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Kennen lernen

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Ahmad betrachtete seine Umgebung genauer. Die Fassade des Straßencafés war sehr ansprechend gestaltet: Etwa sechs Meter vor der doppelflügligen, durch vergoldetes gusseisernes Rankenwerk verzierten Eingangstür, wurde die sich über die Tische wölbende neugotisch-stuckverzierte Decke durch eine Reihe - dem korinthischen Baustil nachempfundenen - Säulen abgestützt. Diese Arkaden boten Schutz vor der Witterung und erstreckten sich entlang einem knappen Dutzend eleganter Geschäfte, zu denen auch dieses mit französischem Ambiente ausgestattete Etablissement gehörte.

Hohe, tönerne Blumenkübel, mit saisonal wechselnder, schattenliebender Bepflanzung, unterteilten den zur Verfügung stehenden Raum in weitere rechteckige Bereiche, die den Gästen des Cafés eine gewisse Privatsphäre vermitteln sollten. Man erhielt so das Gefühl, geschützt und geborgen zu sein.

Auf Ahmad hingegen erzeugte diese oberflächliche Ausstrahlung von Gemütlichkeit eine ganz andere Wirkung: Hinter jeder Ecke des Raumes könnte ein Beobachter lauern, der, vor den Gästen unsichtbar verborgen, sämtliche Besucher laufend überwachen und ausspionieren könnte. Denn er wusste, dass diese Region weiterhin ein Pulverfass war: Der jahrelange Kampf der schiitischen Hisbollah auf Seiten Assads mit massiver Unterstützung Irans hatte zu einer weiteren Stärkung dieser Religionsfanatiker in der Levante geführt. Dieses Training hatte den Israelis einen so mächtigen Gegner an ihrer Nordgrenze aufgebaut, dass sie über einige Jahre davon absahen, den Libanon als Schlachtfeld für ihre Hegemonialpolitik einzusetzen. Aber um diese Lage weiter zu verkomplizieren, hatte sich in den letzten Jahren zusätzlich zu den bestehenden Regionalmächten Israel, Iran und Türkei ein religionsfaschistisches Großreich (IS für islamischer Staat) etabliert, das sich inzwischen über große Teile Syriens und den Irak erstreckte, dessen Einfluss inzwischen aber auch weit nach Jordanien und in den Nordteil Saudi-Arabiens reichte. Zudem waren intensive Untergrundaktivitäten von Geheimdiensten jeglicher Couleur in diesen Tagen in Beirut an der Tagesordnung.

Eine Bedienung trat zu ihnen an den Tisch. Ihr ganzer Körper wurde durch einen braunen Tschador verhüllt. Ahmad fühlte sich sogleich unwohl in seiner Haut. Die Augen der wahrscheinlich hübschen jungen Dame sahen die beiden zwar ruhig und gelassen an. Auch Mouad überkam trotzdem ein ungutes Gefühl ob dieser Frau. Er glaubte nämlich, eine Spur aufmerksame Verschlagenheit in ihrem Gesichtsausschnitt zu erkennen. Er vermied es deshalb, um kein Aufsehen zu erregen, sie zu intensiv zu mustern. Das braune Tuch vor ihrem Gesicht war zudem etwas nach unten verrutscht. Mouad glaubte, in dem zu großen, von schwarzem Stoff umrahmten Gesichtsausschnitt, die obere Hälfte eines verkniffenen, unfreundlichen Mundes zu erkennen, der sein Misstrauen unbewusst gegenüber der jungen Frau noch verstärkte. Ihm fielen Gerüchte ein, die er von seinem Vater über gut getarnte Geheimdienstmitarbeiter aus dem Iran, Syrien und der IS erhalten hatte, die als Schläfer an unverdächtigen Orten agierten.

Ahmed wusste zudem: Den Libanon, den es bis ungefähr 2013 gab, existierte praktisch nicht mehr. Die Bevölkerung hier hatte sich nämlich aufgrund des jahrelangen Bürgerkrieges in Syrien und der Errichtung eines ultrareligiösen Kalifats mehr als verdoppelt. Alle Konfliktparteien hatten Aktivisten respektive Untergrundkämpfer in die Levante eingeschleust - und dadurch entwickelte sich der Libanon mehr und mehr zu einem Pulverfass, dessen Lunte immer schneller abbrannte. Die ständig zunehmenden und immer gewaltsamer ausgetragenen Scharmützel zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen waren ein untrügliches Zeichen davon.

