz bevor ich zusammenbrach, habe ich in einem der dortigen Zugänge”, er wandte seinen Kopf und deutete mit dem Arm auf eine der Durchfahrten des Eingangsgebäudes zum Universitätsgelände, „zwei nordafrikanisch oder syrisch aussehende Männer wahrgenommen, die um einen verletzt am Boden liegenden Dritten herumstanden. Ich kann mich noch dunkel daran erinnern, dass das Gesicht des Verletzten eine fast identische Physiognomie wie die des Attentäters hatte. Ein vierter blockierte mir dann mit irgend einem Fahrzeug den Weg.”
„Dein Gehirn scheint offensichtlich keine größeren Schäden davongetragen zu haben. Du hast eine exzellente Beobachtungsgabe. Genau so war es.”
Mouad war zugleich erleichtert und verblüfft.
„Du hast das Ganze mitbekommen und genauestens verfolgt?”
„Jedes einzelne Detail. Ich habe nämlich hier auf dich gewartet und gehofft, dass dein Vater dich trotz der gefährlichen Lage zu mir kommen lassen würde. Und wegen deines Dickkopfes und deinem törichten Handeln”, schmunzelte Ahmad, „würde er dich vermutlich ziehen lassen. Ich vermutete nämlich, wie du soeben korrekt kombiniert hast, dass du dir meinetwegen große Sorgen machen und aus diesem Grunde nach mir suchen würdest. Zumal wir ja auch abgesprochen hatten, uns hier am Corniche zu treffen.”
„Du schätzt mein Verhalten und meine Gefühle gegenüber dir schon recht präzise ein”, meinte Mouad nachdenklich.
„Aber was ist aus dieser Pasdaran-, Terroristen- oder Islamistenbande geworden? Hast du sie der Polizei überantworten können?”, fragte Mouad.
„Nein, die haben sich viel zu schnell aus dem Staub gemacht. Außerdem denke ich, dass die für die innere Sicherheit des Libanons zuständigen Beamten inzwischen von allen Seiten noch mehr korrumpiert werden. So zum Beispiel durch Geld, Versprechungen über ihren beruflichen Werdegang oder andere illegale Zuwendungen. Jedenfalls tauchten sie erst 20 Minuten, nachdem ich sie anonym alarmiert hatte, am Ort des Geschehens auf, sahen sich den Tatort gelangweilt an und haben dann erst die persönlichen Daten der Umstehenden protokolliert. Ich habe ihnen natürlich nicht meine wahre Adresse gegeben. Denn ich hatte nämlich gleich das Gefühl, dass die Sicherheitskräfte ausschließlich an meiner Person Interesse zeigten: So, als wenn sie signalisieren wollten: ,Schön, dass du dich uns gegenüber offenbart hast. Jetzt wissen wir wenigstens, wo unsere Auftraggeber dich erwischen können.’
Man kann sich inzwischen überhaupt nicht mehr sicher sein, auf welcher Seite die Staatsbediensteten stehen: Nehmen sie die Interessen des israelischen Mossads wahr, die des syrischen beziehungsweise iranischen Geheimdienstes, gehören sie den Religionsfaschisten um ihren Anführer Bagdadi an oder stehen sie doch noch auf Seiten der eigenen Regierung? Oder sind sie Mitglieder der Nusra Front oder Al-Qaidas?”
Ahamd dachte einen Augenblick nach:
„Womöglich werden wir sogar bereits seit geraumer Zeit an diesem Ort observiert. Aber ich wollte nicht unnötig Aufsehen erregen, und dich wieder von einem Ort des Geschehens wegtragen. Hier, am Corniche, hat man vermutlich genug Publikumsverkehr, wodurch womöglich unsere Sicherheit für den Moment gewährleistet wird.”
Sie schwiegen. Weiter draußen - auf der aufgewühlten Meeresoberfläche - sahen sie Kitesurfer, die tollkühne Flugmanöver ober- und unterhalb der mehrere Meter hohen, gischtumwirbelten Brecherkämme zur Schau stellten. Meistens landeten sie sicher wieder auf ihren Brettern; ab und an verschätzten sie sich jedoch in Windgeschwindigkeit, Wellenhöhe und der Schnelligkeit der eigenen Unterlage und stürzten kopfüber in die aufgewühlte See. Aber sogleich rappelten sie sich wieder auf, ließen sich mit Unterstützung von Wind und Schirm wieder aus dem Wasser ziehen und setzten ihre Kunststücke unverdrossen fort - sehr zum Gaudi zahlreicher Schaulustiger.