Ahmad schrak aus seinen Gedankengängen auf:

„Was möchten die Herren essen oder trinken?”, fragte die Bedienung sehr zurückhaltend. Mouad glaubte, einen Hauch von Schärfe in Ihrer Stimme zu spüren. Er war sich aber nicht völlig sicher.

Ahmad besaß die besondere Gabe, dass er geringfügigste menschliche Verhaltensabweichungen registrieren konnte. Leiseste Lautungereimtheiten, die für die meisten normalen Menschen vermutlich nicht wahrnehmbar wären. Rasch beschlich Ahmad deshalb unterschwellig das Gefühl, dass er und Mouad gerade intensiv überwacht wurden - wenn es auch zunächst nur eine Vermutung war. Nach einer Weile war er sich jedoch vollkommen sicher: Diese Frau war definitiv dafür ausgebildet worden, die Blicke und die Verhaltensweisen von Menschen äußerst aufmerksam, aber zugleich auch sehr diskret, zu verfolgen. Und jetzt waren sie es, zwei harmlose junge Männer, die observiert wurden.

Mouad sah Ahmad immer wieder verstohlen von der Seite an. Denn auch ihm war die subjektiv gefühlte, intensive Supervision nicht entgangen. Er konnte einfach nicht begreifen, warum gerade ihnen gegenüber eine so große Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde.

Ahmad schätzte die ganze Situation inzwischen als ziemlich brenzlig ein. Er wünschte sich, dass sie sich einfach in Luft auflösen könnten und sich jegliche Erinnerungsspuren bei dieser Frau auslöschten. Innerlich schalt er sich einen Dummkopf: Wieso hatten sie überhaupt diese Lokalität dermaßen leichtsinnig aufgesucht? Mussten sie sich hier unbedingt an so zentraler Stelle in der Öffentlichkeit präsentieren?

Aber einfach aufstehen und gehen, würde auch keine Lösung sein - dass würde erst recht zusätzliche Aufmerksamkeit hervorrufen.

„Such dir was aus”, meinte Ahmad schließlich zu seinem Kommilitonen so ruhig wie möglich, um diesen nicht zu beunruhigen, „ich lade dich ein.”

„Vielen Dank, sehr nett von dir.”

„Ich hätte gerne ein Stück Feigen-Dattelcreme Torte und ein großes Glas schwarzen Tee - gesüßt bitte.”

„Das ist eine gute Wahl. Ich nehme das Gleiche.”

„Möchten Sie Sahne zum Kuchen?”, kam die höflich-distanzierte Frage.

Die Frau hatte sich diesmal völlig in ihrer Gewalt. Nicht die Spur von Misstrauen oder Verunsicherung war noch herauszuhören. Ahmads Unterbewusstsein übermittelte ihm dennoch weiterhin das Gefühl, dass der Situation auf keinen Fall Normalität innewohnte. Aus dieser prekären Situation heraus manifestierte sich in ihm die beunruhigende Erkenntnis, dass endgültig jeder jedem in diesem Staat misstraute, und dass in diesem Restaurant unter der Oberfläche von vorbildlichem Kundenservice möglicherweise ein - wenn auch winziges - Element eines weit gespannten Überwachungsnetzes installiert war. Das würde auch zu seiner politischen Einschätzung passen, dass religiös-konservative in- und ausländische Mächte in naher Zukunft, trotz aller nach außen zur Schau gestellten politischen Normalität, den relativ liberalen Zedernstaat vollständig unter ihre Knute zwingen wollten.

„Nein, danke”, kam es fast gleichzeitig von beiden zurück.

Die Kellnerin leitete die Bestellung weiter und wandte sich anderen Gästen zu.

Ahmads eine Gehirnhälfte beschäftigte sich immer noch damit, wie man aus dieser Situation, ohne all zu viel Aufsehen zu erregen, herauskommen könnte. Aber wie er die Lage auch drehte und wendete: Letztendlich blieb ihnen doch keine andere Wahl, als einfach sitzen zu bleiben.

,Schließlich weiß sie absolut nichts über mich’, versuchte er sich zu beruhigen.

Nach einer Weile nahm Mouad den Gesprächsfaden wieder auf: „Da wir uns gerade erst kennen gelernt haben, sollte jeder vielleicht ein bisschen von sich erzählen.” Ahmad nickte zustimmend. „Ich fang dann einfach mal an.”

Ahmads betrachtete Mouads Überlegungen durchaus zwiespältig: ,Der muss aber auch noch lernen, seine Umgebung und vor allen Dingen seine Mitmenschen sehr genau zu beobachten. Seine Gesprächigkeit könnte ihm noch zu einem späteren Zeitpunkt den Kopf kosten!’

Aber dann zwang er sich, den Ausführungen von Mouad seine Aufmerksamkeit zu schenken.

Mouad war 19 Jahre alt und lebte noch bei seinen Eltern in Alayh. Dieser Ort liegt hoch über Beirut und der Meeresbucht, die sich nördlich der Hauptstadt nach Osten erstreckt. Er hatte einen Bruder namens Elias, der ein Jahr jünger war als er und noch das Gymnasium in der zwölften Klasse besuchte. Sein Vater war Professor für experimentelle- und theoretische Physik, ebenfalls an der Amerikanischen Universität. Seine Mutter besaß einen kleinen Lebensmittelladen im Dorf. Ein Haus in diesem Ort gehörte ihnen zwar und war zudem schuldenfrei. Aber aufgrund der galoppierenden Inflation erhielt sein Vater seit einigen Jahren so wenig Gehalt, dass dieses allein nicht zum Leben reichte. Seine Mutter verdiente deutlich besser, da sich dank der vielen Flüchtlinge im Land der Vertrieb von Nahrungsmitteln rentierte. Darüber hinaus konnte sie die Produkte für den privaten täglichen Bedarf erheblich günstiger über den Großhandel und private Erzeuger vor Ort beziehen. Zusätzlich entlastete der Anbau von Obst und Gemüse im eigenen Garten das Budget der Familie erheblich.

Nur auf Grund dieser finanziell abgesicherten Lebensumstände konnte Mouad überhaupt studieren. Aber dies reichte bei weitem noch nicht aus: Es bedurfte der Fürsprache seines Vaters bei der Universität und eines mit mindestens 18 von 20 Punkten absolvierten Aufnahmetests, damit er an der AUB überhaupt beginnen konnte. Vier Stipendiensemester zur Erlangung des Masters, die er jedoch erst nach einem mindestens mit 17 Punkten benoteten Bachelorabschluss antreten durfte, waren eine zusätzliche Motivation für ihn, sich intensiv mit dem Studium auseinanderzusetzen. Ahmad merkte rasch, dass Mouad seine Eltern dank dieses Engagements ihm gegenüber sehr schätzte. Denn nicht viele libanesische Familien waren gegenüber einer so teuren und politisch kritischen Ausbildung für ihre Sprösslinge so aufgeschlossen. Hinzu kam, dass Mum und Dad für libanesische Verhältnisse ausgesprochen tolerant und weltoffen zu sein schienen.

Von beiden unbemerkt hatte sich die verschleierte Bedienung inzwischen erneut ihrem Tisch genähert und vorsichtig die bestellten Köstlichkeiten abgesetzt. Allmählich drang es in Ahmads Bewusstsein ein, dass, während er den Ausführungen Mouads gefolgt und ihn dabei beobachtet hatte, sich in seiner Umgebungswahrnehmung fortwährend ein schwarzer Schatten abzeichnete.

Mouad war jedoch so auf Ahmad fixiert, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht die Spur einer Ahnung zu haben schien, was sich um ihn herum ereignete.

Mouad interessierte sich offensichtlich für alles Naturwissenschaftliche, hatte sich früh als Kind bereits mit Astronomie und geologischen Grundlagen auseinandergesetzt. Aus diesem Grunde waren Chemie und Physik auch seine Lieblingsfächer am Gymnasium. Ferner bewies er schon damals ein Händchen dafür, als Reporter für die Schulzeitung auf so manche Missstände und Probleme im laufenden Betrieb hinzuweisen, wie zum Beispiel den wachsenden Einfluss der fundamentalistischen Glaubensfanatiker aller Religionen auf den Unterricht.