„Ahmad, woher hast du gelernt, dich so gut zu verteidigen?” Mouads Neugier schob sich - für Ahmad ziemlich überraschend - in den Vordergrund. „Aber erzähl mir nicht wieder, dass irgendwelche Schwestern eines Waisenhauses dir diese Fähigkeiten beigebracht haben! Ich glaube dir nämlich kein Wort von der Geschichte, die du mir vor Monaten aufgetischt hast. Auch das Märchen mit deinem Vater, deinen Eltern und deinem Geld gehört vermutlich ins Reich der Fabeln. Wenn wir weiter zusammen bleiben wollen, solltest du dieses Verhalten schleunigst ablegen. Ich habe schließlich ein Recht darauf, dass wir ehrlich miteinander umgehen! Außerdem, so hat mir mein Vater noch im Foyer des Audimax mitgeteilt, will dich auch der Rektor unbedingt in den nächsten Wochen sehen. Er hat dir schließlich sein Leben zu verdanken!”
Ahmad analysierte seine weitere Vorgehensweise blitzschnell in Gedanken:
,Brillant, dieser Mouad! Er verfügt über einen messerscharfen Verstand und ist in der Lage, logische Fehler in meinen Aussagen zu erkennen. Aber wie kann ich ihn trotz dieser Notlügen von meiner Zuneigung gegenüber ihm überzeugen? Die Tatsachen kann und darf ich ihm jetzt noch auf keinen Fall offenbaren. Dazu ist die Gefahr, dass er der Wahrheit nicht gewachsen ist, einfach zu groß. Noch muss ich vorsichtig sein!’
Mouad registrierte Ahmads Zögern und zupfte an seinem Hemd.
„Redest du nicht mehr mit mir oder bin ich da zufälligerweise erneut an ein geheimnisumwittertes Detail geraten, von dessen Existenz ich keinerlei Kenntnis haben darf?”
,Wie nah du der Realität doch auf der Spur bist’, dachte Ahmad. Er wußte aber auch im gleichen Augenblick, dass er seinen Freund nicht mit weiterem Schweigen abspeisen durfte.
„Mouad, ich habe in diesem Land eine Mission zu erfüllen, über deren Ziele und Hintergründe ich dir zu diesem Zeitpunkt absolut keine Informationen geben darf. Ich leugne nicht, dass ich dir eine Mär von meinen Eltern und meiner Vergangenheit erzählt habe. Und du hast auch insofern Recht, dass die Rettung unserer beider Leben vorgestern kein Zufall oder einem sonderbaren Schutzengel zu verdanken war. Da steckte natürlich mehr dahinter.
Aber dennoch kann ich dir zum jetzigen Zeitpunkt nur sagen: Bitte, tu’ mir den Gefallen. Frage mich nicht weiter nach meinem vergangenen Leben. Ich brauche Zeit und auch besonders deine Geduld, damit unsere Beziehung reifen kann. Ich weiß, dass man miteinander ehrlich sein muss. Aber wenn ich dir jetzt schon alles über mich offen lege, garantiere ich dir, dass du dich augenblicklich auf dem Absatz umdrehen wirst und so schnell wie möglich aus dem Staube machst. Deshalb bohre bitte jetzt nicht weiter.”
Mouad starrte ihn entsetzt an.
Ruhig und beinahe schon gelassen fuhr Ahmad fort:
„Du denkst bestimmt immer noch, ich habe mit der drohenden politischen Auseinandersetzung zwischen den Spielern in dieser Region etwas zu tun oder bin vielleicht doch ein Geheimdienstler der NSA oder irgendein sonstiges subversives Element?”
Sein Gegenüber nickte unmerklich, während er Ahmad unverwandt anblickte.