Diese Aktivitäten hatten ihm schließlich viel Ärger eingebracht: Kurz vor seinem Abitur hatten er und seine Eltern sogar Todesdrohungen erhalten. Nächtliche Hassanrufe und Schmierereien an der Hausfassade hatten gezeigt, wie vorsichtig man in Beirut mit gesellschaftlichen Fragen umgehen musste. An diesem Punkt griffen seine Erziehungsberechtigten dann doch ein und verboten ihm, an der Schule noch irgend etwas in Bezug zu Religion oder Politik zu äußern.

Glücklicherweise hatte sich die Bedienung um andere Gäste zu kümmern; denn Ahmad war drauf und dran, Mouad das Wort abzuschneiden. Aber er ließ ihn dennoch gewähren:

Nach dem Schulabschluss waren seine Eltern bereit, ihm ein naturwissenschaftliches Studium zu ermöglichen. Das zweite Fach, Journalistik, konnte er jedoch erst nach langen und hitzigen Diskussionen gegenüber seinem Vater durchsetzen.

„Somit war es ursprünglich dein Plan, diese beiden Fächer zu studieren, lange bevor wir aufeinander trafen”, bemerkte Ahmad.

„Ich denke schon.”

„Hast du eigentlich Freunde oder Bekannte?”, fragte Ahmad weiter.

„Nein. Ich habe privat immer sehr zurückgezogen gelebt und mich fast ausschließlich in meine Wissenschaften vertieft. Zu der Zeit, in der ich in der Schulredaktion arbeitete, hatte ich mehr persönliche Kontakte. Aber nach den gerade von mir erwähnten religiösen Querelen mieden mich dann alle.”

„Wer war denn die junge Dame, mit der du bei der Einschreibung gescherzt hattest?”

„Eine Cousine von mir. Sie studiert Medizin.”

„Hattest du denn schon mal etwas mit einer Freundin?”

Mouad wurde verlegen:

„Nein, noch nie.”

Eine Pause folgte. Mouad stocherte nervös in seinem Kuchen herum. Dann schaute er plötzlich Ahmad durchdringend an. Knapp fragte er:

„Und jetzt du. Was machst du so, woher kommst du? Und erzähl mir auch von deinen Eltern.”

„Ich bin ein uneheliches Kind. Meinen Vater kenne ich nicht und meine Mutter hatte mich in ein Kinderheim gesteckt. Ich hatte jedoch das Glück, dass die meisten Erzieherinnen ausgesprochen nett zu mir waren. Als ich 16 war, bekam das Heim eine neue Leitung. Da diese Frau die Entscheidung traf, ich könne ab jetzt selbst für mich sorgen, wurde ich hinausgeworfen und in die Obhut von Pflegeeltern gegeben. Die habe ich mir einen halben Tag angeschaut und dann beschlossen, dass ich mich selber durchschlagen müsste. Durch den Verkauf von Obst und Gemüse von einem Bauern, dessen Adresse mir noch eine Erzieherin zugesteckt hatte, habe ich mich dann, ähnlich wie deine Mutter es mit ihrem Garten managt, über Wasser gehalten. In Abendkursen parallel dazu habe ich mich dann noch auf das Abitur an einem Gymnasium in Tyros vorbereitet und mit Erfolg absolviert. Im übrigen bin ich ein Jahr älter als du.”

„Hast du denn schon einmal eine Freundin gehabt?”

„Nein. Ich bin da genauso unbedarft wie du.”

Mouad sah ihn mit unbewegtem Gesichtsausdruck an. Man konnte meinen, dass er Ahmad einem Verhör unterzog, um zu prüfen, ob die Wahrheit auf den Tisch kam.

Ahmad bestellte sich noch ein Stück Kuchen - Mouad jedoch lehnte ein weiteres Glas Tee ab. Eine Mauer schien langsam zwischen beiden zu wachsen. Er spürte, dass Mouad ihn mit allen Sinnen testete und prüfte.

Ahmad trocken: „Ich gehe davon aus, dass sich durch das Studium meine Kenntnis über dieses Land und diese Weltregion vertiefen und erweitern wird. Dieser Ansatz macht das Fach Journalistik - zumindest für mich - sehr interessant. Das sollte uns auch in die Lage versetzen, die gesellschaftlichen Strömungen und politischen Probleme in der Levante detaillierter kennen zu lernen und auch in gewissen Grenzen vorherzusagen - was auch unserem eigenen Schutz, unserer eigenen Sicherheit dient. Zudem kommt man ja durch so ein Studium ziemlich weit herum - vielleicht auch bis nach Europa oder sogar Israel.”

Mouad: „Was willst du denn da? Weißt du denn nicht, dass Israel für uns verbotenes Terrain ist?”

Ahmad: „Ich lege Wert darauf, mich umfassend zu informieren über all das, was sich im Nahen und Mittleren Osten politisch ereignet. Dies bedeutet, dass ich auch zu den so genannten Todfeinden reisen möchte, egal ob das nun der jüdische Staat ist, der vom Bürgerkrieg zerrissene ,failed state’ Syrien, der Iran oder das Kalifat Baghdadis.”

Mouad - optimistisch: „Jetzt lass uns erstmal in das Studium eintauchen und die ersten Semester hinter uns bringen.”

Ahmad entgegnete erst einmal nichts darauf. Ihm fiel auf, dass die Gespräche an den Nachbartischen in beinahe flüsterndem Tonfall geführt wurden - wieder so eine eigenartige Beobachtung, die ihn stutzig machte.

Zu Mouad gewandt sagte er:

„Ich wäre mir da nicht so sicher, ob uns dies auch gelingt. Denn der Zedernstaat hat schon so viele Krisen und Kriege über sich ergehen lassen müssen, dass ich nur inständig hoffe, dass wir das Studium hier auch tatsächlich zu Ende bringen können. Was mir über Schulen an Intoleranz, Fanatismus und religiös begründetem Hass zu Ohren gekommen ist, lässt nichts Gutes für die Zukunft des Libanons und seiner Bevölkerung erahnen.”

Mouad saß wie versteinert. Leise flüsterte er:

„Das Schlimme daran ist, dass du wahrscheinlich mit deinen Prognosen richtig liegen dürftest. Ich will es mir zwar nicht eingestehen... Aber ich denke, dass wir schon in wenigen Monaten mit einem politischen Desaster konfrontiert werden. Und...”, er unterbrach sich und erbleichte, als er bemerkte, dass die Bedienung zwei Nebentische weiter verdächtig langsam eine Rechnung schrieb und auf Fragen der Gäste, die sie bediente, falsch und unzusammenhängend antwortete. Sie schien in ihre Richtung zu lauschen.

„Entschuldige! Ich bin zu vertrauensvoll und zu redselig. Ich sollte vielleicht in der Öffentlichkeit besser meinen Mund halten. Ich kenne dich ja eigentlich gar nicht.”

Ahmad erwiderte darauf beinahe unhörbar:

„Vorsicht ist weise und gut. Aber in diesem Fall hast du wohl dein Herz sprechen lassen. Nimm das, was du gerade getan hast, als guten Vorsatz für unsere Zukunft. Ich versichere dir: Ich bin weder ein syrischer Spitzel, noch habe ich etwas mit religiösen Fanatikern zu tun. Ich bin auch kein Spion Amerikas oder irgend eines anderen Landes. Ich würde dich niemals an irgend jemanden verraten. Weder jetzt, noch in Zukunft.

Aber du hast recht”, wobei er einen warnenden Blick in Richtung der verschleierten Bedienung aussandte. „Wir sollten an diesem Ort besser nicht weiter über solch heikle Themen sprechen.”