„Mouad, ich schwöre dir abermals: Nichts läge mir ferner, als euren schönen Libanon zu zerstören. Aber du musst es mir einfach glauben: Ich bin bei keiner der Parteien in irgendeiner Weise involviert, die an dem sich abzeichnenden politischen Komplott beteiligt sind. Ich gehöre auch nicht zu Assads Anhängerschaft an, bin auch kein Mossad-Agent oder einer der zum Radikalislam konvertierten europäisch-amerikanischen Attentäter. Und erst recht keiner dieser religiösen Massenmörder aus Bagdad, die Schwulen bei lebendigem Leibe Hoden und Schwanz und Lesben die Brüste mit geschmolzenem Kunststoff brennender Plastiktüten verstümmeln und schließlich irgendwann abschneiden!”
Mouad war völlig geschockt.
„Du weißt davon?...” stammelte er.
„Nur soviel verrate ich dir jetzt: Durch reinen Zufall habe ich von Informanden erfahren, wo diese einem qualvollen Tod ausgesetzten Menschen im Grenzbereich zwischen Irak und Syrien zu finden waren. Immerhin 15 von ihnen konnten gerettet werden. Aber tausende weitere sind vermutlich elendig zu Grunde gegangen...”
Ahmads Stimme versagte. Er wischte sich mit seinem Handrücken durch sein Gesicht.
Mouad ergriff tief bewegt eine Hand seines Freundes. Dennoch erschien auf seinem Gesicht ein fragender Ausdruck.
,Alles ist so rätselhaft. Was hat Ahmad bloß zu verbergen?’
Er konnte sich auf all dies hier keinen Reim machen.
„Aber, wenn du für eine Hilfsorganisation arbeitest...”, versuchte es Mouad ein letztes Mal.
Ahmad schüttelte energisch den Kopf.
„Mouad, ich hänge sehr an dir. Ich möchte genau so wenig wie du, dass wir uns trennen. Ich kann auch ebenso gut deine berechtigte Neugierde nachvollziehen. In diesem Moment will ich dir jedoch nur Folgendes versprechen: Du wirst mich in den nächsten Wochen, vielleicht aber auch erst in Monaten, sehr genau kennen lernen und mit Sicherheit am Schluss dieser Entwicklung begreifen, warum ich dir nicht sofort reinen Wein eingeschenkt habe. Bitte, lass uns doch erst einmal Schritt für Schritt vorangehen. Ich denke, dass es sinnvoll wäre, wenn wir zunächst einmal das Studium energisch vorantreiben und dabei auf unsere fachlichen Qualitäten das Hauptaugenmerk legen. Unsere Gemeinsamkeiten oder auch Diskrepanzen in Bezug von Weltanschauungen sowie Sichtweisen zu vielen Problemen auf dieser Welt könnten wir doch auch zu Beginn austauschen. Dabei wirst du mich peu á peu zu schätzen wissen, aber auch meine Fehler erkennen und sie zu lieben oder zu hassen lernen.”
Mouad wiegte seinen Kopf zugleich abwartend und unsicher hin und her, erwiderte aber zunächst erst einmal nichts.
Nach einer Weile ergänzte Ahmad, wobei seine Nervosität deutlich aus dem Tonfall heraus zu hören war:
„Kannst du dich mit diesem Vorschlag anfreunden?”
Mouad blickte unablässig auf das Meer. Er fragte sich, ob dieses seltsame Zusammentreffen mit diesem Ahmad ein gutes Ende nehmen würde:
„Das muss ich wohl”, seufzte Mouad nach einer Weile, während er sich eingestand, dass er ohne Ahmads Eingreifen nun nicht mehr am Leben wäre und er daher die neu gewonnene Zeit mit diesem rätselhaften Menschen probeweise verbringen wollte. Tief in seinem Inneren wuchs auch seine Neugierde immer mehr, hinter das verborgene Leben Ahmads zu kommen.
„Aber vielleicht ist es so wirklich das Beste”, ergänzte er daher - nach einer mehrminütigen weiteren Denkpause - wobei er Ahmad abwartend-neugierig betrachtete.
„Komm”, forderte Ahmad ihn schließlich auf, „wir sollten an diesem Ort nicht mehr allzu lange verweilen. Ich besitze ein Motorrad und bringe dich damit noch rasch nach Alayh. Ich setze dich dann vor der Eingangstür deines elterlichen Hauses ab. Aber bitte keine libanesische Höflichkeit, ich werde nicht mit hineinkommen. Heute Abend muss ich nämlich noch einiges in verschiedenen Datenbanken im Internet recherchieren.”