Eine längere Pause folgte. Mouad wusste nicht, ob er Ahmad tatsächlich vertrauen konnte, obwohl er vom Gefühl her mit dem vorsichtigen Verhalten seines Gegenübers einverstanden war. Ihm waren schon viele Berichte von Verrat und Hinterlist - auch unter Studenten und an seiner ehemaligen Schule - zu Ohren gekommen. Denn unter den Flüchtlingsmassen aus dem kriegsversehrten Nachbarland befanden sich unzählige Ultrareligiöse, die ihre orthodoxen Ansichten auch mit Gewalt durchzusetzen pflegten. Er hatte schon so einiges über Salafisten, Mitglieder der Nusra-Bewegung, Al-Qaida- und ISIS-Kämpfer sowie Hisbollah-Aktivisten gehört.

Mouad wurde nervös. Sein Vater hatte ihn ebenfalls immer wieder ermahnt, seine wahren Gefühle niemals in der Öffentlichkeit zu zeigen und gegenüber Fremden äußerste Vorsicht walten zu lassen. Mouad schalt sich innerlich einen Idioten, diese einfachen Vorsichtsmaßnahmen außer Acht gelassen zu haben. Jetzt war auch er sich absolut sicher, dass sie bereits seit geraumer Zeit observiert wurden.

„Zahlen, bitte”, wandte sich Ahmad an einen jungen Kellner, als dieser gerade mit mehreren Tellern, auf denen sich köstlich aussehendes Gebäck stapelte, zwischen den Tischreihen durchbalancierte.

Als sie anschließend wiederum in das Menschengewühl der City eintauchten, schlug Ahmad vor:

„Zeige mir doch Beirut, wenn du magst. Ich kenne diese Stadt fast gar nicht.”

„Okay. Aber ich wundere mich trotzdem über deine Äußerung. So groß ist der Libanon doch nun auch wieder nicht, um von Tripoli aus nicht mal eben in die Hauptstadt zu fahren.”

„Ich hatte in der Vergangenheit wirklich genug andere Probleme, wie ich dir gerade erläutert habe. Zudem hatte ich bis jetzt weder Zeit noch Geld, um mich hier näher umzuschauen.”

Mouad dachte:

,Irgend etwas stimmt hier nicht. Hatte er nicht bei der Einschreibung heute morgen von seinen Eltern erzählt, die ihn dazu gedrängt hatten, das Geld für das Studium in einer sicheren Währung anzulegen?

-

Wer weiß, wer er wirklich ist. Im Nahen Osten vertraut niemand seinem Gegenüber. Ich muss unbedingt versuchen, wieder unauffällig eine größere Distanz zu ihm zu bekommen.’

Laut meinte er:

„Ich zeige dir die schönsten und wichtigsten touristischen Highlights der Stadt: Parlamentsgebäude, Sitz des Premierministers und die vielen Straßenzüge, die frisch nach dem letzten Kampf Israels gegen die Hisbollah und den jahrelangen innerlibanesischen Auseinandersetzungen während des syrischen Bürgerkrieges renoviert oder wiederaufgebaut wurden.”

So schlenderten sie den ganzen Tag durch Beirut. Genossen von der Uferpromenade den Ausblick aufs Meer, betrachteten die spätrömischen Tempelruinen, an deren Fuße Archäologen jüngere Bodenschichten analysierten und schauten in die aufgemotzten Auslagen von Armani, Dior und Gucci.

Ahmad war dabei nicht ganz bei der Sache. Er war immer noch mit der Analyse dieser eigenartigen, von Misstrauen überschatteten Situation beschäftigt.

Mouad erzählte dennoch, so wie in einer Art Kontrastprogramm zu den bombastischen Schaufensterfronten, wie er als kleiner Junge den letzten Krieg erlebt hatte. Er war bei seinem Bericht immer wieder hin- und hergerissen zwischen seinem Misstrauen und einer unerklärlichen Zuneigung gegenüber seinem Freund.

Seine Eltern waren damals in ihr Haus - hoch über Beirut - geflohen und mussten hilflos mit ansehen, wie fast die gesamte Infrastruktur des Landes in voller Absicht von Israel und gleichzeitig von der Hisbollah systematisch zerstört wurde. Denn die Krieger Gottes betrachteten den gesamten Libanon als mobile Abschussbasis für ihre 50 000 Raketen, mit denen sie den jüdischen Staat massiv attackierten. Letzterer holte auch immer wieder zu massivsten Militärschlägen aus, um die Raketenbasen zu vernichten. Dazu kam, dass die libanesische Bevölkerung sich gegen die Benutzung ihrer Häuser, Gärten, Tiefgaragen und Innenhöfe als getarnte Abschussanlagen auflehnte. Aber die Hisbollah reagierte darauf mit gnadenloser Härte. Tausende Zivilisten wurden von den Religionsfaschisten grausam massakriert.

Insbesondere fürchtete die Familie Bribire damals die Nächte, die durch Stromausfälle stockfinster waren und nur sporadisch von dem scharlachroten Lichtschein der Explosionen und Brände erhellt wurden. Sie wussten, dass sie in ständiger Todesgefahr schwebten, da es keinerlei Warnzeichen vor angreifenden Hubschraubern und Flugzeugen gab. Und dann waren da ja noch die Kämpfer Nasrallahs... Die Erinnerung an die nicht enden wollende Todesangst war das Schrecklichste, was Mouad, Elias und seine Eltern jemals zu ertragen hatten.

Der militärische Schlagabtausch endete zwar nach knapp einem Jahr. Aber auch die Zeit danach glich nicht gerade einer Rückkehr zur Normalität. Denn nun gerieten mehr und mehr die Schiiten und die sunnitischen Religionsfaschisten der IS aneinander. Ihr persönliches Leid wurde durch die nachfolgenden, martialischen öffentlichkeitswirksamen Großdemonstrationen der verschiedenen religiösen Gruppen nur noch unerträglicher. Die dabei aggressive zur Schau Stellung ihrer Macht wirkte auf ihre psychische Verfassung abstoßend und furchteinflößend. Und ein Frieden lag in weiter Ferne: Das Auftreten der verschiedenen politischen Fraktionen artete nämlich sehr häufig in massiven Gewaltausbrüchen gegenüber der Zivilbevölkerung mit immer wieder hunderten von Toten aus.

Sie gingen in Richtung Busbahnhof. Ahmad glaubte plötzlich, die auffällige Bedienung aus dem Café auf der anderen Straßenseite erspäht zu haben.

Mouad wollte unbedingt mit dem nächsten Bus nach Alayh zurückfahren. Dicht gedrängte Menschenfluten strömten ihnen entgegen. Ahmad und Mouad ließen sich jedoch von ihrem Ziel nicht abbringen und behielten die von ihnen eingeschlagene Richtung zunächst bei. Sie machten jedoch augenblicklich kehrt, als sie erfuhren, dass die Hisbollah wieder einmal im Zentrum Beiruts zu einer spontanen Demonstration gegen die Regierung aufgerufen hatte.

Mouad schien sich Sorgen zu machen.

„Wie komme ich jetzt nach Hause? Muss ich etwa 15 Kilometer laufen?”

„Du solltest dir ein Taxi bestellen. Busse sind, so denke ich, zumindest in dieser Situation, zu unsicher.”

Mouad nickte, grüßte kurz, wandte sich ab und führte sein Mobiltelefon ans Ohr, während er an dem hochaufragenden Uhrturm am Parlamentsplatz vorbei hastete.

Ahmad schaute ihm lange nachdenklich nach.

,Eigentlich war es doch unverantwortlich, ihn bei diesem Chaos nach Hause zu schicken. Ich hätte ihm doch eigentlich anbieten müssen, zu mir in meine Wohnung mitzukommen, bis sich die Lage entspannt hätte.’

Aber zugleich spürte er, dass dies im Widerspruch zur Obersten Direktive dieser Mission stand - sich nicht mit der ansässigen Bevölkerung in irgend einer Weise einzulassen.

Er setzte sich auf eine Bank, besah sich die vorbeihetzenden, verunsicherten Menschen und schüttelte den Kopf. Ahmad seufzte.

,Das wird für uns beide auf jeden Fall noch eine ziemlich schwierige Kontaktaufnahme. Aber dieser junge Mann hat möglicherweise große charakterliche Tiefe. Es wird’, so dachte er bei sich, ,schwer sein, an ihn heranzukommen.’

Ahmad musste sich eingestehen, dass er Mouad mochte - auch wenn seine Gefühle im Widerspruch zum Verhaltenskodex der Mission standen.

Der Kurator Band 1

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